Mahler, Gustav: 10. Sinfonie - Fassungen der rekonstruierten Sinfonie

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musiccreator
Ist häufiger hier
#1 erstellt: 31. Okt 2009, 14:25
Hallo,

wenn mich nicht alles täuscht gibt es für die umstrittenen Rekonstruktionen von Mahlers 10. Sinfonie noch keinen eigenen Thread.

Viele lehnen diese Sinfonie mit der Begründung ab, dass dies kein richtiger Mahler sei.
Dem lässt sich auch nichts entgegensetzen, da es sich bei dem Particell lediglich um eine Skizze handelt, die Mahler in der Ausarbeitung wohl noch stark verändert und erweitert hätte.

Dennoch: Lässt man einmal außer Acht, dass diese Sinfonie keine authentische Mahler-Sinfonie sein kann, so ist doch die Musik an sich sehr hörenswert und eignet sich auch hervorragend dazu, um einen kleinen Einblick in ein "was hätte sein können" zu erlangen, ist sie doch -bei allem Fragmentarischen- vom Geiste Mahlers durchdrungen.

Deswegen würde mich interessieren, was ihr von den verschiedenen Versionen haltet.

Ich selbst kenne die Fassungen von:

Cooke
Wheeler/Olson
Mazzetti jr.
Carpenter

und würde der Mazzetti-Fassung den Vorzug geben. Musikwissenschaftlich gesehen hält sie sich nicht genau an Mahlers Particell, dennoch scheint mir die Musik als solches in dieser Fassung aussagekräftiger zu sein, als in Cookes Version, der im Bestreben, sich so eng an das Particell zu halten wie möglich, sich musikalisch auch etwas eingeengt hat.

Carpenters Fassung gefällt mir von allen am Wenigsten, da er sich zu große Freiheiten herausgenommen hat. Trotz Reminiszenzen an frühere Sinfonien Mahlers, klingt seine Version konstruiert. Allerdings gibt es einen kleinen Vorteil gegenüber den anderen Fassungen. Die von Mahler vorgeschriebenen Schläge auf die gedämpfte große Trommel klingen bei ihm wirklich gedämpft. In allen anderen Versionen nimmt man die ff-Anweisung im Particell zu wörtlich, so dass laute dröhnende Schläge zu hören sind, die mir beinahe schon lächerlich erscheinen.
Mahler selbst bezieht sich damit wohl auf ein Ereignis, bei dem er die große Trommel vom fünften Stock seines Hotels, aus dem Central Park gehört hat. Das dürfte auch nur ein dumpfer Schlag gewesen sein; und eben dieser dumpfe Schlag ist nur in der Capenter-Fassung zu hören.

Auch gefällt mir in Carpenters Version besser, dass er im letzten Satz gegen Ende länger im Tutti bleibt und die Musik nicht so schnell kammermusikalisch reduziert, wie es in den anderen Versionen der Fall ist.
Offensichtlich war dieser Satz als Liebeserklärung an Mahlers Frau gemeint, und da erscheint mir dieses Tutti mehr Leidenschaft und Intensität zu transportieren - und kammermusikalisch-zärtlich wird die Musik kurz darauf ja sowieso!

Grüße,
Musiccreator
Martin2
Inventar
#2 erstellt: 01. Nov 2009, 10:47
Hallo Muciccreator,

wenn Du hier wirklich jemanden treffen willst, der wirklich alle diese Fassungen kennt, wirst Du möglicherweise kein Glück haben. Ich kann nicht vergleichen, ich kenne nur die Fassung von Cooke in der älteren Aufnahme mit Rattle und dem Birminghamsinfonieorchester. Diese gefällt mir sehr gut. Und wenn Cooke sich so eng wie möglich an Mahlers Particell gehalten hat, wie Du sagst, scheint mir dies ganz unbedingt für diese Version zu sprechen. Was heißt hier "eingeengt"? Was ich keinesfalls leiden könnte, wäre, wenn jemand etwas dazu erfindet.


Viele lehnen diese Sinfonie mit der Begründung ab, dass dies kein richtiger Mahler sei.
Dem lässt sich auch nichts entgegensetzen, da es sich bei dem Particell lediglich um eine Skizze handelt, die Mahler in der Ausarbeitung wohl noch stark verändert und erweitert hätte.


Man sollte doch seinen eigenen Ohren trauen! Beethovens 10. ist auch "rekonstriert" worden - mich überzeugt das wenig. Elgars 3. ist rekonstruiert worden - es gibt geniale Teile, aber das ganze ist letzlich doch kein Elgar, obwohl ichs trotzdem gerne höre. Das Finale von Bruckners 9. überzeugt mich auch nicht. Mahlers 10. ist für mich definitiv ein anderer Fall. Ich höre sie sehr gerne, zumal zwei Sätze wohl auch in Partitur vorliegen. Die musikalischen Verläufe in Mahlers 10. in der Fassung von Cooke erscheinen mir plausibel, allerdings halte ich es für möglich, daß Mahler bei einer Überarbeitung die Partitur möglicherweise noch angereichert hätte.

Inwieweit ist Mahlers 10. eine Skizze? Meines Wissens liegen die musikalischen Verläufe weitestgehend vor, was fehlt ist Instrumentation, vermutlich auch Nebenstimmen. Deshalb klingt Cooke möglicherweise teilweise etwas kahl, aber das ist besser als etwas dazu zu erfinden. Elgars 3. ist wirklich ein anderer Fall, es gibt eine Menge Skizzen und Ideen, aber das eigentliche Werk muß sich der Bearbeiter aus den Fingern saugen und ich glaube Mahlers 10. ist hier wirklich ein anderer Fall.

Wer sich Mahlers 10. aber nicht anhören will, soll es meinetwegen lassen. Ich finde es aber gut, daß das Werk eingespielt worden ist. Zumal ich kein Musikwissenschaftler bin und ich Adornos Auffassung, das Werk der Öffentlichkeit praktisch pietätvoller Weise vorenthalten zu wollen, eher für arrogant halte. Als Laie hat man nur die Chance, solche Werke in einer Bearbeitung zu hören und bei so großen Komponisten wie Beethoven, Bruckner, Mahler, Elgar oder dem Violinkonzert von Janacek sollte man das auch tun, wobei es die Aufgabe eines guten Begleitheftes ist, darzustellen, wo die Skizze ist und wo die Bearbeitung anfängt.

Gruß Martin
musiccreator
Ist häufiger hier
#3 erstellt: 01. Nov 2009, 22:40
Hallo Martin,

Danke für die Antwort.
In diversen Musikbibliotheken kann man sich die komplette Cooke-Fassung als Partitur ausleihen, was den Vorteil hat, dass über der Partitur auch Mahlers Particell abgedruckt ist, so dass man gut vergleichen kann.

Ich stimme nicht zu, dass lediglich die Instrumentation oder Nebenstimmen fehlen. Zwar ist das Material so umfanfangreich, dass eine Rekonstruktion durchaus gerechtfertigt ist, dennoch handelt es sich meiner Meinung nach nicht um eine so ausgereifte Ausarbeitung, dass nur noch die Instrumentation oder Nebenstimmen fehlen (wie dies zum Beispiel in der Filmmusik oft der Fall ist, bei welcher die Komponisten ihre Fassung von Instrumentatoren oder Arrangeuren ausarbeiten lassen).

Um einen Einblick zu bekommen inwieweit das vorhandene Material dem rekonstruierten Endergebnis entspricht, wäre es wohl hilfreich einmal bei den zuvor entstandenen Werken Mahlers Particells mit dessen Endfassungen zu vergleichen. So könnte man feststellen, inwieweit Mahler noch musikalische Änderungen vorgenommen hat und Rückschlüsse auf seine 10. Sinfonie ziehen.
Allerdings weiß ich nicht, ob die Particells seiner früheren Sinfonien noch vorhanden oder einsehbar sind.

Das genaue Halten an das Particell muss meiner Meinung nach nicht unbedingt bedeuten, dass diese Fassung den anderen vorzuziehen ist. Ich lehne ein Hinzuerfinden von musikalischem Material (wie es z.B. bei Carpenter der Fall ist) ebenfalls ab, dennoch ziehe ich Mazzettis Version vor, da sie insgesamt fülliger, ausgereifter und weniger spärlich klingt, als Cookes. Ohne zu viel zu machen, gelingt es Mazzetti durch eine etwas fülligere Textur der Musik noch mehr Leben einzuhauchen.
Außerdem: Einer noch so guten Rekonstruktion wird immer noch das Fragmentarische anhaften.

Letztendlich ist es nicht die Frage inwieweit es sich dabei um Mahler handelt, sondern die Musik an sich, die mich überzeugt: Im Particell hat Mahler verzweifelte Ausrufe hineingeschrieben ("Leb wol...", "Für dich leben, für dich sterben", "Almschi!"), ein Abschiednehmen an seine Frau, und wenn ich die dazugehörige Musik in der Rekonstruktion höre, wird diese Verzweiflung und dieses Liebesbekenntnis in ergreifender Weise nachvollziehbar; und es ist einfach eine verdammt gute Musik!

Musiccreator
teleton
Inventar
#4 erstellt: 02. Nov 2009, 11:34
Hallo Muciccreator,

die Deryck Cooke-Fassung scheint sich bei den meisten Dirigenten durchgesetzt zu haben.
Ich kenne nur Aufnahmen der 10 in dieser Cooke-Fassung:

*** Meine erste war Ormandy auf LP (CBS). Eine gute Aufnahme, die mich jahrelang begleitete.
Da ich aber kaum LP mehr höre, habe ich diese bei der letzten LP-Verkaufsaktion (mit der Sammlung von meinem Stiefvater (die Garage stand in einer Reihe von vorne bis hinten voll)) verkauft.

*** Die zweite Aufnahme auf CD ist die Rattle-Aufnahme (EMI, 1980, DDD), die Martin auch hat. Ebenfalls eine TOP-Aufnahme und mal eine Rattle-CD, die man haben wirklich empfehlen kann.

*** Die dritte Aufnahme ist in der Mahler-Chailly-Box (Decca, 1986, DDD) enthalten. Diese Aufnahme ist einer der Gründe, warum ich die Chailly-Box auch behalte, da ich mir immer noch unsicher bin ob nun Rattle oder Chailly nei der 10 vorzuziehen ist.
Die (anderen) Mahler-Sinfonien schätze ich ansonsten in den Aufnahmen mit Solti und Bernstein weit höher als die Chailly-Aufnahmen, bei denen mir die wirkliche Emotion fehlt; klanglich sind sie natürlich herausragend.
op111
Moderator
#5 erstellt: 02. Nov 2009, 14:46
Hallo zusammen,
An Threads zur 10. mangelt es anscheinend nicht:
http://www.hifi-forum.de/index.php?action=browseT&back=14&sort=title&forum_id=195&thread=141]Mahlers 10. in der Version von Rudolf Barshai

Mahlers 10. Sinfonie

Augenscheinlich fiel der Barschai-Thread in eine unglückliche Phase und dessen Fassung fiel "durch".
Mittlerweile habe ich Barschais Fassung und Chaillys neuere BBC-Liveübertragung (nach Cooke et. al.) gehört und schätzen gelernt.
teleton
Inventar
#6 erstellt: 12. Nov 2009, 13:32

*** Die dritte Aufnahme ist in der Mahler-Chailly-Box (Decca, 1988, DDD) enthalten. Diese Aufnahme ist einer der Gründe, warum ich die Chailly-Box auch behalte, da ich mir immer noch unsicher bin ob nun Rattle oder Chailly bei der 10 vorzuziehen ist.


Diese Unsicherheit habe ich in den letzten Tagen beseitigt, indem ich mir die Chailly-Box wiedereinmal vorgeknöpft habe.

**** Die Sinfonie Nr.10 ist als einzige Aufnahme in der Decca-GA mit dem hervorragenden RSO Berlin aufgenommen.
Ich finde eine mustergültige Interpretetion, die der guten Rattle - Aufnahme (EMI) sogar vorzuziehen ist. Hier erweißt sich Chailly als wirklich großer, spannender und schlüssiger Mahler-Dirigent.
Ein Punkt den ich leider nicht bei seinen übrigen Mahler-Sinfonien-Einspielungen feststellen kann, weil mir bei Chailly die bernsteinsche Emotionalität und die Durchsetzungskraft von Solti fehlt.

Die Klangqualität der Decca-Aufnahmen mit Chailly ist vorbildlich, sadass ich hier ohne rot zu werden von audiophiler Klangtechnik schreiben kann.

Wie sind Eure Eindrücke ?
bluezzbastardzz
Ist häufiger hier
#7 erstellt: 06. Feb 2010, 12:15
Auf Last.fm kann man sich ein paar Einspielungen anhören, z.B. mein damaliger "Boxentester" Eliahu Inbal mit dem RSO Frankfurt (leider nur als Radiostream, nicht "on demand"), Simon Rattle sowohl mit den Berliner Philharmonikern als auch mit dem Bournemouth Symphony Orchestra oder auch Daniel Harding mit den Wiener Philharmonikern (ebenfalls nur als Stream bzw. mit 30-Sekunden-Ausschnitten):

http://www.lastfm.de/search?q=mahler+10&type=album


[Beitrag von bluezzbastardzz am 06. Feb 2010, 13:35 bearbeitet]
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