Der merkwürdige Klang früher Stereo-Aufnahmen - erklärt

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TrueHighFidelity
Stammgast
#1 erstellt: 20. Aug 2022, 20:05
Bei frühen Stereo-Aufnahmen aus den 1960er Jahren kommt es gelegentlich vor, dass man den Gesang komplett auf einem Kanal hat und die Instrumente komplett auf dem anderen (auch Ping-Pong-Stereo oder Beatles-Stereo genannt). Oft wurde (und wird, auch hier im Forum) behauptet, das hätte man absichtlich so gemacht, um den Stereo-Effekt besonders hervorzuheben, damit die neuen Eigentümer von Stereo-Anlagen merken: Das ist jetzt Stereo.

Aber war das wirklich der Fall? Schauen wir uns ein paar Aussagen von Profis aus der Zeit dazu an (die Übersetzungen sind von mir).

Produzent George Martin über die frühen Aufnahmen der Beatles:


Du musst bedenken, dass ich nicht gemischt habe. Ich habe eine Live-Musikgruppe aufgenommen. Die Alternative wäre gewesen, alles in Mono auf eine Spur aufzunehmen. Der einzige Grund, dass ich die Stereo-Maschine in Zweispurform benutzt habe, war, um ein besseres Mono zu erstellen, und um die Entscheidung hinauszuzögern, wie die Stimmen in den Hintergrund eingebettet werden. Ich wollte so schnell wie möglich aufnehmen und mir ein bisschen Zeit bei dieser essentiellen Festlegung lassen. Deshalb habe ich sie getrennt. Nicht, damit die Leute sie getrennt hören. Das kam später als Bumerang auf mich zurück. Aber ich dachte nicht an Stereo, denn 1962/63 existierte Stereo nicht im Pop-Bereich. Es existierte in der klassischen Musik, aber es wurden praktisch keine Pop-Stereo-Platten veröffentlicht. Warum soll ich mich dann um Stereo kümmern, wenn das noch meilenweit weg ist?



Ich wurde besser, zusammen mit der Technik. Mit Beginn der Vierspurtechnik (mit "A Hard Day's Night") habe ich angefangen, in Stereo zu denken. Ich war mir dessen sehr bewusst, dass das Mittensignal um 4 dB angehoben wird, wenn man eine Stereo-Aufnahme in Mono anhört. Ich wollte versuchen, eine Art Kompatibilität zu erzeugen, und ich habe immer sehr viel Wert auf die Balance zwischen Stimmen und Begleitung gelegt. Besonders bei einer Gruppe wie den Beatles machen 4 dB in den Stimmen einen enormen Unterschied. Auf "Rubber Soul" habe ich wieder die Stimmen viel auf eine Seite gepackt (wenn auch nicht alleine, sondern mit anderen Dingen), und es tendierte zu einem Loch in der Mitte. Mit "Revolver" habe ich diese Verirrung überwunden.


(Quelle: George Martin interviewed by Richard Buskin, Central London - March 3rd, 1987)

Ebenfalls George Martin über das erste Album "Please Please Me" der Beatles:


Es war in gewisser Weise wie ein Live-Album, denn alles wurde direkt auf Zweispurband aufgenommen. Wir hatten keine Vierspurtechnik damals. Aber ich habe zwei Spuren benutzt, nicht Stereo, damit ich den Rhythmus von den Stimmen trennen konnte. So konnte ich beides zusammenkomprimieren und einen härteren Sound erzeugen.


(Quelle: George Martin -Talks about working with The Beatles,Wings,Jeff Beck & more -Radio Broadcast 1982)

Produzent Glyn Johns über die frühen Aufnahmen der Rolling Stones:


Alles wurde in Mono aufgenommen. Es gab keine Nachfrage nach Stereo. Eigentlich wurde nur klassische Musik in Stereo aufgenommen. Hifi-Freaks haben Klassik-Platten in Stereo gekauft. Erst viele Jahre später haben die Leute mit Stereo angefangen, und wir mussten dann Stereo-Mixe erstellen. Aber alle Zeit und Mühe ging in die Mono-Aufnahmen.

Weil die Anzahl der Spuren beschränkt war, musste ich Teile zusammenmischen. Bass, Schlagzeug, Rhythmusgitarre und Piano auf eine Spur, Leadgitarre auf eine zweite, und den Gesang... Wenn man das in Mono mischt, ist es kein Problem, aber wenn man diese Materialauswahl hat, um eine Stereo-Mischung zu erstellen - verteilt auf zwei Lautsprecher - dann hat man Pech gehabt. Du hast Bassdrum, Piano und Rhythmusgitarre auf einer Spur, okay, die packst du in die Mitte. Du packst ein Tamburin auf eine Seite, der Gesang muss in die Mitte...

Als die Nachfrage nach Stereo größer wurde, mussten wir die Nutzung der Spuren sorgfältiger planen. Es ging nicht immer zu Gunsten der Stereo-Mischung aus.


(Quelle: Rolling Stones Producer Glyn Johns on Mono Recordings)

Die Aussagen ergeben Sinn. Welcher "kultivierte" (und zwangsläufig wohlhabende) Hifi-Liebhaber hätte bei einer Vorführung seiner neuen Stereo-Anlage "Krach" von den Beatles oder den Rolling Stones aufgelegt und damit seine Bekannten "erschreckt"? Und welcher jugendliche Beatles- oder Stones-Fan hätte sich damals eine Stereo-Anlage anstelle eines Mono-Kofferplattenspielers leisten können, um den Stereo-Effekt überhaupt zu hören? Wer doch die Beatles und die Stones in Stereo hören wollte, wurde nur nebenbei mitbedient, ohne dass man sich von Produzentenseite große Mühe dabei gegeben hätte.

Damit wäre der Mythos vom Ping-Pong-Stereo als beabsichtigtem Effekt wohl zerstört. Später mag man angefangen haben, mit Stereo zu spielen und Instrumente auf der Stereo-Basis "wandern" zu lassen, aber in den frühen 1960er Jahren war das eindeutig noch nicht der Fall.


[Beitrag von TrueHighFidelity am 20. Aug 2022, 20:11 bearbeitet]
Costanza
Stammgast
#2 erstellt: 20. Aug 2022, 20:23

TrueHighFidelity (Beitrag #1) schrieb:
Damit wäre der Mythos vom Ping-Pong-Stereo als beabsichtigtem Effekt wohl zerstört.

Mir stellt sich hier die Frage: hat das überhaupt jemand behauptet? Imho handelt es sich eher um einen "Mythos-Mythos"
TrueHighFidelity
Stammgast
#3 erstellt: 20. Aug 2022, 21:02
Ich bin ziemlich sicher, das hier schon an verschiedenen Stellen gelesen zu haben.

Hier noch eine Erklärung dafür, wie merkwürdig klingende Stereo-Aufnahmen entstehen können, die eigentlich gar nicht als solche gedacht waren (anhand der Arbeitsweise des Produzenten Joe Meek):


Meek hat so gut wie alle seine Aufnahmen in Mono veröffentlicht. Das war zwar kein "Dogma", aber Meek sah sich in erster Linie als Produzent von Singles, und die waren zu seinen Lebzeiten monaural. Sein Aufnahmeverfahren wurde im Kapitel 3 beschrieben. Bei dieser Methode entstehen mehrere Zwischenstufen, bevor eine Aufnahme komplett ist, und hört man sich diese Zwischenstufen auf einer Zweispur-Stereo-Maschine an, dann ergibt sich in der Tat eine Art Stereoeffekt. Dessen Kennzeichen ist immer die "harte" Kanaltrennung: Auf der einen Spur befindet sich üblicherweise das Instrumentalplayback, auf der anderen ein einzelnes hinzugefügtes Instrument oder der Gesang. Ein paar solcher Aufnahmen sind auf einigen Meek-CDs zu hören, überzeugend ist keine einzige. Das ist kein Wunder, denn - wie gesagt - diese Aufnahmen sind Zwischenstufen und waren in dieser Form noch nicht zur Veröffentlichung gedacht.

(Quelle: Joe Meek - ein Portrait)

Auch hier: Kein beabsichtigter Effekt, sondern durch die Arbeitsweise im Studio bedingt.
analognerd
Stammgast
#4 erstellt: 21. Aug 2022, 01:25
Ist das nicht auch irgendwie normal?
Als Musiker(bass) selbst stehe ich vom Zuschauer aus gesehen links, Drums in der Mitte und Gesang ebenso. Gitarre rechts und wenn man alles zusammen aufnimmt, hat man den exakten Höreindruck des Konzertbesuchers.
Gut, bei den Beatles wurde es wohl so gemischt, aus den beschriebenen Gründen.
Mr._Lovegrove
Inventar
#5 erstellt: 21. Aug 2022, 06:32
Interessante Aussagen, die aber durchaus Sinn machen. Wobei Glyn Johns wohl kein Jazzhörer war. Auch im Jazz wurde schon Ende der 1950er in Stereo aufgenommen und veröffentlicht. Miles Davis "Kind of Blue" ist eine astreine Dreikanalaufnahme (die aber parallel auch in Mono mitgeschnitten wurde), Chet Bakers "Chet" ist rudimentäres Stereo. Cannonball Adderleys "Know What I mean" von 1961 wurde sogar in einem astreinen Stereosound mit einer echten spurübergreifenden Raumverteilung aufgenommen.
flexiJazzfan
Inventar
#6 erstellt: 21. Aug 2022, 09:59
Ich behaupte mal, dass bei den ersten Stereoabspielgeräten die Kanaltrennung damals so schlecht war, dass der beschriebene Ping-Pong Effekt nicht lästig war, sondern das Erstaunen über das "Stereo" überwog. Die Unerfahrenheit des Aufnahmepersonals mit den Möglichkeiten und Fallstricken der Stereoabmischung hat sicher auch zu Aufnahmen geführt, die uns mit heutigen Geräten seltsam erscheinen . (Wobei die Unerfahrenheit der Benutzer mit der Aufstellung von Stereoboxen noch viel schlimmer war.)
Ich persönlich habe nichts gegen einen Remix, der eine Monoproduktion etwas auffächert oder extremes Stereo etwas zusammenrückt.

Gruß
Rainer
TrueHighFidelity
Stammgast
#7 erstellt: 21. Aug 2022, 15:46

Mr._Lovegrove (Beitrag #5) schrieb:
Miles Davis "Kind of Blue" ist eine astreine Dreikanalaufnahme (die aber parallel auch in Mono mitgeschnitten wurde),

Du sagst es: Dreikanalaufnahme. Auch dazu gab es mal eine Aussage von George Martin, dass man das in Großbritanien nie benutzt hätte, sondern nur in den USA. Das Beatles-Konzert in der Hollywood Bowl wurde dreispurig mitgeschnitten (aber wegen zu lauter "Störgeräusche" des Publikums damals nicht veröffentlicht). Wie dem auch sei: Wenn man drei Spuren zur Auswahl hat, kann man natürlich eine etwas stimmigere Stereo-Abmischung erstellen als mit nur zwei Spuren, wovon auf einer nur Gesang ist.

Außerdem ist Jazz, im Gegensatz zu Rock, natürlich Hochkultur, und spricht eher finanzstarke Besitzer von Stereo-Anlagen an. Übertrieben gesagt, aber damals war das vermutlich noch so. Heute ist Rock dagegen viel weiter verbreitet und wird sogar von Ministerpräsidentinnen gehört.

Die Toningenieure würde ich nicht unterschätzen. Die Abbey Road Studios waren ja von der Technik her für Stereo eingerichtet und dort wurde auch viel Klassik aufgenommen. Natürlich hätte man die Beatles auch in "echtem" Stereo aufnehmen können, aber 1.) hätte das die Aufnahmen verzögert, da die Abmischungen gleich während der Aufnahmen perfekt hätten sein müssen, und 2.) hätte das Zielpublikum es sowieso nicht zu schätzen gewusst.


[Beitrag von TrueHighFidelity am 21. Aug 2022, 15:46 bearbeitet]
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