nationale Musik?

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 18. Mrz 2005, 15:03
Was haltet ihr von der Idee nationaler Musik? Ist dies eine Erfindung der 19. Jahrhunderts? Ist die Nationalität eines Komponisten überhaupt entscheidend oder ist es nicht gerade die Eigenart der Musik, international und "ohne Übersetzung" für jeden verständlich zu sein?

Wenn man in alten Konzertführern und dergleichen blättert, hat man allerdings schon den Eindruck, daß nationale Einschätzungen und Präferenzen von höchster Wichtigkeit war. Und oft genug trifft man auch auf einen gewissen Chauvinismus. Da wird vom urwüchsigen "Slaventum" Schostakowitschs gefaselt, oder vom "völkischen Elgar" ( während die Engländer ihn ganz im Gegenteil als Fortführer der deutschen Tradition sahen). Und vieles andere mehr.

Ohne Zweifel gibt es gewisse nationale Musikkulturen, die gewisse musikalische Entwicklungen nicht in dem Maße mitgegangen und einen eigenen Weg gegangen sind. Aber ist Vaughan Williams zum Beispiel deshalb "typisch englisch", Verdi "typisch italienisch" oder ist so etwas heute noch zu sagen, antiquiert und anrüchig?

Meinungen?
vanrolf
Inventar
#2 erstellt: 18. Mrz 2005, 16:14
Hallo Martin, hallo Forum,

Musik ist doch eines der zeitlosen Kunst- und Kulturvehikel, solange es Ohren gibt, wird es also wahrscheinlich auch in irgendeiner Form Musik geben. Neben ihren religiösen Ursprüngen hat Kunst bzw. Kultur aber immer auch identitätsstiftend gewirkt. Von daher bringt es meiner Ansicht nach nichts, nationale Eigenheiten (ich würde eher sagen: Eigenständigkeiten) als antiquiert oder anrüchig anzusehen, sie sind vielmehr eine Tatsache, die ich als sehr reizvoll empfinde und als eine mögliche Basis für künstlerische Individualität sehe.

Ich könnte mir die Musik eines Verdi ebensowenig ohne ihre italienische Herkunft vorstellen wie die eines Schostakowitsch ohne ihre russische, warum sollte ich auch? Wobei bei einem wie Schostakowitsch noch die spezifischen, politischen Faktoren in seiner Heimat dazugenommen werden müssen. Wenn man im Werk Schostakowitschs eine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus sieht, dann ist seine Musik sogar in besonderem Maße national, gleichzeitig aber auch international, denn Verhältnisse ähnlich denen der Sowjetzeit finden sich ja auch anderswo, und letztendlich lautet eine Botschaft seines Werkes an die Welt ja "Seht her, so ist es uns ergangen und so bin ich damit umgegangen."


Wenn man in alten Konzertführern und dergleichen blättert, hat man allerdings schon den Eindruck, daß nationale Einschätzungen und Präferenzen von höchster Wichtigkeit war. Und oft genug trifft man auch auf einen gewissen Chauvinismus.


Nennen wir es ruhig beim Namen: Nationalismus. Bekanntlich ein gesamteuropäisches Phänomen des 19. Jahrhunderts, als aus nationalen Bestrebungen das nationalistische Denken mit seinen (auch künstlerischen) Folgen (bis heute) wurde. Ich denke, über die Bewertung solcher Entgleisungen sollten wir uns einig sein. Komponisten, die ihre Arbeit freiwillig in den Dienst solcher Überheblichkeiten stellen und Kunst nicht mehr als Kommunikationsmittel sondern als Waffe zwischen den Völkern einsetzen, handeln für mich misbräuchlich.

Gruß Rolf
Martin2
Inventar
#3 erstellt: 18. Mrz 2005, 17:31
Lieber Rolf, liebes Forum,

also ich denke doch, daß große Komponisten vor allem auch "Weltmusiker" waren. Und gerade Schostakowitsch empfinde ich gar nicht so sehr als russisch, sondern als eine ausgeprägt internationale Erscheinung.

Und ganz sicher ist bei der Empfindung des Nationalen in der Musik auch eine Menge Einbildung dabei. Man könnte ja mal die Probe aufs Exempel machen und Leuten verschiedene Musik aus verschiedenen Ländern vorführen, die sie nicht kennen. Ob sie dann das Englische, Französische oder Russische aus der Musik heraushören?

Wichtig ist aber m.E. die Tatsache, daß nationale Entwicklungen sich tatsächlich voneinander abkoppeln können. Auch das betrachte ich nicht unter einem nationalen Gesichtspunkt, sondern durchaus unter einem internationalen, insofern nämlich solche nationalen Entwicklungen der internationalen Entwicklung von Kultur verschiedene Optionen offenhalten. Eine solche Option könnte zum Beispiel der englische "Konservativismus" ( aber empfinden sich die Engländer als so konservativ?) sein. Wer weiß, vielleicht geht die deutsche Musik irgendwann einmal bei der Englischen in die Lehre.

Nationale Musik in gewisser Hinsicht gibt es natürlich. So gibt es russische und deutsche Volkslieder. Und diese haben dann möglicherweise ihre nationalen Eigenheiten. Und ein Musiker, der sich von diesen Eigenheiten beeinflussen läßt, dessen Musik hat dann möglicherweise schon einen "nationalen Akzent".

Nationaler Überlegenheitswahn ist ein Übel. Jedoch kann ihre nationale Herkunft Komponisten eine zusätzliche Faszination geben. Allerdings ist diese sehr fragwürdig. Sicher ist es irgendwie schön, bei Sibelius zunächst einmal die geheimnissvollen finnischen Wälder rauschen zu hören. Aber ob der nicht dieser Musik näher kommt, dem Sibelius "Finnentum" ziemlich gleichgültig ist und der sich nur von der Persönlichkeit des Komponisten gefangen nehmen läßt? Auch wenn die Finnen, wie ich gehört habe, dem Sibelius ein gigantisch großes Denkmal gesetzt haben sollen.

Furtwängler sprach, wie ich es gehört habe, noch davon, daß kein Italiener jemals eine Beethovensinfonie richtig dirigieren könne. Da sind wir glücklicherweise weiter und empfinden es als völlig normal, wenn ein Italiener ein deutsches Orchester mit Brahms oder Beethoven dirigiert. Und da muß ich sagen: Gott sei Dank, daß die Zeiten nationalchauvinistischer Ideologien doch vorbei zu sein scheint und auch ein Italiener Brahms dirigieren darf und das sogar mit den besten deutschen Orchestern.

Gruß Martin
antiphysis
Stammgast
#4 erstellt: 18. Mrz 2005, 19:51
Ich denke, die Idee von National-Musik hat die Rezeptionsgeschichte ad absurdum geführt. So nationale Komponisten wie Grieg, Nielsen oder Smetana sind weltweit präsent, um nicht zu sagen populär.
Ich halte die Idee tatsächlich für ein reines Phänomen des 19. Jahrhunderts, das allerdings weiter gedacht zu den Katastrophen des 20. geführt hat.

Grüße
Tom_Sawyer
Stammgast
#5 erstellt: 18. Mrz 2005, 20:51
Wenn ich das "national" wahrnehme, fällt mir gleich Max Liebermann ein: "Kann leider nicht so viel essen wie ich kotzen möchte".
In Namen dieses Wortes wurden und werden weiterhin abermillionen von Menschen verfolgt, vergewaltigt, vertrieben, getötet.

Es fällt mir als Beispiel Bartok ein, der ungarische und rumänische Volksmusik gesammelt hat. Er hat das zu einer Zeit gemacht als in Namen der Nation, der Hass zwischen den beiden Völker kultiviert wurde
AcomA
Stammgast
#6 erstellt: 18. Mrz 2005, 20:54
hallo,

den bisherigen beiträgen stimme ich weitestgehend zu. der großteil der genialen kunstmusik ist zum weltkulturerbe geworden. dennoch glaube ich, dass z.b. beethoven sich nicht vorstellen konnte, dass seine glühendsten verehrer irgenwann einmal aus japan oder china stammen. ein großteil der kompositionen des 17.-20. jahrhunderts beinhalten auch folkloreelemente des kulturkreises, indem der komponist lebte und wirkte. diese elemente wurden verstärkt im 19. jahrh. berücksichtigt. im skandinavischen und vor allem slawischen raum war die musik eine komponente der nationalen emanzipation. nicht im sinne eines hegemonialdenkens, sondern als besinnung auf die eigenen wurzeln und befreiung von fremdherrschaft. dass diese werke relativ schnell im internationalen musikleben fuss fassten, spricht für den absoluten wert dieser kompositionen. darüberhinaus bin ich davon überzeugt, dass eine zusätzliche emotionale (heimatliche) komponente mitwirkt, wenn ein tschechisches ensemble dvorak spielt, oder ein polnischer pianist mazurken von chopin spielt.

gruß, siamak
Tom_Sawyer
Stammgast
#7 erstellt: 18. Mrz 2005, 21:03
Hallo Siamak,

deiner Einschätzung

berücksichtigt. im skandinavischen und vor allem slawischen raum war die musik eine komponente der nationalen emanzipation

kann ich nicht ganz folgen. Der Panslavismus ist eine eindeutig imperiale, intolerante Ideologie. Die Orthodoxe Kirche/Glaube und die slawische Überlegenheitsansprüche waren nicht weniger aggressiv als die mitteleuropäische Nationalthesen der selben Zeit.

Gruß

Johannes
AcomA
Stammgast
#8 erstellt: 18. Mrz 2005, 21:18
hallo Tom Sawyer,

ich meine nicht den panslawismus, da hast du natürlich recht. aber der panslawismus wurde vor allem von den serben geschürt ! ich kenne keinen serbischen komponisten von rang aber polen und tschechen sind friedfertige gesellen gewesen (und immer noch), und den tschechen ging es doch tatsächlich um emanzipation gegenüber der k.u.k.-struktur.

gruß, siamak
Tom_Sawyer
Stammgast
#9 erstellt: 18. Mrz 2005, 21:25
Hallo Siamak,

meines Wissens wurde des Panslawismus in Moskau geschürt, in Serbien gelebt-getötet.

Die Emanzipation von der KuK ist teilweise auch von schrillen nationalistischen Tönen begleitet worden.

Zurück zum Thema Nationalismus und Musik: Franz Liszt.
Wird von Österreichern und Ungarn gleichermassen als zur eigenen Nation zugehörig dargestellt.

Gruß

Johannes
Martin2
Inventar
#10 erstellt: 18. Mrz 2005, 23:52

Tom_Sawyer schrieb:
Wenn ich das "national" wahrnehme, fällt mir gleich Max Liebermann ein: "Kann leider nicht so viel essen wie ich kotzen möchte".
In Namen dieses Wortes wurden und werden weiterhin abermillionen von Menschen verfolgt, vergewaltigt, vertrieben, getötet.


Lieber Tom,

ich kann Deinen Würgereiz sehr gut nachvollziehen. Anderseits ist das Wort "national" von sich aus noch nichts anrüchiges, ist es doch zunächst einmal nur deskriptiv, etwas benennendes, das keine Wertung enthält. "Nationalismus" dagegen ist etwas anderes, dem kannst Du keine positive Wertung geben.

Und wie hier schon gesagt wurde, enstand der Nationalismus zwar im 19. Jahrhundert, hatte aber im 20. Jahrhundert seine absolute und menschenverachtend ausgeprägte Hochzeit. Ich fürchte, davon haben wir uns immer noch nicht erholt.

Mir persönlich ist da die Zeit vor dem 19. Jahrhundert viel sympathischer. Händel etwa, der irgendwie Deutscher, Italiener und Engländer in einer Person war. Oder Mozart, der Opern in italienischer, französischer und deutscher Sprache vertonte.

Ich weiß dabei gar nicht, ob mir so viel an der Nivellierung gelegen ist. Nationale Kulturen mögen ja durchaus etwas wertvolles sein. Aber dann besteht der Reiz vielleicht gerade darin, sich das "Fremde" ( das meistens gar nicht so fremd ist, in der Musik sowieso nicht) anzueignen. Also Brahms hat halt seine "ungarischen Tänze", Richard Strauss hat glaube ich ein Balett angelehnt an französisches Barock geschrieben oder Strawinsky seine Pergolesi Suite.

Mir ist diese Art von Internationalismus wirklich am liebsten. Ich mag nicht den Internationalismus der Nivellierung, aber der Internationalismus des Künstlers, der in vielen musikalischen Sprachen zuhause ist, der ist mir sehr sympathisch. Also ein Spanier, der im russischen Stil ( wenn es den überhaupt gibt) komponiert zum Beispiel. Aber der Engländer Malcolm Arnold ( lebt der noch?) hat halt doch nur englische, schottische und walisische "Tänze" geschrieben ( immerhin hat er irische geschrieben), auf die russischen, griechischen und armenischen Tänze von ihm müssen wir wohl noch lange warten.

Gruß Martin
antiphysis
Stammgast
#11 erstellt: 19. Mrz 2005, 00:20
Das ist das Schöne bei Berio, er hat wunderbare Lieder aus aller Herren Länder für Cathy Berberian vertont.
- Das Beglückende am Nationalen ist, wenn es international wird.

Grüße
Martin2
Inventar
#12 erstellt: 19. Mrz 2005, 02:07
Also zunächst einmal ist ja die ganze christliche Welt von Argentinien bis Armenien ein einziger großer Kulturraum. Unterschiede innerhalb dieses Kulturraums werden meist maßlos übertrieben. Man sollte im übrigen auch nicht von Internationalismus reden, wenn man nur diesen Kulturraum meint.

Geht mal in den Yahoochatraum "classical music" hinein ( den einzigen interessanten Chatraum, den ich kenne). Mir ist es da schon mehr als einmal passiert, daß ich über klassische Musik chatten wollte ( über privat messages) und dann stellte sich heraus, daß mein Gesprächspartner ein Inder war, der unter "klassischer Musik" etwas völlig anderes verstand als ich ( das ist mir mindestens dreimal passiert, es gibt da viele Inder), nämlich indische, so daß ein Gespräch zwischen uns überhaupt nicht zustande kam. Denn was verstehe ich schon von indischer Musik ( und mein Gesprächspartner verstand nichts von europäischer Musik).

Aber das wäre eigentlich ein Thema für einen neuen Thread. Inder beantworten die Frage, was klassische Musik sei, offensichtlich anders als Mitteleuropäer ( sonst hätte ich nicht schon dreimal diese Kommunikationsprobleme gehabt).

Jedenfalls gibt es mit Sicherheit Musik außerhalb der europäischen Schiene die wir der E-Musik zuordnen müssen ( außereuropäische Musik pauschal der U-Musik zuzuordnen wäre eine Beleidigung aller außereuropäischen Kultur).

Ich weiß jedenfalls, daß es chinesische Musik gegeben hat, die mich zutiefst beeindruckt hat. Leider war das ein Stück ( die Pflaumenblüte - uraltes chinesisches Stück) und ein hochinteressanter Film über einen chinesischen Komponisten, die für mich leider nicht mehr zugänglich sind.

Gibt es hier Leute, die mehr über diese E-Musik wissen? Vielleicht gehört das ja auch nicht hier her, nur ist es jedenfalls europäische Arroganz, E-Musik zu sagen und europäische Klassik zu meinen.

Gruß Martin
Tom_Sawyer
Stammgast
#13 erstellt: 19. Mrz 2005, 11:08
Hallo Martin2,

das Wort/derBegriff Nationalismus, Internationalismus, Freiheit, usw. wurden von Massenmörder jeglicher couleur vergewaltigt. Die ursprüngliche Bedeutung ist (leider oder auch Gott sei Dank) fast verloren gegangen.

Es gibt Komponisten wie Grieg, Smetana, Enescu u.a., die weiterhin als Nationalhelden missbraucht werden.

Gruß

Johannes
Martin2
Inventar
#14 erstellt: 19. Mrz 2005, 13:18
Lieber Johannes,

Du hast ja recht, man sollte beim Nationalismus in der Musik eigentlich keinen Spaß verstehen ( bei all dem, was Nationalismus angerichtet hat).

Aber ist es denn wirklich so schlimm, wenn die Norweger "ihren" Grieg ein bißchen als Nationalhelden sehen?

Nun ja, wenn die Deutschen mit Bach, Händel, Beethoven und Brahms protzen, ist das schon sehr viel problematischer.

Ich glaube als Elgars 1. Sinfonie uraufgeführt wurde, gab es im Anschluß ein großes Balihu. Endlich hatte es mal einen Engländer gegeben, der eine richtig große Sinfonie schreiben konnte und das wurde mit großer Begeisterung aufgenommen.

Man kann all das - denke ich - auch mit einem gewissen Schmunzeln sehen. Wobei wir heute im international vernetzten CD Zeitalter leben, was ein Segen ist. Wir sind nicht mehr auf das angewiesen, was uns die Konzerthallen und Radioanstalten bieten und brauchen uns von ihnen nicht nationalistisch verdummen lassen, sondern können uns unser eigenes Bild zum Beispiel von englischer Musik machen. Es wäre allerdings schön, wenn das auch endlich mal in unsere deutschen Konzerthallen überschwappte. Es ist doch eigentlich eine Schande, daß man nach England fahren muß, um Elgar oder Vaughan Williams zu hören. Jedenfalls empfinde ich diesen latenten Chauvinismus als sehr viel problematischer. Das kommt dann so im Gewande von "nationaler Kulturpflege" ( als ob Beethoven und Brahms die nötig hätten). Und das gibt sich ganz seriös und ist viel weniger angreifbar, als wenn man in Bonn ein 250 Meter hohes Beethovendenkmal baut.

Neulich war ich übrigens auf einer englischsprachigen Seite, wo es eine Art Hitparade klassischer Musik gab. Vaughan Williams lag ganz vorne und war zweimal in den Top Ten. Hierzulande ist er viel zu wenig bekannt. Das empfinde ich als nationalistische Verzerrungen, über die wir offensichtlich immer noch nicht hinaus sind.

Gruß Martin


[Beitrag von Martin2 am 19. Mrz 2005, 13:19 bearbeitet]
Tom_Sawyer
Stammgast
#15 erstellt: 19. Mrz 2005, 13:31
Lieber Martin,

hast recht,man sollte entspannter sein. Also ein Witz:

Welche ist die größte österreichische Errungschaft seit dem Weltkrieg ?

Die Welt überzeugt zu haben, dass Beethoven österreicher und Hitler deutscher war.


Gruß

Johannes
AcomA
Stammgast
#16 erstellt: 19. Mrz 2005, 14:19
hallo,

ich bin mir darüber bewusst, dass man in deutschland mit begriffen wie 'nationalstolz' oder 'heimatliebe' aus bekannten historischen gründen probleme hat und befangen ist. interessant, dass niemand darauf eingegangen ist, dass es für einen polnischen pianisten oder einen tschechischen musiker etwas zusätzlich besonderes ist, chopin bzw. dvorak zu spielen.

da ich iranischer herkunft bin, kann ich etwas über die persische 'klassische' musik berichten. in der persischen sprache heißt es 'sonati'. man kann es mit 'traditionell' oder 'klassisch' übersetzen. es handelt sich hierbei um ernste musik, die in ihrer grundform gut 1000 jahre alt ist. es gibt 7 haupttonarten. eine 'suite' folgt einem traditionellen schema mit eröffnung und dann für jede tonart etwa 30 überlieferte grundmotive, die der musiker jederzeit beherrschen muss. ein erfahrener instrumentalist kann dann neue motive hinzufügen. es gibt für die aufführung die ebenso lange bekannten instrumente. es gibt dann die möglichkeit, sowohl als ensemble als auch als solo-instrument mit perkussiver begleitung zu spielen. neben der rein instrumentellen musik gibt es dann den zusätzlichen traditionellen gesang, der in der regel auf die gedichte der berühmten persischen mittelalterlichen dichter wie hafez, saadi, khayam etc. zurückgreift. früher wurde die kunst direkt vom meister auf den schüler übertragen. seit der pahlewi-dynastie gibt es die großen konservatorien. ein großteil dieser musiker hat keinen blassen schimmer von der musik des okzidents. aber natürlich kann man an den konservatorien auch 'unsere' klassische musik studieren. die lobby ist klein und die gruppe der konsumenten ebenfalls.

gruß, siamak
Martin2
Inventar
#17 erstellt: 19. Mrz 2005, 17:01
Lieber Siamak,

danke, daß Du uns mal etwas über die klassischen persische Musik berichtet hast. Aber ich gebe zu, daß mir außereuropäische Musik doch oft sehr fremd ist. Ich erinnere mich zum Beispiel mal, daß ich einem Inder mal die Frage gestellt habe, wer denn der größte indische Komponist sei und er konnte mit dieser Frage irgendwie schon nichts anfangen.

Abgesehen also, daß einem außereuropäische Musik schon von ihrem musikalischen Material fremd ist, gibt es also möglicherweise auch grundsätzlich andere Sichtweisen. Vielleicht zum Beispiel ist das Element der Improvisation viel größer. Und der Komponist spielt möglicherweise keine so große Rolle. Vielleicht gibt es auch gar keine Kompositionen in unserem Sinne. Das könnte ein Verständnisproblem darstellen, nicht das andere musikalischen Material, das ja zunächst einmal reizvoll sein mag und in das man sich mit Sicherheit auch irgendwie einhören könnte.

Ich hatte übrigens auch mal einen Mailkontakt mir einem sehr jungen und sehr ehrgeizigen iranischen Violinspieler ( der sehr davon träumte, an einer deutschen Musikhochschule zu studieren), der wie ein Rohrspatz schimpfte über die lausigen Teheraner Sinfonieorchester ( seiner Meinung nach alles Barbaren). Abgesehen davon schimpfte er natürlich auch über die "Seltsamkeiten" des islamischen Regimes dort.

Gibt es irgendeine klassische persische Musik, vielleicht sogar einen persischen Komponisten, den Du uns empfehlen würdest? Es ist ja ohnehin eine Schande, daß die deutschen Radioprogramme sich nie dieser Musik widmen, so daß man also auch nie einen Höreindruck von ihr bekommt. Es gibt da mit Sicherheit unheimlich viel interessantes und faszinierendes, was wir nie zu hören bekommen. Und in ein Geschäft zu gehen, und mir, sagen wir mal, irgendwelche indische Musik zu kaufen ( wenn's die überhaupt dort gibt), reizt mich nicht so sehr. Vielleicht denkst Du da, es ist der indische Beethoven, den Du da hörst, und in Wirklichkeit ist es doch nur der indische Freddy Quinn

Auch da kommen jedenfalls die Radioanstalten ihrem Kulturauftrag überhaupt nicht nach.

Gibt es denn in der persischen Musik, die Du ja sicher ganz gut kennst, irgendwelche Versuche, den europäischen Kultureinfluß zu verarbeiten, und sozusagen die eigene musikalische Tradition mit diesem Kultureinfluß zusammenzuführen, so daß etwas neues entsteht, oder existiert das alles nur nebeneinander vor sich hin? Wobei sich die europäischen Musik ja auch nie wirklich solchen Einflüssen aus fremden Kulturen geöffnet hat. Irgendwie hat man da schon den Eindruck, daß auf diesem Erdball verschiedene Kulturen wie in Parallelwelten nebeneinander existieren und füreinander nur ein Gefühl unüberbrückbarer Fremdheit empfinden. Und das ist sehr bedenklich, wenn nicht sogar gefährlich.

Gruß Martin
Josef1
Ist häufiger hier
#18 erstellt: 19. Mrz 2005, 17:09
An Herrn Tom_Sawyer,

Max Liebermann meinte die deutschen Nazis, keinesfalls die Opfer, sollten diese selbst ein Nationalbewußtsein haben.
Ich finde jeder sollte in seinem Beitrag genau zwischen deutschem- oder eben nicht deutschem Nationalismus unterscheiden. Die einen sind Täter, die anderen Opfer(zumindest bezogen auf den Zeitraum der diesem Diskussionsgegenstand im Forum zugrunde liegt).
Auf die Kausalkette kommt es an.
Für mich gehört der Nationalismus zu den schlimmsten Auswüchsen, schlimmer ist es jedoch aus verletztem und unerfülltem Nationalstolz die anderen dessen zu bezichtigen.
P.S.:Die Österreicher wissen was, bzw.wen die Deutschen brauchen. Und Smetana hätte sich sicherals "Mißbrauchter" gegen Unterdrückung zur Verfügung gestellt
technicsteufel
Inventar
#19 erstellt: 19. Mrz 2005, 17:29

Josef1 schrieb:
An Herrn Tom_Sawyer,

Max Liebermann meinte die deutschen Nazis, keinesfalls die Opfer, sollten diese selbst ein Nationalbewußtsein haben.
Ich finde jeder sollte in seinem Beitrag genau zwischen deutschem- oder eben nicht deutschem Nationalismus unterscheiden. Die einen sind Täter, die anderen Opfer(zumindest bezogen auf den Zeitraum der diesem Diskussionsgegenstand im Forum zugrunde liegt).
Auf die Kausalkette kommt es an.
Für mich gehört der Nationalismus zu den schlimmsten Auswüchsen, schlimmer ist es jedoch aus verletztem und unerfülltem Nationalstolz die anderen dessen zu bezichtigen.
P.S.:Die Österreicher wissen was, bzw.wen die Deutschen brauchen. Und Smetana hätte sich sicherals "Mißbrauchter" gegen Unterdrückung zur Verfügung gestellt


Was ist Nationalismus?
Was ist Nationalsozialismus?
Was ist Transnationalismus?
Was ist Faschismus?
Was ist ein Nationalstaat?
Was ist ein Kulturstaat?

Wenn ihr schon über solche Themen diskutiert dann werft die Deutung verschiedener Begriffe nicht durcheinander!

Und was aus jeder Sache werden kann oder geworden ist, ist wiederum in jedem Land (Nationalstaat) anders gelaufen.
Man kann nicht einfach alles über einen Kamm scheren.

Gruß Rolf
Martin2
Inventar
#20 erstellt: 19. Mrz 2005, 23:55
Lieber Josef,

ich finde, Du bringst hier mit Deinem Beitrag eine vollkommen unnötige Schärfe rein. Ich wüßte nicht, was an Johannes ( Tom Sawyers) Beiträgen diese Schärfe rechtfertigt. Zumal er selbst gerade dabei war, gewisse Dinge entspannter zu sehen, also was soll das??

Sowieso weiß ich viel zu wenig über den Nationalismus anderer Länder, und möchte mir deshalb auch kein Urteil anmaßen. Daß es aber Nationalismus überall gibt, ist eine Binsenweisheit ( jedenfalls nach meiner Definition des Nationalismus, Du magst eine andere haben). Aber vielleicht ist der tschechische Nationalismus ja ganz charmant. Vielleicht ja auch nicht, woher soll ich das wissen? Jedenfalls sehe ich weder eine Veranlassung, nichtdeutschem Nationalismus aus "unerfülltem Nationalstolz" nun gleich etwas faschistoides oder gar faschistisches zu unterstellen ( wobei, ich bin ja nun nicht der Angesprochene, aber weißt Du, ich hänge jeden Tag die deutsche Fahne aus dem Fenster, wie sollte ich da an unerfülltem Nationalstolz leiden?), so wie ich anderseits auch keine Veranlassung sehe, den Nationalimus anderer Nationen zu verharmlosen, bevor ich ihn überhaupt gründlich kenne. Am deutschen Nationalismus ist jedenfalls etwas oberfaul, soviel ist gewiß.

Ansonsten möchte ich mich hier über Musik unterhalten. Die Entwicklung von Musik hat aber schon eine gewisse nationale Dimension und die finde ich schon interessant. Wie hat sich Musik in gewissen Ländern, manchmal auch in gewissen Regionen entwickelt? Das ist doch ein interessantes Thema, das man nicht zu tabuisieren braucht. Sondern über das sich durchaus entspannt diskutieren läßt.

Gruß Martin
Tom_Sawyer
Stammgast
#21 erstellt: 20. Mrz 2005, 09:40
Lieber Josef1,

ich bin zwar deutscher, aber gebürtig und mit geistigen Wurzeln im ehemaligen KuK, heute Rumänien. Mein Großvater hat in den Dolomiten gegen Italien gekämpft. Ich esse Paradeise, Kukuruz und Topfen.

Zum Thema österreichischer/deutscher Nationalismus:
Der österreichische Nationalismus war tatsächlich etwas milder als in anderen Staaten derselben Zeit, man mußte ein Vielvölkerstaat zusammenhalten. Der Antisemitismus war um die Jahrhundertwende dafür deutlicher ausgeprägt als in Deutschland. Siehe Karl Lueger(Wiener Bürgermeister).

Man könnte noch den Empfang von Hitler in Wien als dunkler Fleck in der österreichische Geschichte erwähnen.

Dass Liebermann die Nazis gemeint hat ist mir bewußt, ich benutze seinen Spruch für ein erweiterten Kreis.

mfg

Johannes
AcomA
Stammgast
#22 erstellt: 20. Mrz 2005, 13:31
hallo Martin,

die persische traditionelle musik führt eigentlich ein parallel-leben neben den anderen musikformen. erst anfang des 20. jahrhunderts hatten wenige begonnen, die überlieferten musikstücke in das europäische notensystem zu notieren und damit zu dokumentieren. nachwievor werden die stücke über imitation und gehör gelernt. die improvisation spielt bei den solo-passagen eine wesentliche rolle. es gibt vereinzelt iranische komponisten, die die westliche kunstmusik studiert haben und z.b. sinfonische werke komponierten, welche auch elemente der traditionellen persischen musik, teils auch mit integration traditioneller instrumente (z.b. tar), beinhalteten. die konsumenten der traditionellen musik legen größeren wert auf den gesang mit den verwendeten texten (gedichte).
aufnahmen starker ensembles oder instrumentalisten gibt es quasi nur auf iranischen labels. ein musiker und komponist, den ich sehr hoch einstufe und der im iran sehr bekannt ist: parviz meshkatian. er spielt die 'santur', ein zitherähnliches instrument, das mit schlägelchen bearbeitet wird. er hat es geschafft, die ensemblemusik deutlich zu verbessern. in seinen kompositionen gibt es sogar polyphone elemente. ganz davon abgesehen, dass er die technischen möglichkeiten seines eigenen instrumentes enorm erweiterte.

gruß, siamak
Martin2
Inventar
#23 erstellt: 20. Mrz 2005, 16:39
Lieber Simiak,

danke, daß Du mir noch mehr Informationen zur persischen Musik gegeben hast. Den Namen Parviz Meshkatian werde ich mir merken.

Mich regt das dazu an, mal zu sehen, ob es Bücher über persische und andere Musik gibt, die einen genauer informieren. Vielleicht existieren sie ja.

Ist denn persische Musik in einem solchen Maße eigenständig, daß sie zunächst einmal nur für einen Perser interessant ist? Ist die Santur zum Beispiel ein persisches Musikinstrument, oder ist die vielleicht sogar über den ganzen Orient verbreitet?

Mir sind da noch verschiedene Dinge unklar, über die man eigentlich informiert sein sollte. Zum Beispiel ist es mir sehr unklar, wo im Orient überhaupt Kulturräume verlaufen. Also ob zum Beispiel musikalisch islamische Länder als ein großer Kulturraum anzusehen sind ( ähnlich dem amerikanisch-europäischen) oder ob die Unterschiede in der Musik so gewaltig sind, daß ein Türke zum Beispiel die ursprüngliche iranische Musik schon gar nicht mehr versteht und sie ihm genauso fremd ist wie einem Mitteleuropäer, weil die möglicherweise schon wieder mit anderen Tonskalen arbeitet usw. ( Du schriebst, daß die iranische Musik 7 Tonarten hat, ist das vergleichbar mit unseren Kirchentonarten, von den es ja glaube ich auch 7 gibt?)

Also ich werde mal nach Büchern suchen.

Gruß Martin
sound67
Hat sich gelöscht
#24 erstellt: 20. Mrz 2005, 17:56
Die hier vermuteten Usprünge nationaler Musik zum Ende des 19. Jahrhunderts haben nichts mit nationalchauvinistischen Tendenzen zu tun. Musikgeschichtlich waren sie ganz klar durch den Versuch der Überwindung der Dominanz der deutschen Musik (Brahms, Wagner) durch Hinwendung zum eigenen Volksmusikgut motiviert. Nicht mehr und nicht weniger.

Elgar bspw. hat sich nie selbst als "nationaler" englischer Komponist verstanden sondern war, wie Stanford und Parry, ein stark vom Kontinent, v.a. Brahms, beeinflusster Komponist. Er war nur in sofern Teil der englischen "Renaissance" zum Ende dces 19. Jahrhunderts als er internationale Bedeutung erlangte, was vorher keinem Kompoinisten aus dem Königreich seit Purcell mehr gelungen war. Mit "nationaler Musik" hat das nichts zu tun.

Alle anderen Interpretation gehen fehl.

Gruß, Thomas
Hüb'
Moderator
#25 erstellt: 20. Mrz 2005, 19:21

Martin2 schrieb:
Furtwängler sprach, wie ich es gehört habe, noch davon, daß kein Italiener jemals eine Beethovensinfonie richtig dirigieren könne.


Etwas off-topic:
Ohne den konkreten Kontext zu kennen kann ich mir gut vorstellen, dass Furtwänglers Aussage auf Toscanini gemüntzt war. Dieser hatte ja bekanntlich einen ganzen anderen musikalischen Ansatz in Bezug auf z. B. Beethoven. Die Aussage könnte also als Seitenhieb zu verstehen gewesen sein.

Viele Grüße,

Frank
Martin2
Inventar
#26 erstellt: 20. Mrz 2005, 19:23
Lieber Thomas,

ich gebe Dir da völlig recht. Allerdings: Richard Wagner hat sich von solchen nationalchauvinistischen Tendenzen, die im 19. Jahrhundert wohl da waren, schon anstecken lassen.

Aber sowieso haben alle Komponisten aller Zeiten immer von einer großen internationalen Karriere geträumt. Vielleicht ist die Idee nationaler Musik dann wieder eine Idee kleiner Lichter. So nach dem Motto: Meine Musik wird nicht im Ausland gehört, weil sie fürs Ausland einfach viel zu gut ist.

Ich glaube auch nicht so recht an nationale Musik. Allerdings gibt es sicher sehr interessante eigenständige musikalische Entwicklungen verschiedener Länder, gerade im 20. Jahrhundert ( auch erzwungenermaßen, wenn man an die Stalinzeit denkt). Das hat dann aber mit Nationaltümelei nichts zu tun. Aber wie hat zum Beispiel die Avantgardemusik gewirkt? Welchen Einfluß hatte der französiche Impressionismus? Oder ist heute etwa der Minimalismus immer noch eine typisch amerikanische Angelegenheit?

Das "eigene Volksmusikgut" mag eine Rolle spielen, aber haben Schostakowitschs Sinfonien irgend etwas mit russischer Volksmusik zu tun? Das bezweifle ich doch stark. Und nicht nur bei Schostakowitsch.

Ich denke allerdings, daß gerade das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert verschiedener musikalischer Ideologien ( oder, weniger wertend, gewisser Ideen von Musik) gewesen ist, und wie sich dann nationale Musikkulturen zu diesen Ideologien gestellt haben, ist eine interessante Frage.

Gruß Martin
Hüb'
Moderator
#27 erstellt: 20. Mrz 2005, 19:35
Bitte bleibt beim Thema "Musik". Dies ist nicht der Raum für politische Diskussionen.

Grüße,

Frank
Tom_Sawyer
Stammgast
#28 erstellt: 20. Mrz 2005, 19:54
@Frank

Das ist keine politische Diskussion-mangels wirklichen politischen Meinungverschiedeheiten-, es ist eine Musikpolitische Diskussion.

Wenn Musiker des 19.Jh. als Nationalhelden ausgebeutet werden, dann ist das eine Diskussion Wert. Die politische Umstände die dazu geführt haben, werden zwangsläufig erwähnt.
Hüb'
Moderator
#29 erstellt: 20. Mrz 2005, 20:01

Tom_Sawyer schrieb:
@Frank

Das ist keine politische Diskussion-mangels wirklichen politischen Meinungverschiedeheiten-, es ist eine Musikpolitische Diskussion.

Wenn Musiker des 19.Jh. als Nationalhelden ausgebeutet werden, dann ist das eine Diskussion Wert. Die politische Umstände die dazu geführt haben, werden zwangsläufig erwähnt.


Ist schon klar. Diese Notwendigkeit sehe ich auch. Möchte nur darauf hinweisen, dass ich eine AUSSCHLIESSLICH politische Diskussion (und die Gefahr eines Abgleitens ist bei solchen Themen immer gegeben) unterbinden würde.

Grüße,

Frank
Hüb'
Moderator
#30 erstellt: 20. Mrz 2005, 21:25
Noch mal was zum Thema.
Beim lesen englischer Musik-Zeitschriften (BBC Music Magazine, Grammophon) habe ich immer den Eindruck eines Gewissens "Hypes" britischer Musik. Ich muss dazu sagen, dass ich sehr gerne Musik von der Insel höre (Bax, Britten, Elgar, RVW, Bliss etc.). Dennoch haben diese Komponisten für mich nicht den Stellenwert eines Beethoven oder Brahms. M. A. nach ist die englische Musik (zumindest in der Vergangenheit) stark rückwärtsgewandt und konservativ.

Hier noch was (vielleicht erhellendes) aus dem Brockhaus Musik:

Nationale Stile in der Musik und ihre Vermischung

Spätestens mit der Etablierung der neuen Gattung Oper dominierte die italienische Musik. Die Sängervirtuosen wurden zum italienischen »Exportschlager« und die italienische Musik von den deutschen, englischen und holländischen Musikverlegern nachgedruckt, sodass sie auch im Norden Europas schnell Verbreitung fand. Höfe wie Dresden, Wien, München, Innsbruck und Hannover investierten enorme Summen in italienische Musik und Musiker. Notfalls wurden deutsche Musiker nach Italien zur Ausbildung geschickt, damit sie dort die Neuerungen kennen lernen konnten. Deutsche Publikationen wurden selbst dann mit italienischen Titeln als Zeichen der Modernität versehen, wenn die darin vertonten Texte deutsch waren.

Am deutlichsten ist die Beeinflussung auf dem Gebiet der Oper; nachdem die habsburgischen Höfe erst einmal ihre Operntheater errichtet hatten, konnte niemand mehr den Siegeszug der neuen Gattung in ganz Nordeuropa aufhalten. Ihr Weg ging über die Höfe in die Städte. Selbst Frankreich, das stets versuchte, seinen eigenen musikalischen Weg zu gehen, wurde von der Lawine überrollt. Zwar scheiterten die Versuche, Luigi Rossi und später dann Francesco Cavalli am französischen Hof zu etablieren; kurz darauf aber gelang es dem in Florenz gebürtigen Jean-Baptiste Lully, diese letzte Bastion zu erobern. Lully allerdings sah seine Chance vor allem in einer Synthese der unterschiedlichen Stile. So übertrug er die italienische Deklamation auf die französische Sprache, behielt aber die französischen Tänze bei. Derartig modifiziert, nahm in der Folgezeit die französische Oper eine andere Entwicklung als die italienische.

Auch die Opern des Engländers Henry Purcell zeigen den italienischen Einfluss. Ähnliches gilt für die deutsche Oper, deren Nähe zur italienischen schon dadurch deutlich wird, dass die Arien häufig mit italienischem Text gesungen wurden. Zudem waren nicht wenige Libretti mehr oder weniger originalgetreue Übersetzungen aus dem Italienischen, was zwangsläufig auch zu einer ähnlichen Dramaturgie führte.

Aber auch französische Einflüsse waren vor allem an den protestantischen Höfen Deutschlands stets präsent. Selbst die in Deutschland wirkenden italienischen Komponisten wie Agostino Steffani ließen in ihre Opern französische Elemente einfließen. Dies lag unter anderem daran, dass der Hof des Sonnenkönigs rasch zum Vorbild geworden war und zudem zahlreiche dynastische Verästelungen nach Frankreich wiesen. Außerdem war die Sprache an den deutschen Höfen französisch.

Anders als in Italien war in Frankreich die Aufführung von Instrumentalmusik mit großer Besetzung die Norm; dies bedingte bei den Steichern zugleich eine größere Disziplin hinsichtlich des Bogenstrichs. Eine der Generalregeln besagte deshalb, dass der erste Taktteil durch den Abstrich akzentuiert, die ungeraden Taktzeiten im geraden Takt jedoch mit einem Aufstrich ausgeführt werden sollten, damit die Musik einheitlich klinge, »obgleich ihrer tausend zusammen spihleten« (Muffat). Zwar gibt es zahlreiche Zeugnisse dafür unter anderem von Muffat selbst , dass auch in Italien bei besonderen Anlässen die einzelnen Stimmen ausgesprochen üppig besetzt wurden, die Regel aber scheint eher die Doppelbesetzung jeder einzelnen Stimme gewesen zu sein. Bei Bedarf oder Gelegenheit jedoch konnte der Apparat erweitert werden. Umgekehrt konnten Concerti grossi auch zu Triosonaten reduziert werden. Insofern war die Besetzungsstärke in Italien eher zufällig, was mitunter auch die kompositorische Struktur tangieren konnte. Die französische Ensemblemusik hingegen rechnete von vornherein mit einem größeren Orchester und schloss etwa eine kammermusikalische Wiedergabe aus, da dadurch die ausgeloteten Klangproportionen der Stimmen gestört worden wären. Einer Orchesterkultur in Frankreich stand also eine Ensemblekultur in Italien gegenüber.

Auch die deutsche Kirchenmusik profitierte von den unterschiedlichen Nationalstilen. Die katholische Kirchenmusik orientierte sich vor allem an römischen Komponisten; die protestantische Kirchenmusik hingegen nahm bereits seit Schütz Elemente venezianischer Musik auf. Die Kombination von protestantischem Gemeindegesang, Chören in deutscher Tradition und Elementen der italienischen Oper prägten beispielsweise die Kantaten Johann Sebastian Bachs und Georg Philipp Telemanns, wobei beide auch die französische Schreibart integrierten. Diese Mischung beschrieb der Musikschriftsteller Johann Adolph Scheibe in seinem1745 erschienenen »Critischen Musikus«: »Die deutsche Musik hat das meiste von den Ausländern entlehnet, und sie unterscheidet sich nur durch fleißige Arbeit, regelmäßige Ausführung der Sätze und durch die Tiefsinnigkeit, die sie in der Harmonie anwenden.« Scheibe hatte wohl vor allem die Werke Telemanns im Sinn, aus dessen Autobiographie hervorgeht, wie er sich die unterschiedlichen Nationalstile im Einzelnen angeeignet hat.

Zunächst waren für Telemann die Italiener das Vorbild: »Die Sätze von Steffani und Rosenmüller, von Corelli und Caldara erwählte ich mir hier [in Hildesheim] zu Mustern, um meine künfftige Kirchen- und Instrumental-Music darnach einzurichten ...«. Fugen und kontrapunktische Sätze jedoch erlernte er bei einem Deutschen, nämlich bei Johann Kuhnau in Leipzig. In Sorau lernte Telemann dann die französische Musik kennen: »Ich wurde des Lulli, Campra und andrer guten Meister Arbeit habhafft, und legte mich fast gantz auf derselben Schreibart, sodass ich der Ouvertüren in zwey Jahren bey 200. zusammen brachte.« Doch damit nicht genug. Als sich der dortige Hof für einige Zeit nach Oberschlesien begab, lernte Telemann nach eigener Auskunft »so wohl daselbst als in Krakau, die polnische und hanakische Musik, in ihrer wahren barbarischen Schönheit kennen... Man sollte kaum glauben, was dergleichen Bockpfeiffer oder Geiger für wunderbare Einfälle haben... Gnug, in dieser Musik steckt überaus viel gutes; wenn behörig damit umgegangen wird. Ich habe, nach der Zeit, verschiedene, grosse Concerte und Trii in dieser Art geschrieben, die ich in einen italiänischen Rock, mit abgewechselten Adagi und Allegri, eingekleidet.«

War eine derartige Haltung, die von den anderen Nationen das jeweils Passende übernahm, für einen deutschen Musiker durchaus nicht untypisch, so wurden andererseits in Italien und Frankreich Einflüsse von außen ausgesprochen argwöhnisch betrachtet. England hingegen hatte sich nicht nur der italienischen Oper geöffnet, sondern holte sich mit Händel einen derjenigen Deutschen ins Land, die alle Stilarten beherrschten. Trotz der Vermischung der nationalen Stile sollte der Streit um die Vorherrschaft der italienischen oder der französischen Musik und insbesondere der Oper noch einige Zeit anhalten.

Dr. Reinmar Emans

Literatur:
Dammann, Rolf: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Laaber 31995.
Europäische Musik in Schlaglichtern, herausgegeben von Peter SchnausMannheim u. a. 1990.
Geschichte der Musik, herausgegeben von Alec Robertson und Denis Stevens. Band 2: Renaissance und Barock. Aus dem Englischen. Sonderausgabe Herrsching 1990.
Die Musik in Geschichte und Gegenwart, begründet von Friedrich Blume. Herausgegeben von Ludwig Finscher. Auf 21 Bände berechnet. Kassel u. a. 21994 ff.
Neues Handbuch der Musikwissenschaft, begründet von Carl Dahlhaus. Fortgeführt von Hermann Danuser. Band 3 und 4. Sonderausgabe Laaber 1996.


© F. A. Brockhaus GmbH, Leipzig · Mannheim, 2003


Mal was völlig anderes:
Warum, denkt ihr, gibt es so viele herrausragende Tschechische Musiker?
sound67
Hat sich gelöscht
#31 erstellt: 20. Mrz 2005, 21:33

Martin2 schrieb:

Aber sowieso haben alle Komponisten aller Zeiten immer von einer großen internationalen Karriere geträumt. Vielleicht ist die Idee nationaler Musik dann wieder eine Idee kleiner Lichter.


Kleine Lichter wie Bartók?


Das "eigene Volksmusikgut" mag eine Rolle spielen, aber haben Schostakowitschs Sinfonien irgend etwas mit russischer Volksmusik zu tun?


Nein. Aber sagt das etwas über den Stellenwert von Schostakowitsch aus? Wohl kaum.

Gruß, Thomas

P.S.:


Ich muss dazu sagen, dass ich sehr gerne Musik von der Insel höre (Bax, Britten, Elgar, RVW, Bliss etc.). Dennoch haben diese Komponisten für mich nicht den Stellenwert eines Beethoven oder Brahms. M. A. nach ist die englische Musik (zumindest in der Vergangenheit) stark rückwärtsgewandt und konservativ.


Solche Überlegungen und Vergleiche sind wenig sinnvoll. "Stellenwert" ist was für Buchhalter, nicht für Historiker. Außer vielleicht für deutsche ...


[Beitrag von sound67 am 20. Mrz 2005, 21:35 bearbeitet]
Hüb'
Moderator
#32 erstellt: 20. Mrz 2005, 21:53

sound67 schrieb:
Solche Überlegungen und Vergleiche sind wenig sinnvoll. "Stellenwert" ist was für Buchhalter, nicht für Historiker. Außer vielleicht für deutsche ...


Meinte damit, dass beispielsweise Brahms in meiner persönlichen, ganz individuellen Top 100-Liste VOR allen britischen Komponisten auftauchen würde. Nur mein Geschmack. Kann nichts dafür ;). Woher weißt Du eigentlich, dass ich Buchhalter bin?


Grüße,

Frank
Martin2
Inventar
#33 erstellt: 20. Mrz 2005, 22:20
Liebes Forum, lieber Thomas,

es ist ganz lustig, daß Du Dich über den von Frank gebrauchten Begriff des "Stellenwerts" mokierst, obwohl Du selber einen Abschnitt vorher vom "Stellenwert" von Schostakowitsch sprichst.

Daß die Musik Englands wirklich so "rückwärtsgewandt und konservativ" ist, wie Frank sagt, ist glaube ich schon Auffassungssache.

Dazu fällt mir eine Episode ein, die ich in London erlebte. Da war ich in einem Konzert der Londoner Sinfoniker mit Tilson Thomas und Gidon Kremer spielte damals ein Violinkonzert von Alfred Schnittke. Als wir dann in der Konzertpause waren, bekamen wir ein Gespräch zweier Damen mit, die sich angesichts des Schnittke sehr über "the ugly German music" ereiferten.

Ich persönlich empfinde den Konservativismus der Engländer zunächst einmal als Ausdruck des Selbstbewußtseins. Vielleicht gab es wirklich mal eine Zeit, in der sich die Engländer sehr an der deutschen Musik orientiert haben. Aber diese Zeit ist mit Sicherheit lange vorbei. Ich empfinde englische Musik zunächst mal oft als sehr schön. Und das mag ich. Ich mag eine Musik, die zunächst einmal schön sein will. Ich mag keine Musik, die die Schönheit in erster Linie im Häßlichen sucht. In zweiter Linie meinetwegen. Und selbstverständlich wirkt VW moderner als Elgar, Arnold moderner als VW; das die englische Musik in diesem Sinne reaktionär ist, glaube ich einfach nicht. Neuere musikalische Mittel erschließt sie sich schon, aber sie folgt in der Ästhetik doch einem gewissen common sense.

Was die englischen Komponisten denken, weiß ich natürlich nicht, aber vom englischen Konzertpublikum könnte ich es mir sehr gut vorstellen - siehe das Gespräch der beiden Londoner Damen-, daß sie die Avantgarde als einen "neumodischen deutschen Quatsch" ansehen, den die Engländer ja nicht unbedingt mitmachen müssen. Wobei ich es mit von einem Engländer habe sagen lassen, daß die Avantgarde in England zu gewissen Zeiten auch sehr einflußreich war.

Gruß Martin
hoersen
Hat sich gelöscht
#34 erstellt: 23. Mrz 2005, 10:51
ich steh übrigens auf wagner!!!

der war bekennender antisemit und die musikalische ikone der nazi-elite. bin ich jetzt nur deshalb auch ein antisemit und/oder nazi?

(war dieser beitrag nun "neutral" genug?)

horst
Hüb'
Moderator
#35 erstellt: 23. Mrz 2005, 10:59

hoersen schrieb:
(war dieser beitrag nun "neutral" genug?)


Hallo Horst!
Ich kann gut damit leben.
Grüße,
Frank
Josef1
Ist häufiger hier
#36 erstellt: 23. Mrz 2005, 15:15
hoersen,
die Frage müssen Sie sich schon selbst beantworten(ob Sie ein Antisemit oder ein Nazi sind).
Vielleicht helfen Ihnen die vergasten Menschen als Entscheidungshilfe.


[Beitrag von Josef1 am 23. Mrz 2005, 15:17 bearbeitet]
hoersen
Hat sich gelöscht
#37 erstellt: 23. Mrz 2005, 17:33
sorry. das habe ich jetzt leider nicht verstanden. bin wohl zu unreif für solche themen aber was richard wagners musik jetzt mit den opfern der nazi-greuel zu tun hat, erschließt sich mir wirklich nicht. mann, mann hier werden ja zusammenhänge hergestellt...

trotzdem schöne ostern!

horst
AcomA
Stammgast
#38 erstellt: 23. Mrz 2005, 21:31
hallo hoersen,

es ist simpel zu verstehen: ihre lapidare formulierung kann auf überlebende des holocaust, und es gibt hierzulande einige von ihnen, verletzend wirken ! außerdem hat wagners antisemitismus und die funktionalisierung seiner musik nichts mit nationaler musik gemein.


gruß, siamak
hoersen
Hat sich gelöscht
#39 erstellt: 23. Mrz 2005, 23:24
danke für die belehrung,

aber wagner konnte nichts dafür, dass er 50 jahre nach seinem tod (möglicherweise) instrumentalisiert worden ist.

ferner halte ich wagner für einen der größten "nationalen", namentlich deutschen, orchestralen tondichter des 19. jahrhunderts, der die damalige dominanz der europäischen opernszene durch die italienische und französische oper überwunden hat. das kann man nicht wegdiskutieren und die latente verunglimpfung seiner werke und seiner anhänger führt übrigens genau zu den auswirkungen, die sie wahrscheinlich zu vermeiden versuchen. schade eigentlich, dass ursache und wirkung gerne verquickt werden. das kommt zu plakativ rüber und ist sofort erkennbar. habe mal wieder einiges dazugelernt...
ich breche hier lieber ab und beschränke mich zukünftig auf technische, hifi-spezifische beiträge.

h.
Uwe_Schoof
Ist häufiger hier
#40 erstellt: 11. Apr 2005, 19:17
Nationale Musik im politischen Sinn hat so viel Negatives bewirkt, dass man diesbezüglich sehr kritisch - und natürlich nationalpolitisch - betrachten und austauschen kann und auch muss. Dies ist die eine Sache, die andere ist die rein künstlerische. Für mich ist das Kriterium "nationale Aspekte" insofern reizvoll, als dass dies im positiven Sinn eine Abwechlung, eine Möglichkeit verschiedener Ausdrucksweisen bedeuten kann. Ich finde den Gedanken einfach gut, dass das "Nationale" in der Musik ein Teil und ein Aspekt der äußerlichen Verpackung innerlicher musikalischer Gedanken sein kann. Es gibt die Möglichkeit, innerste Gefühle und Gedanken, je nach kulturellem Hintergrund, auf verschiedene Weise auszudrücken (was z.B. auch bei verschiedenen Charakteren oder Stimmungen der Fall sein kann), so dass für uns Musikhörer eine breite Palette von Richtungen und Ausdrucksmöglichkeiten angeboten wird.

Dies ist natürlich nur einer von mehreren Aspekten, aber wie ich meine ein schöner und gewinnbringender.

Uwe
Tom_Sawyer
Stammgast
#41 erstellt: 11. Apr 2005, 19:52
Hallo Uwe,

kann deiner Ausführungen nur beipflichten. Allerdings warum nicht das Wort nationale mit dem Wort regionale ersetzen ?
Ein Obebayer hat recht wenig mit einem Ostfriesen gemeinsam.

Gruß

Johannes
Uwe_Schoof
Ist häufiger hier
#42 erstellt: 11. Apr 2005, 20:21
Dem kann ich wiederum beipflichten, Johannes.
Gruß, Uwe
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