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Gielen, Michael+A -A |
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Autor |
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Mellus
Stammgast |
#1 erstellt: 22. Jul 2008, 15:01 | |||||
Vor zwei Tagen feierte der Dirigent und Komponist Michael Gielen seinen 81. Geburtstag. Es wird Zeit, ihn mit einem Eintrag im Forum zu ehren, da wir schon sein 80-jähriges Jubiläum verpasst haben. Vor allem der Dirigent (der wohl auch viel berühmter ist als der Komponist) Michael Gielen liegt mir aus drei Gründen am Herzen. 1. Er hat sich, zumindest in meinen Ohren, als vertrauenswürdiger Interpret erwiesen, was beim CD-Kauf ja nicht unerheblich ist; 2. Er hat sich für Zimmermanns "Soldaten" eingesetzt und sie schließlich uraufgeführt; 3. Er scheut sich nicht davor, sein Publikum aufzurütteln (man dennke an die Montage von Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau" vor den Schlusssatz Beethovens Neunter). Zudem, aber das hat mich bisher nicht besonders beschäftigt, hat er in seiner Frankfurter Zeit maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des Regietheaters und an der Etablierung bis dato unterrepräsentiertem Repertoires (z.B. Janacek). Eine kurze Vita mit weiterführenden Texten gibt es bei Wikipedia. Welche Erfahrungen hat das Forum mit Michael Gielen? Viele Grüße, Mellus |
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alidoro
Ist häufiger hier |
#2 erstellt: 23. Jul 2008, 20:56 | |||||
Bei allem Engagement für Neues und Ungewöhnliches: Der Mann darf auch im Kernrepertoire nicht unterschätzt werden. Seine Aufnahme der Missa Solemnis ist z.B. schwer zu toppen. Voller Energie, mit straffen, aber nie gehetzten Tempi und wunderbar ausbalanciert. Chor und Solisten sind erste Sahne. Ich weiß nicht, ob es die CD noch zu kaufen gibt, aber eine DVD gips zB hier: http://www.amazon.ca...lemnis/dp/B00004Z4SW A dopo, Alidoro |
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Klassikkonsument
Inventar |
#3 erstellt: 24. Jul 2008, 05:06 | |||||
Hallo Mellus,
der verspießerte Kritiker E. Henscheid meinte mal vor einiger Zeit in der Titanic, diese Montage sei ein Spezialfall von Crossover, das wohl vor allem veranstaltet werde, um dem sattsam geläufigen Standard-Repertoire noch mal verkaufsfördernde Effekte zuzuführen. So schlimm finde ich eine solche Montage nicht. Allerdings stört mich schon diese überrumpelnde und dabei moralisierende Vorgehensweise von Gielens Mix. Traut er denn dem Publikum keinen eigenständigen kritischen Gedanken zu? Reicht es nicht, Beethovens 9. und "Ein Überlebender aus Warschau" im selben Programm zu spielen wie das wohl auch schon Herbert Kegel getan hat? Eine solche Montage kann man meiner Meinung nach zwar mal machen, aber ich halte sie nicht für überzeugend und auch nicht für wiederholbar. Viele Grüße [Beitrag von Klassikkonsument am 24. Jul 2008, 05:07 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#4 erstellt: 24. Jul 2008, 07:09 | |||||
Hallo Klassikkonsument, Du hast schon recht, dass die Montage einer Holzhammermethode gleichkommt. Die Neunte ist jedoch ein derart omnipräsentes und damit entleertes Stück, dass insbesondere der Finalsatz nicht nur zur Eurovisionshymne sonder auch zum Gassenhauer (der die Melodie, nach Dieter Hildebrandt, vielleicht auch mal war!) verkommen ist. Ich kann mir schon vorstellen, dass man ihn vor sich hinträllert, wie Volksmusik. Angesichts der jüngeren Geschichte (auch nach 45!) sollte uns vielleicht der Gesang von Freude und Brüderlichkeit im Halse stecken bleiben, so wie in der Montage das Finale im Überlebenden stecken blieb. Die Aussage ist sonnenklar geworden, daher braucht bzw. kann es auch nicht wiederholt werden, darin gebe ich Dir recht. Von der Kegel-Aufführung wusste ich gar nichts, Wann war die denn? Das Publikum ist leider eine sehr heterogene Gruppe in der es bestimmt einen Anteil derer gibt, die sich nicht so viele Gedanken machen. "Hach schön, Beethovens Neunte hören!" -> Holzhammer. Ist denn die Montage-Version überhaupt auf Tonträger erschienen und der Verkaufsmaschinerie zugänglich? Viele Grüße, Mellus |
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Klassikkonsument
Inventar |
#5 erstellt: 24. Jul 2008, 07:46 | |||||
Hallo Mellus,
Das weiß ich leider nicht, habe ich nur vor ein paar Tagen irgendwo im Nebensatz gelesen.
Wobei die "Europa-Hymne" (wie sie jeden Tag kurz vor Mitternacht auf Deutschlandfunk zu hören ist) nur ein bearbeiteter Ausschnitt für Streichorchester ist - furchtbar auch der in dieser Version ausgehaltene Schlusston . So ist der 4. Satz von Beethovens 9. sicher ein Gassenhauer. Was da noch so drin vorkommt (z. B. das Fugato), ist sicher weit weniger bekannt. Und immerhin bietet der von Vielen wahrscheinlich auch nur in Kauf genommene dissonante Tutti-Akkord zu Beginn sicher eine interessante Verbindung zum "Überlebenden ...".
Leider schmückt sich da ein Europa mit Beethoven, das die nationalistischen Konflikte in Jugoslawien anheizte und vor nicht mal 10 Jahren Belgrad bombardierte - mit einem erfundenen Massaker an Albanern als Begründung. Viele Grüße |
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Mellus
Stammgast |
#6 erstellt: 24. Jul 2008, 08:37 | |||||
Hallo Klassikkonsument,
Dazu fällt mir noch etwas anderes ein, nämlich B.A. Zimmermanns Photoptosis. Kennst Du das Stück? Viele Grüße, Mellus PS: Entschuldige, dass ich nur den obigen kleinen Schnipsel aus Deinem Posting herausgreife. Aber ich denke, dass wir uns im Großen und Ganzen einig sind! |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#7 erstellt: 24. Jul 2008, 12:27 | |||||
Ich schätze diesen Dirigenten sehr und besitze die meisten Aufnahmen Gielens mit "klassischem" Repertoire (intercord, EMI, Hänssler): -Haydn: Sinfonien 99 & 104 (+ Mozart 33) Beethoven: Sinfonien & Missa (sowie einige Ouverturen, Große Fuge, Violinkonzert (Tetzlaff)) Brahms: 4. Sinf., Haydn-Var., Doppelkonzert [es gab alle 4 Sinfonien], Schönbergs Fassung des Klavierquartetts Bruckner: Sinf. 5-8 (Es gibt auch 3,4 und 9, aber teils schwer zu finden, außerdem bin ich kein so großer Brucknerianer...) Mahler: Sinf 1-10 (#5 habe selbst ich nicht, aber die ist durchaus erhältlich) Der Beethoven ist auf der (sehr) schnellen Seite, aber abgesehen davon nicht "HIP", sondern traditionelles großes Orchester; vielleicht manchmal etwas nüchtern. (Gefallen mir im Grunde sehr gut, aber die Konkurrenz ist hier schier erdrückend; es fragt sich halt, ob jemand, der diesen Zugang schätzt, nicht doch mit z.B. Scherchen oder Leibowitz noch besser bedient wäre) Diese Klarheit gefällt mir aber gerade bei Bruckner und Mahler sehr gut. Wiederum Mahlers 2. vielleicht etwas zu trocken, die 8. habe ich noch nicht recht gehört, weil mir das Stück nicht so liegt. Hervorragend jedenfalls die 7. u. 9. (die sogar zweimal, einmal Intercord, einmal Hänssler eingespielt wurde), leichte Abstriche bei der 4. wg. der Sängerin, sonst auch sehr gut. Lohnen tun sich diese Einspielungen m.E. alle! und noch etliche Füller der Mahlersinfonien (Berg Orchesterstücke, Schubert-Fragmente, Schönberg, Boulez usw.), dann Janaceks Messe und Taras Bulba, Schönberg Pelleas, eine Schönberg-CD bei wergo Ebenfalls empfehlenswert und bei ArteNova (?) auch noch zu kriegen: Mozart 39/Schubert Rosamunde Zemlinsky: Lyrische Sinfonie (+ Berg) Carter: Konzert f. Orchester/Klavierkonzert Das Einschieben anderer Stücke in die 9. finde ich allerdings ziemlich daneben (u.a. wegen des engen Zusammenhangs des 3. u. 4. Satzes). Ich weiß nicht genau, was an dem Stück davon abhält, den Text zu lesen und ein bißchen nachzudenken. Es ist ja nicht so, daß Greueltaten 1933 erfunden worden wären. Der Unterschied liegt eher darin, daß Völkermord, Sklaverei usw. zu Zeiten Schillers und Beethovens ebenso an der Tagesordnung waren und sich erst allmählich ein breiteres Bewußtsein für deren Abscheulichkeit entwickelte. Zu glauben, Schiller und Beethoven hätten das einfach ignoriert, ist nun wirklich ein bißchen ignorant. Mag sein, daß der Text nicht besonders großartig ist und auf uns heute naiv und eher fremd wirkt. Aber nirgends ist dort davon die Rede, daß alle Menschen tatsächlich Brüder seien. Sondern sie werden es "wo Dein sanfter Flügel weilt" (Bedingungssatz!), wo also "Freude" herrscht. Daß die nicht unbedingt zwischen Sklaven und Sklavenhaltern oder im KZ herrscht, brauchen wir Schiller und Beethoven gewiß nicht zu erklären. Klar kann man sich 200 Jahre später enttäuscht darüber zeigen, daß diese utopische Vision nur sehr unvollständig eingelöst wurde und daß es viele Fälle gab, wo das gewaltsame Umsetzen von Visionen zu Untaten geführt hat. Aber daß der Vision anzukreiden, ist ziemlich einseitig, um nicht zu sagen einfältig. viele Grüße JK jr. |
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Martin2
Inventar |
#8 erstellt: 24. Jul 2008, 18:26 | |||||
Hallo Kreisler Junior, erstaunt mich wieder nur, was Du so alles kennst. Ich kenne den Namen Gielen selbstverständlich, habe aber nichts von ihm auf CD. Die "Einschübe" bei Beethovens 9. finde ich auch eher befremdlich, allerdings erinnere ich mich auch an eine Wagner Aufführung an der Hamburgischen Staatsoper, wo die Aufführung auch unterbrochen wurde zugunsten einer Diskussion um den Wagnerschen "welschen Tand". Na ja. Bei Beethovens 9. finde ich Einschübe nun wirklich überflüssig, weil die Musik in ihrer reinen Humanität für sich selber spricht. Gruß Martin |
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Mellus
Stammgast |
#9 erstellt: 25. Jul 2008, 06:28 | |||||
Eine Vision, die jahrhundertelang nicht eingelöst werden kann, verkommt zur Utopie (oder Illusion). Eine Vision, und sei sie noch so human(istisch), muss also gelegentlich daraufhin abgeklopft werden, ob sie noch visionär ist oder ob sie sich überlebt hat. Eine Vision muss sich an der Realität messen lassen. Viele Grüße, Mellus |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#10 erstellt: 25. Jul 2008, 09:26 | |||||
Das verkennt den Charakter von Utopien oder überhaupt von moralischen Werten und Normen. Das Sein kann nicht festlegen, was sein sollte. Im Gegenteil muß das Bestehende, an dem was sein sollte (was z.B. gerecht wäre) gemessen werden und dann muß darauf hingearbeitet werden, z.B. Freiheit, Gleichheit, Solidarität möglichst umfassend umzusetzen. Alles andere läuft auf eine Art Fatalismus hinaus: Whatever is, is right (Chor aus Händels Jephtha). Das Problem mit Beethoven und Schillers Ode ist doch ein ganz anderes (abgesehen davon, daß sich tatsächlich und deshalb bin ich hier ein bißchen genervt, kaum jemand die Mühe macht, Text und Musik mal richtig anzuschauen): Anscheinend ist diese Vision von Freude und Brüderlichkeit nicht besonders resistent gegenüber der Vereinnahmung zur staatstragenden Festlichkeit. Das sehe ich natürlich auch ein. Ein Folgerung daraus ist vermutlich, im 20. Jhd. nicht mehr so zu komponieren wie Beethoven in der 9. Aber das Stück als solches ist (im Ggs. zu sehr vielen anderen Werken) erstmal frei von den Konnotationen, die sich inzwischen bei uns einstellen und muß nicht durch Montagen erlöst werden. Der Text ist z.B. völlig frei von irgendeiner Art Nationalismus, auch wenn selbst das von Ignoranten immer wieder aufgebracht wird. Die Ode ist auch, jedenfalls in den von Beethoven ausgewählten Strophen, viel weniger politisch als oft behauptet wird (obwohl es natürlich mitschwingt). Es wird ja gar nicht politische Freiheit besungen, sondern, fast pantheistisch, eine universelle Kraft, die sowohl alle Kreaturen vom Wurm zum Cherub als auch die Gestirne betrifft. Wie auch immer, ich kenne ehrlich gesagt den Hintergrund der Dichtung Schillers zu schlecht und habe sicher nicht vor, den Text ausführlich zu interpretieren. Aber man fährt immer besser, wenn man Leuten wie Schiller oder Beethoven nicht unterstellt, naiv oder bescheuert gewesen zu sein, wohingegen wir heute ja soviel schlauer sind. viele Grüße JK jr |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#11 erstellt: 25. Jul 2008, 11:04 | |||||
Hallo Mellus, hallo Kreisler jr., ich glaube nicht, dass Michael Gielen mit seiner Programmdramaturgie Schiller oder Beethoven "Naivität" unterstellen wollte, sondern dass er vielmehr den utopischen Gehalt des Werkes, der innerhalb seiner fast zweihundertjährigen Rezeptionsgeschichte - eine Rezeptionsgeschichte, die man nicht einfach ungeschehen machen kann - durch allerlei Vereinnahmungen abgeschliffen worden ist, gerade wieder ins Bewusstsein rücken und insofern "retten" wollte. Dass Beethoven und Schiller die Ideale und den Terror der französischen Revolution durchaus auseinanderhalten konnten, ist unzweifelhaft. (Im Falle Schillers genügt diesbezüglich ein Blick in die Briefe "Über die ästhetische Erziehung des Menschen".) Das Gegenbild zum abschließenden Freudentaumel hat Beethoven schließlich nicht nur in der dreimal wiederholten Schreckensfanfare am Beginn des vierten Satzes sowie (als überwundenes) in der merkwürdig kriegerischen Marschmusik im Alla-turca-Stil mit Triangel und Becken, sondern vor allem auch im ersten Satz der 9. Sinfonie nachdrücklich auskomponiert. (Übrigens habe ich die rhythmische Widerborstigkeit, Sperrigkeit und Komplexität dieses Satzes niemals musikalisch eindrucksvoller umgesetzt gehört als in einem Konzert, das ausgerechnet Michael Gielen vor einigen Jahren in der Kölner Philharmonie dirigiert hat. Damals hat Gielen das Werk übrigens nicht mit Schönbergs Überlebendem aus Warschau, sondern mit Bernd Alois Zimmermanns Eklesiastischer Aktion "Ich wandte mich um und sah alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" kombiniert - diesmal allerdings verteilt auf die beiden Konzerthälften. Auch dies halte ich für eine im besten Sinne "anstößige" Werkauswahl.) Außerdem spricht Schiller von der "Freude" nur als von einem "Götterfunken", einer Art Abglanz aus dem "Elysium", der insofern nur einen Vor-Schein auf eine bessere Welt darstellt; ein Funke kann ein allgemeines Freudenfeuer entfachen, aber unter ungünstigen Bedingungen auch verglimmen. Und wenn Schillers Text das Sollen gegenüber dem Sein hervorhebt, indem er gewissermaßen das Kantische Postulat der reinen Vernunft reformuliert ("Brüder - überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen") so betont Beethoven nicht ohne Grund das Wort "muß". Der Jubel des Finales ist aus Verzweiflung geboren. Allerdings wird an Beethovens 9. Sinfonie heute anscheinend das Skandalon der uneingelösten Utopie kaum noch gehört - sonst wäre das Werk nicht von allen möglichen Diktaturen vereinnahmt und andererseits zum "Song of Joy" verkürzt worden. Es erklänge dann wohl nicht zur Garnierung feierlich hochgestimmter Anlässe, zu Neujahrskonzerten und ähnlichem, sondern passender eher am Volkstrauertag. Offenbar übertönt also der Jubel des Finales für die meisten Hörer alles Vorweggegangene, so dass die ersten drei Sätze trotz ihres musikalischen Gewichts und ihrer zeitlichen Extension in der allgemeinen Rezeption zu einem langen (und vielleicht sogar langatmigen) Vorspiel zum "Song of Joy" degradiert sind. Statt ein Sollen zu artikulieren, dient die Musik nur noch dazu, ein unvollkommenes Sein zu dekorieren. (Insofern ist Beethoven vielleicht nicht ganz unschuldig an der verkürzten Hörweise seiner überaus komplexen und gedankenreichen Musik. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang an Adornos Einwand gegen den Tonfall der Beethovenschen Sinfonik: "Humanität trumpft nicht auf.") Vielleicht sind uns Beethovens Musik und Schillers Text allzu vertraut, um all die Zwischentöne und Spannungen zu hören, die in der 9. Sinfonie ausgetragen werden. Und gerade daher finde ich Gielens (in dieser Form sicherlich unwiederholbares) Programm-Experiment sinnvoll und bedenkenswert - es ist ein Versuch, eingeschliffene Rezeptionsmuster zu durchbrechen. Dass Beethovens Musik dabei Schaden leiden könnte, glaube ich nicht. Schließlich hören wir sie nicht zum ersten Mal. Und ein Werk, dass einen solchen menschheitsumspannenden Anspruch mit sich trägt, muss dergleichen aushalten können. Übrigens hat auch die Schillersche Humanität Grenzen: Zwar folgen nicht nur "alle Guten", sondern auch "alle Bösen" der "Rosenspur" der "Freude"; doch werden andererseits all jene, die niemals "auch nur eine Seele Sein" nennen konnten, aufgefordert, sich "weinend" aus dem "Bund" der brüderlich Vereinten zu "stehlen". (Nebenbei bemerkt hatte Beethoven ursprünglich für die Vertonung dieser Strophe die türkische Janitscharen-Musik vorgesehen.) Davon abgesehen vertont das Finale nicht nur Schillers Ode, sondern auch die Texte, die Beethoven den einleitenden Rezitativen unterlegt, um den problematischen Übergang - vielleicht sogar den Abgrund - von der Musik der ersten drei Sätze zur Freuden-Hymne zu überbrücken. Und wenn Beethoven hier im Volkserzieher-Tonfall nach den musikalischen Reminiszenzen an die vergangenen Sätze deren Musik verwirft, indem er fordert: "O Freunde, nicht diese Töne! sondern laßt und angenehmere anstimmen und freudenvollere!", dann klingt das doch vielleicht ein bißchen so, als genügte zur Veränderung der Welt der einfache Entschluss eines Bonner Musikers... Auch Schönbergs Überlebender aus Warschau konfrontiert übrigens Schrecken und Utopie, indem der Komponist die zum Tod in der Gaskammer Verurteilten das "Shema Yisroel" als bedingungsloses Bekenntnis zu Gott anstimmen und damit postulieren lässt, dass die entsetzliche Realität letztlich keine Macht über sie gewinne. Nicht zufällig lässt Schönberg den alttestamentlichen Text bei den Worten abbrechen: "...wenn du dich niederlegtst oder aufstehst" - Worte, die in diesem grauenhaften Zusammenhang wohl auch als verzweifelte Hoffnung auf eine Wiederauferstehung der Toten gehört werden können (und beispielsweise von Gerd Zacher so gehört worden sind). Der Unterschied zu Beethoven beruht allerdings darin, dass Schönbergs Musik auch in diesen Schlusstakten den realen Schrecken keine Sekunde vergisst. Indem Gielen - freilich ebenfalls mit einem gewissen volkserzieherischem Gestus - Schönbergs Überlebenden der Beethovenschen Sinfonie injiziierte, gelang ihm vielleicht, bei den damaligen Konzertbesuchern vor dem Finale einen Moment des Eingedenkens zu schaffen, der sie auch den D-Dur-Freudentaumel anders hören ließ. Herzliche Grüße Aladdin [Beitrag von AladdinWunderlampe am 26. Jul 2008, 01:29 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#12 erstellt: 25. Jul 2008, 12:03 | |||||
Das klingt recht ähnlich, oder? (Wobei der Beitrag des Erstzitierten tatsächlicher fatalistischer klingt...)
Niemand wirft doch Beethovens Neunter vor, "bescheuert" oder nationalistisch oder auf sonst irgendeine Weise degeneriert oder vereinnahmt zu sein. Und die Montage als eine Korrektur oder eine an die Realität angepasste Verbesserung der Sinfonie zu verstehen, geht an der Sache vorbei (und kostet höchstens Nerven). Die Montage zielt, so verstehe ich sie, auf eben die Rezeptions- und Aufführungshaltung ab, die bei den meisten Klassikkonsumenten (nicht zu verwechseln mit unserem Klassikkonsument) eine fragwürdige, ausschließliche "ästhetische" (absichtlich in Anführungszeichen, aber das ist ein anderes Thema...) ist, nämlich die, die ich oben etwas flapsig mit "Hach schön, Beethovens Neunte" beschrieben habe. Nur zum Wohlgefallen wurde die Neunte bestimmt nicht komponiert. Aber sie wird so rezipiert. Diese reflexhafte Mitschunkelei zur Finalmelodie zu unterbinden, das ist der Sinn einer Montage wie derjenigen von Gielen. Ein mal wieder in Erinnerung rufen, dass die Vision, die dort beschworen wird, noch nicht erfüllt ist und die Erfüllung auch nicht einfach so zu haben ist. Das ist doch eine sehr moralische, humanistische Botschaft die mit der Montage verbunden ist. Ein Fatalist hätte nach dem Überlebenden das Finale komplett ausfallen lassen. |
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Klassikkonsument
Inventar |
#13 erstellt: 25. Jul 2008, 12:19 | |||||
Hallo Mellus,
Ja, mit den Radiosymphonkern aus Saarbrücken unter der Leitung von Hans Zender. Die an den Tutti-Akkord anschließenden Melodielinien sind bei Zimmermann dann schon wieder etwas verfremdet. Ein farbiges Stück insgesamt. Viele Grüße |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#14 erstellt: 25. Jul 2008, 12:41 | |||||
Nein. Es ist diametral entgegengesetzt. |
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Klassikkonsument
Inventar |
#15 erstellt: 25. Jul 2008, 12:57 | |||||
Hallo zusammen, wenn man angesichts des 'Freude'-Finales Beethoven Naivität unterstellen kann, dann vielleicht im Sinne ein Überschätzung dessen, was Kunst politisch oder zumindest moralisch verändern kann. Denn sicher: die Ode an die Freude enthält nichts Nationalistisches, sie steht sogar im Gegensatz zu Nationalismus. Trotzdem liessen die Nazis diese Symphonie gerne spielen. Viele Grüße [Beitrag von Klassikkonsument am 25. Jul 2008, 13:10 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#16 erstellt: 25. Jul 2008, 14:14 | |||||
Bevor ich mich befrage, wie fatalistisch ich eigentlich bin, sei noch auf die Kommentare, die nach diesem Beitrag im "Beethovens Neunte"-Thread aufkamen, hingewiesen. Gielens Montage wurde zwar nicht angesprochen, aber für einige auch hier vorgebrachte Wahrnehmungen der Neunten gibt es Beispiele. Viele Grüße, Mellus |
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Klassikkonsument
Inventar |
#17 erstellt: 25. Jul 2008, 14:28 | |||||
Von Alban Berg genauer 3 Stücke aus Lyrischen Suite für Streichquartett bearbeitet für Streichorchester & die Orchesterlieder nach Ansichtskarten-Texten von Peter Altenberg (bei der Uraufführung gab's 'nen Skandal, der betreffende Abend wird auch "Watschenkonzert" genannt ). Einziger Wermutstropfen bei dieser empfehlenswerten Aufnahme: Die Texte (v. a. der Zemlinskyschen Vokal-Symphonie) fehlen. Viele Grüße |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#18 erstellt: 25. Jul 2008, 16:12 | |||||
Stimmt, das ist halt der "Preis" einer solchen Billigreihe. Text findet man hier (insgesamt eine extrem empfehlenswerte Seite): http://www.recmusic....html?SongCycleId=225 Mit Gielen/SWF sind noch zwei oder so weitere CDs bei ArteNova erscheinen (Schostakowitsch und Ravel), aber die kenne ich nicht. Die EMI-Aufnahmen scheinen fast alle vergriffen. (Für Beethovens Sinfonien greift man wohl am besten zu den DVDs, wobei ich die nicht kenne) Von den Intercord-Aufnahmen hat Hänssler ein paar wieder herausgebracht. Mahlers Sinfonien sind dort fast alle leicht zu kriegen, von Bruckner leider nur zwei oder drei. Die Missa gibt es auf mehreren Billiglabels. JK jr. |
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Joachim49
Inventar |
#19 erstellt: 09. Aug 2008, 21:09 | |||||
Ich habe - leider - wenig Gielen. Von seinem Beethoven (ich habe nur 2&8) war ich sehr enttäuscht und er hat meine Erwartungen nicht erfüllt. (Erwartet habe ich etwas in der Richtung Leibowitz oder Scherchen bei bester Tonqualität.) Aber wirklich ergriffen haben mich die Bruckneraufnahmen die ich kenne (7 &8) und die Mahler-Cook'sche 10. Joachim [Beitrag von Joachim49 am 09. Aug 2008, 21:10 bearbeitet] |
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Joachim49
Inventar |
#20 erstellt: 09. Aug 2008, 21:11 | |||||
Wo die blöden emoticons stehen muss eigentlich eine 'Acht' stehen, aber aus unerfindliche Gründen will das nicht so. Joachim |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#21 erstellt: 10. Aug 2008, 18:29 | |||||
Also beste Tonqualität besteht doch. Die Interpretationen sind etwas nüchtern verglichen mit den anderen genannten, aber doch in derselben Richtung und m.E. sehr hörenswert (und vielen anderen der letzten 20 oder 30 Jahre vorzuziehen). viele Grüße JK jr. |
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s.bummer
Hat sich gelöscht |
#22 erstellt: 11. Aug 2008, 21:05 | |||||
Hallo, ich schätze Gielen als angenehm sachlichen Dirigenten. Ich habe ihn mit Mahler Werken in Kiel mehrfach erleben können, ein kleines Männlein geht zum Pult und arbeitet mit ruhigen klaren Anweisungen. Der CD Eindruck ist leider deutlich didaktischer! Man hört quasi den gehobenen Zeigefinger (denkt mal, was ich denke) mit. Das ruiniert manches. Aber das Meiste kann es aushalten. Leider nicht für mich die von Vielen hochgelobte 7. Mahlers. Die geht so nun garnicht. Da muss ich was Wildes hören. Abbado oder gar Scherchen. Gruß S- |
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Klassikkonsument
Inventar |
#23 erstellt: 11. Aug 2008, 23:45 | |||||
Hallo Joachim,
mittlerweile habe ich keine Verständnis-Problem mehr, wenn in einem Text unvermittelt so ein Cool-Smilie auftaucht. Das muss man sich dann halt als "8 Klammer zu" übersetzen. Es gibt zwei Wege beim Schreiben diese unverhoffte Grafik zu vermeiden: entweder man deaktiviert die Smilies generell (einfach das Häkchen von der Option "Smilies aktivieren?" entfernen, die man gleich unter dem Schrift-Eintragungsfeld findet) oder man setzt zwischen der 8 und der schließenden Klammer ein Leerzeichen, wenn man sich den Ausdrucksdimensionen der drolligen Bildchen nicht gänzlich entschlagen will. Ich hoffe, das kam jetzt nicht zu oberlehrermäßig rüber. Viele Grüße [Beitrag von Klassikkonsument am 11. Aug 2008, 23:46 bearbeitet] |
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kvs
Ist häufiger hier |
#24 erstellt: 15. Aug 2008, 16:25 | |||||
Aus den Ferien zurück ein interessanter Zufallsfund! Gielen kann man als Kenner und Charakter nicht besser loben ohne ihn zum großen Interpreten zu machen. Es lohnt immer zu ihm zu gehen, aber ganz Großes kommt selten heraus. Hier in Berlin hat er mit zweien der hiesigen Ost-Orchester und dazu mit dem alten Badener Rosbaudorchester verschiedene Mahlersinfonien gemacht. Das ging nicht ohne Patzer so je nach Orchesterqualität. Dann hat er mal der Unvollendeten allen Glanz ausgetrieben. Man kann ihn übrigens 1950 in der Ruine der Furtwänglerschen Matthäuspassion im Teatro Colón als Siebzehnjährigen im Part des Rezitativs Klavierspielen heraushören. Man kann ihn also nur biographisch verstehen. Als großes Verdienst danke ich ihm, mich hier im Schauspielhaus mit dem "Konzerthausorchester" am vorletzten Silvester mit der Erstfassung von Bruckners Achter höchst passabel bekanntgemacht zu haben. "Es ist das Stück, das man kennt, aber mit lauter anderen Stellen." Dabei spricht manches für die Architektur dieser ersten Fassung. Parallele zwischen Schluß des Kopfsatzes und Final-Coda. Mehr Orgelspiel als dramatische Sinfonie. Aber doch neigt sich die Wage zugunsten der originalen Zweitfassung. Also immerhin war es zu erleben, daß die Sinfonie "zustandekommt", wenn sie ruhig ausbuchstabiert wird. Ebenso für die Zweitfassung mit G.Wand. Da ist dann das Buchstabieren durchaus ein sinnvolles "Lesen", und das Stück teilt sich als ein aufgebautes Ganzes doch mit. Bei Mahler reicht das kaum. Da hatten wir hier den Marathon aller 1o Sinfonien plus "Lied" mit Barenboim und Boulez vor der Staatskapelle in 14 Tagen. So etwas kann man wirklich nicht machen. Glanzbeispiel dagegen bei den Philharmonikern in ganz kurzem Abstand: Mahlers Siebte einmal unter Abbado, einmal mit Rattle. Gleichwertig, verschieden und gleichermaßen gelungen, vor allem in den teuflischen Ecksätzen. Keine Massenware, sondern Stücke, die zu ihrer Geltung kommen. "Wild" allerdings habe ich beide Aufführungen nicht empfunden, sondern engagiert, eindringend und ausbalanciert. Das ist dann eine andere Etage als die ganz respektable des Gielenschen Handwerks mit guter Gesinnung. Aber Hochachtung verdient er gewiß. Beste Empfehlung, KVS [Beitrag von kvs am 15. Aug 2008, 16:35 bearbeitet] |
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Moritz_H.
Stammgast |
#25 erstellt: 15. Aug 2008, 17:32 | |||||
Empfehlen würde ich, in die 3., 6. oder 9. Sinfonie (die recht zügig gespielt werden) einmal hineinzuhören - jedenfalls gehören diese Aufnahmen zu meinen gern gehörten Beethoven-Sinfonien … |
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Joachim49
Inventar |
#26 erstellt: 15. Aug 2008, 21:00 | |||||
Ganz und gar nicht, - danke schön. Ich dachte schon an meinem PC sei etwas futsch. Joachim |
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Mellus
Stammgast |
#27 erstellt: 27. Feb 2010, 23:14 | |||||
Michael Gielen wird am 05. Mai den Ernst von Siemens-Preis in Empfang nehmen dürfen. Damit wird seine Leistung für die Musik gewürdigt. Seine Beiträge zur Klassik von Mozart (in Gielens Frankfurter Zeit) über Beethoven, Bruckner, Mahler bis Schönberg zählen zu wichtigsten des letzten Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Als Dirigent des SWR-Sinfonieorchesters leitete er zahlreiche Uraufführungen in Donaueschingen und hat so maßgeblich auch zur Neuen Musik beigetragen. Verdienste um letztere sind ja Siemens-Preis-Kriterium. Und verdient hat er den Preis. Glückwunsch! Die Homepage hält ein Essay von Rainer Peters bereit, in dem Leben und Werk von Michael Gielen vorgestellt werden. |
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op111
Moderator |
#28 erstellt: 25. Okt 2013, 07:25 | |||||
Leider sind schon 2 Teile gesendet worden: Deutschlandradio Kultur 20:03 Uhr mittwochs Begegnungen mit musikalischen Zeitzeugen - der Dirigent Michael Gielen (8 Teile) am 30.10. Teil 3/8
ca. 85min DRadio Kultur Gielen [Beitrag von op111 am 25. Okt 2013, 16:16 bearbeitet] |
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