Filas, Juraj

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Kings.Singer
Inventar
#1 erstellt: 27. Aug 2006, 22:09
Hallo Forum!

Des Längeren habe ich schon Google bemüht und bin leider nur auf weniger effektive Quellen gestoßen, um mehr über diesen zeitgenössischen Komponisten heraus zu finden.
Auch die Forumsuche nach dem Wort "filas" spuckte mir keine Ergebnisse aus.

Wahrscheinlich hätte ich auch mittelfristig nie von dem 1955 in der Slowakei geborenen Komponisten gehört, wenn wir nicht eines seiner Werke im November aufführen würden (sein erst vor Kurzem - 2002 - erschienenes Requiem, gewidmet den Opfern des Terrors in Anlehnung an den "11. September").
So außergewöhnlich dieses Requiem doch ist (den Begriff 'Neoromantik' habe ich bei meiner Suche aufgeschnappt), kann ich kaum erwarten, dass mir jemand hier im Forum viel dazu sagen kann, da es bis dato noch von keinem Chor incl. Orchester zu Gehör gebracht wurde. Falls sich allerdings doch schon jemand eingehender mit dem Werk befasst hat, bin ich über alle Informationen dankbar.

Vielleicht hat jemand hier im Forum Erfahrungen mit Filas' Werken gesammelt, am dankbarsten wäre ich allerdings für hintergründigere Informationen zu seinem Leben, da der Klappentext auf unserer Chorpartitur leider nur Eckdaten beinhaltet.

Viele Grüße,
Alex


[Beitrag von Kings.Singer am 27. Aug 2006, 22:09 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#2 erstellt: 29. Aug 2006, 07:41
Lieber Alex,

ich hoffe, dass der Mangel an Antworten auf Deine Anfrage bei Dir keinen falschen Eindruck hervorruft, denn ich bin mir sicher, dass das bisherige Schweigen nicht mit der Böswilligkeit der ansonsten überaus netten und hilfsbereiten Forumsmitglieder zusammenhängt, sondern eher darauf beruht, dass zu Juraj Filas wirklich nur wenige Informationen zu finden sind.

Mir sind bisher weder der Name noch die Musik dieses Komponisten begegnet, aber das besagt nicht viel. Aufschlussreicher ist, dass auch in der Neuauflage der MGG (Die Musik in Geschichte und Gegenwart, mit mittlerweile mehr als 30 Bänden die größte deutschsprachige Musik-Enzyklopädie) der Name weder im Sach- noch im Personenteil auftaucht; und auch Jean-Noel von der Weids Handbuch Die Musik des 20. Jahrhunderts nennt diesen Komponisten nicht. Ich werde nachher nochmal nachschauen, ob im New Grove, dem wichtigsten englischsprachigen Musiklexikon, etwas über Filas verzeichnet ist.

Ansonsten helfen im Moment wahrscheinlich wirklich nur Internet-Qellen, die Du aber sicherlich alle schon gefunden hast. Trotzdem liste ich einige halbwegs informative Seiten auf:

http://www.musica.cz/comp/filas.htm

http://www.editions-bim.com/composers/proddetail.php?prod=00076

http://www.musicabona.com/filas/cd/index.html


Herzliche Grüße,
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 29. Aug 2006, 07:42 bearbeitet]
Kings.Singer
Inventar
#3 erstellt: 29. Aug 2006, 09:08
Nun, dann fasse ich mal den kurzen Klappentext über ihn zusammen. Vielleicht motiviert es den einen oder anderen mal kurz inne zu halten, wenn er über den Namen Filas stolpert.


  • geboren 1955 in Kosice, Slowakei
  • Musikstudium am Prager Konerservatorium und der Musik-Akademie
  • Diplom für Komposition 1981 unter Prof. Bartos und Jiri Pauer
  • Preisträger bei bisher sieben Kompositions-Wettbewerben
  • schreibt Intrumental-, Kammer-, symphonische und Filmmusik (darunter eine in Salzburg 1989 prämierte Fernsehoper: "Memento mori")
  • sehr lyrische und emotionsgeladene Sprache (orientiert sich an europäischer Musiktradition)
  • schreibt Werke zum Großteil auf Bestellung
  • neben seiner kompositorischen Tätigkeit lehrt er in Prag an der Musik-Akademie


Soweit ich erfahren konnte, ist dissonante Musik nicht immer vorherrschend bei ihm. Das Requiem allerdings lebt von der Dissonanz, die nach ausgedehnter und gleichermaßen genialer Modulation oft wieder zu Konsonanz strebt.

Den Stichpunkt der lyrischen und emotionsgeladenen Sprache kann ich dabei nur unterstrichen. Hinzufügen möchte ich dazu auch die darauf ausgelegte extrem pregnante Rhythmik, die mit zahlreichen Akzenten ein - für mich - ganz neues Klangbild entstehen lässt (so geschehen beispielsweise im Dies Irae), sowie die Führung der Stimmen ins Extreme (Bass: Großes Des, Tenor: B', Alt: E'', Sopran: B'').
An diesen Stellen lässt Filas auch die 'klassische' Vierstimmigkeit kalt und baut den Chorsatz bis hin zur Neunstimmigkeit aus.
Dennoch erhält er beim Zuhörer dauerhaft das Gefühl auf einem Fundament der Harmonik/Konsonanz zu stehen, wozu er immer wieder kurze Sequenzen einschiebt, die sich "leichterer Kost" bedienen (z.B. im Offertorium: "Hostias et preces tibi, preces tibi Domine. Hostias et laudis offerimus, tu suscipe pro animbus illis, animabus illis, illis." ["Opfer und Gebet bringen wir dir, Herr, lobsingend dar, nimm es gnädig an für ihre Seelen, denen wir heut' gedenken: Lass sie, o Herr, vom Tode zum Leben übergehen!"] Woran sich das Sanctus als Fuge anschließt, in der Tradition und Neuerung konzentriert vereint sind.).


So weit die kurze Schilderung meiner bisher gewonnenen Eindrücke. Filas selbst hat sich angekündigt den Generalproben (oder einer der Generalproben) und evtl. auch dem Konzert beizuwohnen. Vielleicht ergibt sich ja im Zuge dessen die Möglichkeit, dass er uns mehr über seine Person erzählt.


[Beitrag von Kings.Singer am 29. Aug 2006, 09:49 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#4 erstellt: 29. Aug 2006, 11:32
Hallo Alex,

wie befürchtet schweigt sich auch die zweite Auflage des "New Grove" über Filas aus. Wir werden also darauf angewiesen sein, von Dir über seine Person und vor allem über seine Musik informiert zu werden!


Gespannte Grüße,
Aladdin
Kings.Singer
Inventar
#5 erstellt: 29. Aug 2006, 13:28
Werde die Proben auf jeden Fall bewusster angehen. Ansonsten müsstet ihr euch bis zum 18. November mit den bisherigen eher spärlichen Informationen begnügen.

Vielleicht ist ja sogar euer Interesse so weit geweckt, dass sich jemand die Uraufführung des Reuqiem anhören möchte. Termin dafür ist, wie gesagt der 18.11. - 20 Uhr im Dom zu Fulda.
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#6 erstellt: 12. Sep 2006, 14:06
Hallo!

Wenn man sich einen Eindruck von Filas' Musik machen will, kann man ja immerhin den Namen bei Amazon eingeben, es kommt dann eine Handvoll CDs zum Vorschein. Ich habe mir bis jetzt keine davon bestellt.

Herr Filas scheint bis jetzt als Komponist fast völlig unbekannt zu sein, und es würde mich nicht wundern, wenn er in 50 Jahren völlig vergessen ist. Das Requiem ist ja ganz schön, hat aber nichts wirklich neues zu sagen. Anfangs konnte ich das Stück überhaupt nicht leiden, weil es einerseits als ganz neu anerkannt werden will - daher das Anspielen auf aktuelle politische Ereignisse - andererseits aber praktisch nur aus Versatzstücken aus der Musikgeschichte besteht: Ständige "Dies irae"-Reprisen in wildem Tempo wie bei Verdi, lyrische Tenorsoli über Chorbegleitung wie bei Puccini, endlose Chorfugen wie bei Dvorak. Das modernste an diesem Stück scheint mir die "Sed signifer sanctus Michael"-Fuge zu sein, dank ihrer Ganztonleiter-Harmonik - und die Entdeckung, daß man Stücke aufgrund von Ganztonleitern schreiben kann, ist auch schon mehr als 100 Jahre alt. Mittlerweile habe ich mich an das Stück gewöhnt und finde es recht schön (wenn auch nicht das endlose Proben) - immerhin geht Herr Filas nicht ganz ungeschickt mit dem Malkasten der Musikgeschichte um und komponiert recht effektvoll.

Übrigens:
Kunden, die dieses Produkt (Juraj Filas) gekauft haben, interessierten sich auch für
- Penderecki, Credo
- Sandström, The High Mass

Ich glaube allerdings, daß diese beiden Herren in einer besseren Liga spielen als Herr Filas.

Liebe Grüße

Alexander
Kings.Singer
Inventar
#7 erstellt: 12. Sep 2006, 18:42
Ich kann den Punkt, dass das Stück als gänzlich neu verstanden werden will, nicht ganz nachvollziehen. Nur weil es wegen des 11.9.01 geschrieben wurde, muss das nicht unbedingt Aussagen über das Selbstverständnis des Stückes machen.
[Das Requiem ist im Übrigen nicht direkt den Opfern des 11. September 2001 gewidmet, sondern den Opfern des Terrorismus!]

Nur weil Ausschnitte aus dem Requiem eventuell an frühere Stile erinnern, muss das nicht unbedingt ein reines Wiederkäuen darstellen. Ich persönlich erkenne nicht unbedingt Komponisten wie Verdi, Puccini oder Dvorak im Requiem. Vielleicht aber durch einen eher oberflächlichen Vergleich.
Meiner Meinung nach besteht die Kunst des Komponierens darin, einerseits die Fundamente seines Schaffens zu achten (weshalb durchaus "alte" Stile ihren Weg in das Requiem gefunden haben), aber Neuerungen mit einzubauen (Ganztontechnik mag auch schon veraltet sein, aber gemessen an ihrer Popularität ist sie immer noch erschreckend neu).

Ein wenig Kritik klingt bei Dir an, indem du sein effektvolles Komponieren ansprichst. Ich finde "Effekthascherei" nicht negativ. Im Gegenteil: Geschickt eingesetzt kann sie einem Werk das I-Tüpfelchen aufsetzen.

Eine Aussage über die weitere Entwicklung von Filas Popularität erspare ich mir. Man kann sich darüber verhackstückeln aber letztendlich zählt das, was in 50 Jahren tatsächlich durch die Medien geht.


[Beitrag von Kings.Singer am 12. Sep 2006, 18:46 bearbeitet]
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#8 erstellt: 14. Sep 2006, 07:42
Nun, wie er das Stück verstanden haben will, kann ich natürlich nicht prophezeien, da ich den Komponisten nie getroffen habe. Selbstverständlich kann man aus der Widmung eines Stückes nicht unbedingt Schlüsse über die Aussage oder gar die Qualität eines Stückes ziehen. Beethovens Eroica war ursprünglich Napoleon gewidmet, das hat ihn bekanntlich später gereut, sodaß er das Titelblatt mit Napoleons Namen zerriß und eine ganz allgemeine Widmung schrieb. Der Musik hat das nicht geschadet, er sah sich auch nicht veranlaßt, jetzt etwa die Musik seiner Sinfonie zu verändern. (Übrigens hätte Herr Filas meiner Meinung nach genauso verfahren können, als die Aufführung des Stückes wegen seiner "politisch brisanten" Widmung platzte...)

Und natürlich ist auch das Verwenden alter Formen an sich nichts Verwerfliches. Es gab zu allen Zeiten der Musikgeschichte Komponisten, die sich meisterhaft der alten Formen bedienten, auch zu Zeiten, in denen diese Formen schon eigentlich nicht mehr der Mode der Zeit entsprachen, z. B. Bach, Brahms, Reger, Pfitzner. Allerdings hatten diese Komponisten in den alten Formen auch noch wirklich etwas neues zu sagen.

Juraj Filas' Requiem ist ein Stück, das man sich durchaus mit Genuß anhören kann. Aber meiner Meinung nach überwiegt in dem Stück doch ein zitathafter Charakter: Er zitiert die Romantik, tut so, als sei er selber ein Romantiker. Er benutzt die alten Formen nicht, um sie mit neuem, eigenen Leben aufzufüllen, sondern imitiert sie. „Modernere“ Erscheinungen wie ungewohnte Akkordrückungen, rhythmische Unregelmäßigkeiten und Akkorde mit akkordfremden Nebentönen können da meinen Gesamteindruck auch nicht mehr verändern. Ob das mit dem Begriff Neoromantik gemeint sein soll? Es kommt ja auch keiner auf die Idee, in der heutigen Zeit einfach mal "wie Mozart" oder "wie Bach" zu komponieren. Klar, es gab, wie schon angedeutet, auch immer mal wieder musikgeschichtliche Revivals, wenn z. B. Bruckner sich bei Palestrina anlehnt, wenn Reger bei Bach über die Schulter schaut, wenn Prokoffiev sich von Haydn und Stravinsky sich von Pergolesi inspirieren läßt. Aber diese Kompositionen versuchen nicht, eine vergangene Stilepoche wiederaufleben zu lassen, sondern tragen das Siegel ihrer Zeit und ihres jeweiligen Schöpfers. Vielleicht ist die Verneigung vor der Vergangenheit ja das besondere Merkmal des Schöpfers, mit dem wir es hier zu tun haben. Das Stück ist auf jeden Fall modern in dem Sinne, daß auch in anderen Kunstgattungen heute das oberste Ziel vieler Künstler nicht mehr die Umwälzung der althergebrachten Zustände ist (vielleicht auch, weil man nichts mehr findet, was nicht schon umgewälzt worden wäre) und sie stattdessen ihren Blick wieder zurückwenden – und auch keine Schwierigkeiten damit haben, sich bei früheren Epochen zu bedienen. Das muß nicht schlecht sein, ist aber für unsere Zeit sehr typisch – wir leben in einem Zeitalter der Beliebigkeit. Kunstskandale sind selten geworden, weil auch das Skandalöse heute kaum jemanden mehr aufregt. (Die Werke, die in der Vergangenheit Skandale auslösten, gehören heute meist zu den Klassikern.)

Juraj Filas’ Requiem will und wird ganz sicher keine Skandale auslösen – es will gefallen. Und es gefällt ja auch. Das hat es gemeinsam mit anderen heute sehr populären Musikstücken, z. B. der Musik von John Rutter, um die man ja kaum noch herumkommt. Diese Musik macht Spaß zu hören und zu singen, hinterläßt aber kaum eine bleibende Wirkung, sie ist wie Popmusik (vielleicht kann es sich Rutter gerade deshalb erlauben, ständig Stücke zu schreiben, die sich alle gleich anhören). Filas’ Musik ist nicht so poppig, aber wohl doch auf Gefälligkeit ausgelegt. Aber wahrscheinlich muß man so schreiben, wenn man beim breiten Publikum ankommen will. Denn, etwas plakativ formuliert, ist doch der Geschmack der breiten Masse, sofern sie nicht ohnehin „klassischer“ Musik mit einem Naserümpfen begegnet, ungefähr auf der Stufe, sagen wir, des späten Brahms stehengeblieben. Das habe ich an mir selbst erlebt, als ich zum ersten Mal Tristan und Isolde oder, etwas jüngeren Datums, Pfitzners Palestrina hörte und über die vermeintliche Modernität dieser Stücke erstaunt war. Zu ihrer Zeit waren diese Stücke wirklich modern (Tristan natürlich noch mehr als Palestrina), aber auch heute bleibt diese Musiksprache für den durchschnittlichen Hörer (und Nicht-Wagnerianer) doch ungewöhnlich – und das 100 bzw. sogar 150 Jahre nach ihrer Entstehung!

Nun ja – nun laßt uns mal gespannt sein auf die Uraufführung. Erst dann werden wir ja das Stück auch in seiner Gesamtheit zu Gehör bekommen. Ich hoffe, daß es eine ordentliche Aufnahme geben wird. Es ist auf jeden Fall etwas besonderes, ein so groß dimensioniertes Stück mit zur Uraufführung bringen zu dürfen. Die letzte Uraufführung des Domchores ist 12 Jahre her, aber das Stück war nicht besonders umwerfend.



Wo wir aber beim Thema moderne Chormusik sind, habe ich eine Empfehlung auszusprechen: Wer sich über die verschiedenen Komponisten und Stile unserer Zeit ein Bild verschaffen möchte, dem sei das „Requiem der Versöhnung“ zu empfehlen. Es handelt sich um eine Komposition zum 50. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkrieges. Die einzelnen Sätze des Requiems wurden auf die verschiedensten Komponisten aus allen damaligen Kriegsnationen verteilt, herausgekommen ist ein sehr interessantes und heterogenes Gemisch, das von eher traditionellen Kompositionen in dicken Mollakkorden bis hin zu regelrechten Geräuschkompositionen geht, in denen mit allen möglichen Mitteln Lärm produziert wird. Es wurde eingespielt von Helmuth Rilling.
amazon.de

Meinen persönlichen Geschmack treffen übrigens folgende moderne Chorwerke:

Sven David Sandström: The High Mass
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Krzysztof Penderecki: Credo
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Sehr beeindruckend, aber völlig anders: Pendereckis Lukaspassion
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Volker David Kirchner: Missa Moguntina
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jpm1
Neuling
#9 erstellt: 21. Sep 2006, 12:33
Über Google findet man vieles über Filas und noch mehr wenn man wirklich suchen will.

Interessant, dass hier eine Art Debatte entsteht wobei das Requiem, wovon gesprochen wird, noch gar nicht (mit Solisten und Orchester) aufgeführt worden ist.
Scheinbar ist das hier eine Auseinandersetzung zwischen Fulda Chormitglieder.

Will man über Filas's Stil sprechen, gut, aber bitte, vielleicht doch mit einer breiteren Kenntnis seiner Orchesterwerke und seiner Kammermusik.

Stil ist Geschmackssache und die Welt der Kunst hat viele Horizonten und ist vielfältig. Diejenigen die modernere Kunst bevorzugen, mögen die Gegenwart besser verkraften und ihre Einstellung (wie auch die der so wichtigen Kunst-Snobs, die eigentlich wenig davon verstehen, aber ganz "vorne" sein wollen) ist wichtig für die Zukunft.
Aber niemand ist am selben Ort zur selben Zeit,
und diese persönliche Position sollte nicht beurteilt werden, weil sie sich ändern kann. Desshalb braucht es ein wenig Bescheidenheit, Respekt und Grosszügigkeit. Kunst muss allen, wo sie auch kulturell und sozial stehen, zugänglich sein. Die Gesellschaft muss sich in diesem Bereich frei bewegen können, und jeder von uns (sei es Chorsänger/in, Musiker/in, Komponist/in oder Musikwissenschaftler/in) muss sich immer neue Horizonte erschaffen. Dazu braucht es Mut und Kultur (und diese Qualitäten sind eben nicht gleich verteilt).

Penderecki gefällt mir sehr, aber auch noch modernere bringen mir viele Anregungen. Und Juraj Filas wird vielleicht vielen Menschen helfen, sich weiter der Gegenwart zu nähern.

Hans
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#10 erstellt: 21. Sep 2006, 15:38
Ich bin keineswegs der Meinung, daß man über ein einzelnes Werk eines Künstlers nur dann diskutieren darf, wenn man auch andere Werke desselben Künstlers kennt. Ein Kunstwerk zeichnet sich normalerweise dadurch aus, daß es sich aus sich selbst erklärt – daß man es aus ihm selbst heraus interpretieren kann. Ein Kunstwerk, bei dem ich sozusagen erst die Fußnoten lesen muß, bevor ich überhaupt etwas damit anfangen kann, halte ich für fragwürdig, zumindest in jenem traditionellen Bereich der Kunst, in den sich auch Juraj Filas aufgrund des von ihm gewählten musikalischen Stils stellt. Es wäre wirklich seltsam, wenn ich mir einen Standpunkt zu einem bestimmten Stück nur aufgrund anderer Stücke bilden könnte. Ich bin mir sicher, daß ich z. B. von Wagners Tristan und Isolde auch dann tief bewegt wäre, wenn ich noch nie eine andere Oper von Wagner gehört oder ein Buch über ihn gelesen hätte. (Tatsächlich war Tristan das erste, was ich von Wagner kennenlernte, und ich war tief bewegt.) Darüberhinaus gibt es auch Komponisten, die ihren Ruhm auf bloß ein einziges bekanntes Stück bauen – wann hätte man jemals ein anderes Werk von Max Bruch gehört als sein Violinkonzert, und wer außer den echten Freaks kennt noch ein anderes Werk von Pergolesi als dem Stabat Mater?

Weiterhin wollte ich durchaus niemandem den Mund verbieten, habe dies auch nicht getan. Soviel „Bescheidenheit, Respekt und Großzügigkeit“ kann ich wohl noch aufbringen. Ich habe auch nicht jemandes Musikgeschmack beurteilt, sondern ein Musikstück. Es gehört zu einer Diskussion, verschiedene Meinungen zu äußern. Übrigens macht mir das Mitsingen bei diesem Requiem Spaß. Es ist doch etwas Erhebendes, Teil eines größeren Ganzen sein zu dürfen.

Interessierte Hörer können übrigens darauf hoffen, daß das Werk auch im Radio übertragen wird. Nähere Informationen sind aber noch nicht bekannt.
jpm1
Neuling
#11 erstellt: 22. Sep 2006, 12:42
Interessant bleibt, dass sich Menschen doch erlauben ein Werk zu beurteilen oder zu besprechen (ist das Bescheidenheit oder Respekt)?, von dem sie nur unbegleitete Bruchteile gehöhrt haben, ohne Orchester und ohne Solisten und auch den Komponisten nicht wirklich kennen.
Das ist ja an sich grossartig!
Hoffen wir, die sind nicht all zu mächtig in Erziehung, Politik oder Nahrungsmittel.
Hans

P.S. Ich hoffe, nach der Uraufführung öffnet sich eine Diskussion in einer höheren Liga. Eventuel bis dann...
Kings.Singer
Inventar
#12 erstellt: 24. Sep 2006, 09:51
Habe ich nur das Gefühl oder widerspricht dein zweiter Beitrag tatsächlich ansatzweise dem, was du in deinem ersten sagst?

Ich denke mir, dass auch die (nicht unbegleiteten) Bruchstücke, die Chor-Teile, doch einen Einblick in das erlauben, was in der Gesamtheit auf uns wartet. Meiner Meinung nach genug, um darüber zu diskutieren.
Dass sich jetzt hier zwei Mitglieder des selben Chores getroffen haben, mag Zufall sein - da das Requiem nun doch einige Jahre alt ist, hätte es auch schon anderen Leuten als den Fuldaer Provinzlern über den Weg laufen können.

Im Übrigen wollte ich Filas andere Werke keinesfalls außen vor lassen und habe deshalb aufgrund mangelnder Kenntnis auch um Informationen über diese gebeten.

Und zu guter letzt kannst du dir gerne abfällige Bemerkungen sparen... Auf die Diskussion in dieser "höheren Liga" kann ich jetzt allerdings getrost verzichten.
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#13 erstellt: 24. Sep 2006, 15:50
Ich bin gerne bereit, noch weitere Werke dieses Komponisten kennenzulernen. Leider bin ich zur Zeit etwas knapp bei Kasse, sodaß ich nicht unbedingt alle CDs bestellen kann, die ich möglicherweise einmal gerne durchhören würde. Aber falls sich jemand dazu bereit erklären sollte, mir diese Aufnahmen kostenlos zur Verfügung zu stellen - bittesehr, gerne. Wir könnten uns dann zumindest über diese Werke in einer Weise austauschen, die vielleicht in etwa einer Diskussion in einer höheren Liga entspricht.

Aber jetzt mal ganz ehrlich: Hier möchte doch jemand offensichtlich Denkverbote einführen. Das mag ich überhaupt nicht und kann es auch nicht verstehen. Als musikalischen Vorschlag empfehle ich das bekannte Lied "Die Gedanken sind frei".

Warum soll ich mir nicht über ein bisher nur fragmentarisch bekanntes Werk Gedanken machen dürfen? Es gibt sogar Menschen, die nehmen derartige (echte!) musikalische Fragmente und basteln daraus ganze Chor- oder Sinfoniesätze - Mozarts Requiem ist nichts anderes. Man denke auch an das Finale aus Bruckners 9. Sinfonie oder an Mahlers 10. Sinfonie.
Übrigens ist das bisher vom Filas-Requiem bekannte Fragment nicht gerade unbedeutend, da der Chor fast ständig dran ist. Und aus der Art des Chorsatzes geht der musikalische Stil des Komponisten doch meist schon recht deutlich hervor. Wenn ich z. B. mit dem Chor das Schicksalslied von Brahms übe, aber die Orchesterbegleitung noch nie gehört habe, würde ich doch auch nicht auf die Idee kommen, daß der Orchestersatz unter Umständen zwölftönig sein könnte, oder?
Kings.Singer
Inventar
#14 erstellt: 17. Nov 2006, 16:50
Für alle noch Interessierten, gibt es neuerdings auch eine kleine Internetseite über Juraj Filas: juraj-filas.com.

Schönen Tag noch und ein noch schöneres Wochenende,
Alex
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#15 erstellt: 22. Nov 2006, 09:57
Liebes Forum,

nun möchte ich auch meinen Senf dazugeben. Deswegen bringe ich jetzt den ersten Teil meiner Eindrücke der Uraufführung des Requiems des Prager Komponisten Juraj Filas (schön, oder? Vier Genitive hintereinander…); hier geht es ums Allgemeine, ein zweiter Teil wird noch folgen.

Nun ist das Werk uraufgeführt. Die Aufführung im Fuldaer Dom war ein sehr großer Erfolg, alle Beteiligten brachten durchweg (nach anfänglichen kleinen Koordinationsschwierigkeiten) sehr gute Leistungen. Die Zuhörer waren offenbar bewegt von den Musik und dankten es dem Komponisten und den Musikern mit minutenlangem Applaus und Jubel. Auch der Komponist zeigte sich nach der Aufführung sehr zufrieden, er nannte sie einen der schönsten Momente seines Lebens. Es war ein Ereignis, wie es in der Geschichte der Fuldaer Domchöre bisher noch nicht vorgekommen war.

Das Werk ist ein großangelegtes chorsinfonisches Stück über die Texte der katholischen Liturgie der Totenmeßfeier und steht in der Tradition berühmter Requiemvertonungen des 19. Jahrhunderts (Verdi, Dvorak). Allerdings wandelt Filas den Text leicht ab, indem er immer in der 1. Person Singular spricht, also statt „Requiem aeternam dona eis“ heißt es hier „Requiem aeternam dona mihi“ usw. Außerdem erweitert er den Text um die Vision des Johannes vom neuen Himmel und der neuen Erde und um die Verheißung Christi „Ich bin das Alpha und das Omega“. Der persönlichen Textfassung entsprechend beginnt das Stück auch nicht, wie üblich, mit einem Chorsatz, sondern einem Gebet des Solosoprans, in das der Chor erst später einstimmt. Stilistisch gehört der größte Teil des Werkes ins Ende des 19. Jahrhunderts, Juraj Filas spricht eine spätromantische Tonsprache. Spätromantisch ist auch die Besetzung, die außer dem Streicherapparat, wenn ich richtig gezählt habe, drei- bis vierfache Bläser, drei Schlagzeugspieler für Große Trommel, Becken, Triangel, Xylophon, Glockenspiel, Röhrenglocken und Vibraphon erfordert; der Pauker hat vier Kesselpauken zu bedienen; außerdem haben Harfe und Celesta bedeutende Anteile. Die Vokalsolisten sind Sopran, Tenor und Bariton; der Chor war in der Uraufführung mit ca. 150 Sängern besetzt, 200 wären noch besser gewesen, da er oftmals laute Orchestertutti zu übertönen hat und sich dazu noch sehr oft acht- bis neunstimmig aufspaltet.

Verschiedene Stilmerkmale sind im gesamten Stück anzutreffen. Ich zähle einfach mal auf, was mir so aufgefallen ist:
-Rhythmus: Herr Filas hat sehr viele rhythmische Feinheiten in dem Stück ausgetüftelt. Es fängt damit an, daß es praktisch keinen Satz in dem Stück gibt, der in einem einheitlichen Takt durchgeht, ständig gibt es Taktwechsel. Auch hat er in der Partitur die Akzente sehr genau bezeichnet und wollte auch, daß die Ausführenden diese Akzente sehr deutlich setzen. In den Proben hat er oft an die Akzente erinnert und eine deutlichere Akzentuierung verlangt. Der Rhythmus gab vielen Stücken erst den ihnen eigenen Charakter, z. B. das Unruhige des Dies Irae oder die vielen Synkopen des Sanctus, die ihm erst den richtigen „Drive“ verliehen.

-Harmonik: Die Harmonie im Requiem verläuft oft nach der Regel „Jeder Akkord kann auf jeden Akkord folgen“. Filas liebt unvermittelte Akkordwechsel in alle möglichen, auch entfernten Tonarten, oft über einen Tritonus hinweg. In den ruhigeren, lyrischen Partien des Stückes kommen aber auch traditionelle Akkordfortschreitungen à la I-IV-V-I vor. Die Harmonik basiert zumeist auf traditionelle Dur- und Mollakkorden, die aber durch harmoniefremde Nebentöne chromatisiert werden. Z. B. fügt er einem Durakkord gerne einen Tritonus, eine Septime oder None oder alles zusammen hinzu. Trotzdem lassen sich die meisten Sätze einer bestimmten Tonart zuordnen.

-Instrumentation: Das Stück ist brilliant orchestriert. Nur selten darf sich das Orchester auf eine begleitende Funktion zurückziehen, meistens agiert es gleichberechtigt mit den Solo- und Chorsängern. Man kann fast schon von einer Sinfonie mit Chorbeteiligung reden. Oft kommt es zu großen, auftrumpfenden Orchestertutti mit viel Schlagzeugbeteiligung, dickem Bläsersatz, Fanfaren und wilden Streicherläufen. Zugegeben: Manchmal erschien es mir etwas zu dick aufgetragen, zumal am Ende, wo das Orchester den Ruf des Chores „Libera me! Amen!“ mit Beteiligung sämtlicher Schlagzeuger, Trompetenfanfaren und trillernden Violinen mit Piccoloflöte beantwortet – das musikalische Äquivalent eines großen Ausrufezeichens. So könnte vielleicht Richard Strauss geklungen haben, wenn er Kirchenmusik geschrieben hätte. Nun ja – da Filas ein „Gebet der Hoffung“ (so der lateinische Untertitel des Werkes) schreiben wollte, konnte er nicht so depressiv enden wie Verdi oder Dvorak. Stellenweise erschien mir die Orchestrierung ein bißchen zuviel des Guten, stellenweise erinnerte sie mich auch an Filmmusik. (Juraj Filas hat ja auch schon Filmmusik komponiert, auf diesem Gebiet kann er sicher glänzen.) Natürlich gibt es auch leise Stellen, eine der Lieblingsbesetzungen von Filas für diese Stellen sind Streicher, Celesta und Vibraphon, während der Rest schweigt. Aus der Sicht des Chorsängers kann ich sagen: Wir haben die größte Lautstärke gegeben, die uns möglich war, und wurden doch nicht immer richtig gehört, weil das Orchester einfach sehr, sehr laut war.

-Sinfonische Behandlung von Themen: Das Requiem besitzt eine Zahl von Hauptthemen oder Leitmotiven, die immer wieder in dem Stück auftauchen.

-Große sängerische Gesten: Den Sängern waren immer wieder große, opernhafte Nummern zugeteilt. Man war an Verdi oder Puccini erinnert. Dazu paßt ein Zitat aus einem Zeitungsinterview, in dem Juraj Filas sinngemäß sagte, mit einem anderen Text wäre das Stück eine Oper geworden. Dazu paßt auch, daß Filas früher selbst Opernsänger war.

Die Bandbreite des Ausdrucks reicht von meditativen und lyrischen Momenten bis zu gewaltigen, dramatischen Klangballungen apokalyptischen Ausmaßes. Die Tonsprache als gemäßigt modern zu bezeichnen wäre wohl nicht richtig, sie ist spätromantisch; lediglich die Fuge „Sed signifer sanctus Michael“ unternimmt mit ihrer Mischung aus Chromatik und Ganztonharmonik einen Ausflug ins 20. Jahrhundert. Ich kann nicht umhin zu wiederholen, daß mich die Musik an Verdi, Puccini und Dvorak erinnert. Wagner wurde auch erwähnt, das kann ich aber nicht nachvollziehen. Man soll aber nicht glauben, ich könnte das Stück nicht leiden (schließlich kann ich ja auch Verdi, Puccini und Dvorak leiden), es ist ein sehr schönes Stück, auch bewegend und mitreißend, es birgt auch einige Gänsehaut-Momente. So ging es auch den meisten Zuhörern, denn der Applaus war lange und jubelnd. Es ging vielen Zuhörern sichtlich zu Herzen, und ich bin auch überzeugt, daß es Herrn Filas von Herzen kam.

Trotzdem kann ich die musikalische Stilrichtung der Neoromantik nicht wirklich verstehen. Die Romantik war eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts, die auf dem musikalischen Gebiet Ausläufer bis ins 20. Jahrhundert hatte. Aber die Welt hat sich völlig gewandelt, die kulturellen und politischen Grundlagen, auf denen die Romantik existierte, gibt es heute nicht mehr. Es würde ja auch heute niemand auf die Idee kommen, Gedichte zu schreiben wie Eichendorff (es sei denn gewisse selbstüberschätzende Heimatdichter, bei denen dann aber Kitsch herauskommt). Die musikalische Romantik ist doch durch Menschen wie Wagner, Liszt, Bruckner, Mahler, Pfitzner, Strauss, auch den frühen Schönberg bis in die letzten Winkel ausgelotet worden, da kann es doch eigentlich gar nichts mehr zu entdecken geben. Die Romantik hat ihren Dienst geleistet, sie hat Großes hervorgebracht, aber sie kam zu einem Punkt, an dem sie sich nicht mehr weiterentwickeln konnte. Überspitzt wurde mal gesagt, die Romantik habe schon alle schönen Klänge aufgebraucht, jetzt müsse man eben die Häßlichen bringen. Das ist natürlich so auch nicht richtig, da auch die modernen Stilrichtungen schöne Musik hervorgebracht haben. Aber ganz abgesehen davon ist die Aufgabe der Kunst nicht, schön zu sein; Aufgabe der Kunst ist es, wahr zu sein. Jedenfalls kann ich nicht ganz verstehen, warum man jetzt wieder einen Schritt in die Vergangenheit tut. Haben wir denn etwa schon alles entdeckt, was die Romantik zu bieten hatte? Kommen die neoromantischen Komponisten nicht 100 Jahre zu spät? Aber vielleicht führt das jetzt alles zu weit.

Alles in allem kann ich sagen, daß das Requiem ein bewegendes und mitreißendes Stück war, das ich gerne gesungen und gehört habe. Ich freue mich schon jetzt auf die Wiederaufführung, wenn sie denn zustande kommen sollte. Ich wünsche auch dem Komponisten Juraj Filas, den wohl jeder als sehr sympathischen Menschen erlebt hat, daß sein Stück und auch er selbst weiterhin Erfolg hat.
Kings.Singer
Inventar
#16 erstellt: 22. Nov 2006, 16:54
Sehr gute Betrachtung / Analyse. Auch mir hat es sehr viel Spaß gemacht, obwohl meine bis dato leichte Erkältung mir während des Singens so ihre Streiche spielte...

Ein großartiges Werk, das mehr auf den Gesichtspuntk "Effekt" ausgelegt ist, als ich bisher dachte. Dennoch lohnt sich eine erneute Aufführung (die hoffentlich im nächsten Jahr stattfindet - hoffentlich mit unserer Beteiligung ^^), denn - wie baum5103 schon richtig sagte - es hat fast ausnahmslos jeden Zuhörer bewegt.
Außerdem werden wohl bis zur Wiederaufführung hoffentlich auch die letzten kleinen Fehler im Chor behoben sein.
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#17 erstellt: 22. Nov 2006, 17:18
Ich habe ganz vergessen etwas zu erwähnen: Interessierte können sich unter www.osthessen-news.de Hörbeispiele aus dem Requiem anhören (mp3-Datei), die Tonqualität ist zwar schlecht, aber man bekommt einen Eindruck.

Herzliche Grüße

Alexander
sound67-again
Gesperrt
#18 erstellt: 22. Nov 2006, 17:23

The_Show schrieb:
es hat fast ausnahmslos jeden Zuhörer bewegt.


Aha. Wie stellt man so was fest?

Hast Du mit allen Zuhörern gesprochen, oder waren es nur 3?

Gruß, Thomas
Kings.Singer
Inventar
#19 erstellt: 22. Nov 2006, 22:15
@ sound67:

Ich frag mich warum man sowas erläutern muss, aber gut: Man selbst spricht mit Leuten, die da waren. Andere Mitwirkende sprechen mit Konzertbesuchern. Man spricht mit den anderen Mitwirkenden. Das zusammengefasst lässt eine Vermutung über den Eindruck, den die Gesamtheit aller Konzertbesucher hatte, zu. Mathematik, Stochastik.
baum5103
Schaut ab und zu mal vorbei
#20 erstellt: 26. Nov 2006, 22:29
Ich lasse hier nun noch meine Einzelbetrachtungen zum Requiem von Juraj Filas folgen:

Die einzelnen Sätze stellen sich wie folgt dar:


I. Introitus & Kyrie:
Das Stück beginnt mit einem Motiv, das sich durch das gesamte Requiem ziehen wird, einer absteigenden Streicherfigur, wobei bei diesem Abstieg auch einzelne Harmonietöne (Tonart: c-Moll) liegenbleiben (vgl. die „Nacht“ aus der Alpensinfonie von Richard Strauss). Der Solosopran beginnt mit einem innigen Gebet um ewige Ruhe: „Requiem aeternam dona mihi, Domine“. Der Chor steigt ein und führt die Orchesterbegleitung (lange, liegenbleibende Haltetöne; absteigende c-Moll- Tonleiter im Baß) fort. Nach einer weiteren solchen Episode ohne Chor und einer Überleitung beginnt der Bariton mit dem Kyrie, einer groß ausgespannten, melismatischen Melodie, die mich an gregorianische Choralmelodien erinnerte, allerdings im sinfonischen Kleid des 19. Jahrhunderts. (Meine Frau fühlte sich durch die langen Melismen eher an spanische Musik erinnert.) Dieses Kyrie ist mein Lieblingsstück wegen dieser großen, starken, sich auf und abschwingenden Melodie, der edlen Orchesterbegleitung (zuerst hauptsächlich Akkorde, später eine charakteristische absteigende Begleitfigur in Violinen, Flöte und Horn), und des großen Atems des Stückes, der durch die langsame Steigerung vom Solobariton zum Terzett entsteht.


II. Sequentia (Dies irae)
Nun beginnt ein langer Abschnitt, der oft sehr an Verdi erinnert. Wie Verdi versteht Filas das Gedicht über den Jüngsten Tag als einen großen, dramatischen Opernakt. Er teilt auch den Text auf genau dieselben Textabschnitte auf wie bei Verdi (Dies Irae: Chor, Mors stupebit: Baßrezitativ, Rex tremendae: Chor und Solisten, Recordare: Sopranarie (bei Verdi Duett), Ingemisco: Tenorarie, Confutatis: Baßarie). Ebenso wird das Stück wie bei Verdi durch Dies-irae-Themenreprisen zusammengehalten, die auch an genau denselben Textstellen wie bei Verdi erfolgen. Eine weitere Reprise erfolgt später, wieder wie bei Verdi, im „Libera me“).

Er beginnt das Dies irae mit einem großen, zupackenden und schier nicht enden wollenden Chorsatz und wilder Orchesterbegleitung, der die im Text geschilderten apokalyptischen Geschehnisse drastisch darstellt. Er vertont den Text mehrfach in drei hintereinander folgenden Abschnitten, von denen die ersten beiden eher auf die rhythmische Wucht bauen, der letzte auf eine Sopranmelodie, die von den anderen Chorstimmen begleitet wird (alles im ff) – also wieder ähnlich wie bei Verdi. Ein plötzlicher Durakkord im Orchester veranlaßt den Tenorsolisten zu einem Gebet um Rettung: „Salva me“. Der Chor steuert einige Akkorde bei, es geht aber schnell weiter zur Wiederholung des „Dies-irae“-Chores, diesmal aber auf den Text „Liber scriptus“ und mit einem längeren Schluß.

Der Bariton beginnt mit den Hörnern: „Tuba mirum spargens sonum“, und der Chor fällt mit einem seltsamen dissonanten Akkord ein. Der Bariton führt die Szene weiter und endet leise in tiefer Lage. Nun folgt der stockende Chorsatz „Quid sum miser“. Der Chor bringt den Text gepreßt, fast flüsternd, durch Pausen hinter jeder Silbe unterbrochen vor.

„Rex tremendae“ wird durch den Männerchor mit Bläsern angestimmt, alle anderen stimmen mit ein. Nach alter Sitte wird das Wort „Rex“ durch punktierte Rhythmen charakterisiert, die Bitte um Rettung „Salva me“ durch lyrische Melodien der Solisten und des Chores, später aber intensiviert durch laute akkordische Rufe.

„Recordare“ ist ein inniges Soprangebet, vergleichbar dem Anfang des Requiems. Es basiert größtenteils auf Streicherfarben.
„Ingemisco“ ist eine Tenorarie mit eigenartiger Stimmführung, die wohl die Zerknirschung des reumütigen Sünders ausdrücken soll.
„Confutatis“ ist eine Zornarie des Baritons mit starker Orchesterbeteiligung, besonders Pauke und Xylophon tun sich hervor. Der Mittelteil, der wieder von der Zerknirschung des Sünders spricht („Oro supplex et acclinis“), ist ruhiger. Am Ende bricht der Chor wieder mit dem „Dies irae“ herein.

„Lacrymosa“ für Sopran und Chor beschwört wieder die Stimmung des ersten Satzes herauf, da auch dieselben Motive verwendet werden, nur diesmal nicht legato und getragen vorgetragen, sondern die einzelnen Silben sind wieder durch Pausen getrennt. Stark akzentuiert und mit großem Crescendo endet das Stück mit dem Chor-Amen.


III. Offertorium
Das Offertorium beginnt langsam und meditativ („Domine Jesu Christe“), wie man es von einem Offertoriumsgesang erwarten würde. Jedoch ist es mit der Ruhe bald vorbei, und der bereits von den Solisten gesungene Text wird Grundlage eines plötzlich einsetzenden, rasant-virtuosen Chor- und Orchesterstücks, das den Eindruck einer Sturmmusik macht. Von einfachen Quint-Quart-Klängen entwickelt es sich zu massiven Akkordballungen, das Marschtempo der darauf folgenden Fuge ist bereits vorgezeichnet. Assistiert von Hörnerfanfaren skandiert der Chor wiederholt „Libera! Libera!“ Spätestens hier ist dem Hörer klar, daß dieses Werk nicht für eine liturgische Aufführung gedacht ist – man kann sich kaum vorstellen, daß in einer Messe sich jemand während der Gabenbereitung mit einem solchen Lärm wohlfühlen könnte. Ich habe daher lange gerätselt, was den Komponisten bewogen haben könnte, diesen Text als einen so lauten, bewegten, auftrumpfenden Satz zu komponieren. Mittlerweile glaube ich, man versteht dieses Offertorium am besten, wenn man es (nach der Dies-Irae-„Oper“) als eine Art sinfonische Dichtung mit Chor versteht. Den Anfang macht der meditative Solistensatz – der Mensch als Individuum betet flehentlich zu Gott. Dann der plötzliche, ruppige Tempowechsel (Allegro agitato) – der Mensch sieht plötzlich in eine andere Wirklichkeit, vielleicht tut er einen Blick hinter die Himmelstür, wo die Engel und Heiligen ihren Herrn Jesus Christus lobpreisen – mit dem Schall der Hörner, mit Harfe und Zither, mit Pauken und Tanz, mit Flöten und Saitenspiel, daher der drängende Charakter des Stückes und das unaufhörliche Orchestertutti, das von einem Höhepunkt zum nächsten eilt. Der Mensch steigt mit ein und bittet nun lauthals um Befreiung – daher die wiederholgen „Libera!“-Rufe. Der Höhepunkt liegt am Ende dieses Chorsatzes: „Libera nos de profundo lacu!“
Die Musik beruhigt sich, und nun folgt Gottes Antwort auf das drängende Gebet der Menschen: Er schickt seinen obersten Befehlshaber, den Erzengel Michael los, um das Böse zu bekämpfen und die erlösten Menschen heimzuholen. Das wird dargestellt in der in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlichen Fuge „Sed signifer sanctus Michael“. Diese Fuge hat wegen ihres zackigen, akzentuierten Themas etwas marschartiges, militärisches. Auch wegen der ausgiebigen Verwendung von Chromatik und Ganztonleitern bietet sich dem Zuhörer trotz der strengen Fugenform ein wilder, chaotischer Eindruck. Man kann also sagen, daß diese Fuge ein chorsinfonisches Schlachtengemälde darstellt, was auch mit dem Text übereinstimmt: Michael, der Anführer der himmlischen Heerscharen befindet sich im Kampf mit den Mächten des Bösen. Am Ende der Fuge steht eine fulminante Reprise des vorherigen „Domine Jesu Christe“-Themas: Christus hat über die Mächte der Finsternis gesiegt.
Daher darf sich nun die Musik beruhigen und als Ausklang das schlichte „Hostias“ des Tenors und des Chors anschließen. Die Michael-Fuge war übrigens das modernste, was die Partitur zu bieten hatte, und das schwierigste Stück für den Chor.


IV. Sanctus
Das Sanctus schließt sich unmittelbar an. Es handelt sich ebenfalls um eine Fuge, allerdings von völlig anderem Charakter. Nach dem wilden, unregelmäßigen Michael-Thema stellt sich das Sanctus-Thema zunächst als Fugenthema von eher klassischen Zuschnitt dar: ein diatonisches, klar gegliedertes Thema, das nur aus halben und Viertelnoten besteht – am Anfang ein dreimal, und jedesmal auf einer höheren Tonstufe wiederholter Quartsprung in Halben, danach dreimal eine abwärtsgerichtete Dreiklangsbrechung in Vierteln. Aber der Schein trügt, in Wirklichkeit ist die Fuge nämlich viel unregelmäßiger als die Michael-Fuge. Denn das Sanctus-Thema moduliert ständig, sodaß man nicht voraussagen kann, in welcher Tonart die jeweils nächste Stimme einsetzen wird. Ständig wird die Fuge unterbrochen von synkopierten „Benedictus“-Rufen, nach denen der Baß wieder von neuem das Fugenthema anstimmen muß. Schließlich singen Tenor und Sopran mit Chorbegleitung das „Pleni sunt coeli“ als lyrisches Intermezzo. Die darauf folgende letzte Fugendurchführung steigert sich bis zum laut skandierten letzten Benedictus-Ruf, wonach Chor und Orchester mit einem einzigen, äußerst lauten „Hosanna in excelsis“ beschließen. Der Motor dieser Fuge ist der Rhythmus, die ständige Offbeat-Betonung, die der Fuge beinahe etwas poppiges verleiht, und die ständige Modulation durch diationische Akkorde.


V. Agnus Dei
Das Agnus Dei beginnt ungewöhnlich laut und mit punktierter Bläserbegleitung, die sich leicht, wenn sie zu laut genommen wird, aggressiv anhören kann. Warum das Agnus Dei, sonst eher ein meditativer Satz, hier so laut und rhythmisch prägnant ist, habe ich nicht ganz verstanden. Vielleicht soll es die drängende Bitte des Menschen um Frieden veranschaulichen.


VI. Lux aeterna
Es handelt sich um eine Wiederaufnahme der „Requiem“-Musik vom Anfang des Stückes, diesmal als (beinahe) A-cappella-Satz mit Solosopran vorgetragen. Das Orchester steuert bloß einige Vibraphontöne und Colla-parte-Streicher bei.


VII. Libera me
Mit dem letzten Satz des Requiems sind wir wieder zurück in Italien. Zu Anfang entwickelt sich aus der Orchestereinleitung eine leidenschaftliche Tenorarie, die frappierend an Puccini erinnert. Man könnte diese Arie ohne Stilbruch in den dritten Akt der Tosca einfügen und würde dabei schon die Ansage des Klassikradio-Moderators im Ohr haben: „Hören sie nun das Gebet des Cavaradossi aus dem dritten Akt der Oper Tosca von Puccini…“ Die Arie erweitert sich zum Terzett, in das der Chor (nun sind wir wieder bei Verdi) mit seinem „Dies irae“ hereinbricht. Nach dem Schluß dieses Chorsatzes und acht weiteren Solistentakten bessert sich die Stimmung merklich, denn wir sehen jetzt „una visione mistica“ und hören dabei, wie Johannes einen neuen Himmel und eine neue Erde sieht; die Stimme Christi singt „Ego sum Alpha et Omega“, das ganze in einem hübschen diatonischen Satz. In diesen steigt der Chor mit den Worten „In Paradisum deducant te angeli“ ein. Wie eigentlich zu erwarten war, gerät dieser Satz nicht meditativ, sondern affirmativ-triumphal, und so endet das Stück auch: Auf den Ruf des Chores „Libera me! Amen!“ antwortet das Orchester im vollen Tutti mit Trompetenfanfaren, Tusch und trillernden Violinen und Flöten, kriegt aber noch die Kurve zu einem Decrescendo und endet im Piano.
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