Reger, Max - die Streichquartette

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 04. Jan 2012, 16:50
Seit heute bin ich im Besitz dieser Box:

jpc.de

Nun, Günther ( Hörbert) und Frank ( Hüb) haben mir diese Box empfohlen, viel anderes wird es sowieso nicht geben.

Ich habe heute gleich mal das größte und gewaltigste dieser Streichquartette, das Opus 74 gehört. Der erste Satz hinterließ mich beim ersten Hören überfordert zurück, aber die anderen drei Sätze gefielen mir recht gut, immer wieder blitzte da was auf. Also ich höre das wieder, habe aber mal diesen Thread gegründet, um über diese Streichquartette ins Gespräch zu kommen.

Gruß Martin
AladdinWunderlampe
Stammgast
#2 erstellt: 04. Jan 2012, 23:12
Hallo Martin,

Max Regers Streichquartett d-Moll op. 74 ist in der Tat ein ziemlich sperriges Stück, das in seinen ausufernden Dimensionen und seiner komplexen Tonsprache wohl in enger Nachbarschaft mit César Francks Streichquartett D-Dur und insbesondere Arnold Schönbergs Streichquartett Nr. 1 d-Moll steht.

Dass Dich der Kopfsatz beim ersten Hören "überfordert" hat, ist angesichts seiner gewaltigen Ausdehnung wahrlich keine Schande. Merkwürdigerweise geht es mir bei diesem Stück aber bis heute genau anders herum: Das eröffnende Allegro agitato e vivace (übrigens angesichts einer weitgehend eher gemessenenen musikalischen Gangart eine seltsam übersteigerte Tempovorschrift, wie sie sich bei Reger zum Leidwesen der Ausführenden indessen häufig findet) hat mich kompositorisch immer besonders überzeugt - vor allem, weil er hier mit wirklich sehr charaktervollen, deutlich unterscheidbaren und - man wagt es bei Reger kaum zu sagen - prägnanten thematischen Gedanken arbeitet und weitgehend auf jene neobarocken Floseln und Füllsel verzichtet, in die er sich in weniger inspirierten Momenten manchmal flüchtet. Beeindruckend auch die - für Reger auch nicht unbedingt typische - radikale Ausdünnung des Satzes an einigen Stellen, so, wenn nur noch einzelne Pizzicato-Akzente in einem desolaten, leeren Raum zu stehen scheinen, oder wenn am Ende der Exposition überraschend über einem Orgelpunkt eine seltsame, zwischen zerbrechlicher Melancholie und romantischem "Volkston" eigenartig schwebende Episode eingefügt wird; Reger verbindet gerade in diesem Satz für meine Begriffe Ausdrucksregionen, die er ansonsten nur selten berührt.

Größere Probleme habe ich anfangs mit dem pseudo-rokoko-artigen Thema des langsamen Variationensatzes gehabt; ich habe diese scheinbare Naivität, die sich auch in Stücken wie den Sonatinen für Klavier und manchen Liedern Regers findet, ehrlich gesagt immer als ein bißchen kunstgewerblich empfunden. Um so großartiger finde ich freilich, was Reger in den nachfolgenden Variationen aus diesem Thema macht.

Soviel auf die Schnelle für heute an ersten ungeordneten Gedanken und Erinnerungen an ein Stück, das ich seit gut fünfzehn Jahren immer mal wieder mit großem Interesse höre, ohne mich doch jemals in der Tiefe mit ihm auseinandergesetzt zu haben, die es eigentlich verdiente.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 04. Jan 2012, 23:13 bearbeitet]
Hörbert
Inventar
#3 erstellt: 05. Jan 2012, 10:01
Hallo!

Du konntest es mal wieder nicht lassen. Fange besser mit den beiden recht leichtverständlichen Werken Op. 109 und Op.121 an um dich in Regers Tonsprache einzufinden.

Op. 74 ist in der Tat ein harter Brocken, zudem gerade beim Berner Streichquartett noch das interpretatorische Herzstück des Zyklusses.

Gerade der Kopfsatz mit seiner schwankenden Tonalität, der auf kleinsten Raum zusammengedrängten Themenvielfalt und dem -selbst für Reger- düsteren Tonfall sollte eigentlich jeden der diese Musik hört überfordern, insoweit überrascht das mich nicht. Die drei folgenden Sätze wirken dagegen geradezu wie ein Appendix, einzig der Variationensatz kann hier noch ein wenig das Gleichgewicht halten.

Ein ähnliches -wenn auch im kleinerem Maße-, geartetes Hörerlebniss wird dich wohl bei Op. 54 Nr.1 erwarten.

Aber ich denke mal das dich gerade Op.74 -wenn du dich einmal reingehört hast-, nicht mehr loslassen wird, zumindesten bei mir war das so und nach all den Jahren gehört es immer noch zu den Werken die ich regelmäßig höre. Op.74 ist für mich seit etwa 30 Jahren zu einem stetigen Begleiter im Leben geworden.

MFG Günther
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 05. Jan 2012, 15:34
Hallo Aladdin, hallo Günther,

also ich habe Opus 74 heute noch mal gehört. Und diesmal hat es auf mich einen noch größeren Eindruck gemacht. Gerade vom ersten Satz war ich ungemein gefesselt, diese Unisono (?)stellen am Anfang und am Schluß, die Lyrik vieler Passagen, die mich gelegentlich fast an "Verklärte Nacht" von Schönberg erinnern, der Wechsel von langsamen und schnellen Passagen, eine kleine Fuge ( wenn ich das richtig gehört habe) mittendrin, ein träges Pizzikato des Cellos, wo irgendwie gar nichts passiert, außer ein paar Pizzikatotönen (Aladdin hat das sehr schön beschrieben) irgendwann. Also ich fand es diesmal ungemein fesselnd, nur der Logik der Musik konnte ich noch nicht so folgen - aber das kommt. Den zweiten Satz finde ich unmittelbar peppig und einprägsam. Der Variationssatz ist schön und das Finale wirklich sehr erfreulich.

Also ich sage mal: Wenn die übrigen Quartette ungefähr die Höhe des Opus 74 haben, dann ist diese Box für mich eine ganz große Entdeckung. Nur beim ersten Hören hat mich der erste Satz eben vollkommen überfordert.

Danke an Günther für den Hinweis mit Opus 109 und 121. Der Reklamführer lobt besonders Opus 109, das angeblich das beliebteste Streichquartett von Reger sein soll, sagt aber auch daß 121 sehr sperrig sein soll, so nach dem Motto "für den Kenner". Aber ich werde mir auch Opus 121 unbefangen anhören.

Ich hoffe, wir bleiben über die Musik im Gespräch.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#5 erstellt: 05. Jan 2012, 15:55
Hallo!

Ganz gewiss, nun, Op.74 ist ohne wenn und aber die Krone von Regers Quartetten. M.E. eines der bedeutesten Streixchquartette der tonalen Ära überhaupt.

Als sperrig würde ich Op. 121 nicht bezeichnen, sowenig wie Op.109 als eingängig. Nicht umsonst wird Reger relativ selten gespielt, selbst fast 100 Jahre nach seinem Tod nimmt sich kaum jemand seiner Musik an.

Die beiden letzten Quartette sind weniger schroff und nehmen sehr viel mehr Rücksicht auf die Interpreten und die Zuhörer als die ersten drei Exemplare.

MFG Günther
Martin2
Inventar
#6 erstellt: 05. Jan 2012, 19:56
Hallo Günther,

ja, es ist bedauerlich, daß Reger heute noch so wenig rezipiert wird. Ich habe heute sein Streichquartett Opus 74 zum dritten mal gehört und ich bin nachwievor begeistert.

Was mich an dieser Musik anzieht, ist gewissermaßen der "frühmoderne" Ton. Mich wundert es überhaupt nicht, daß - wie Joachim schrieb - Reger in der Wiener Schule sehr intensiv rezipiert wurde.

Wiegesagt: Reger ist eine interessante und schillernde Figur und einige Stellen aus dem Opus 74 finde ich schlicht und ergreifend zauberhaft.

Reger ist wiegesagt schwer zugänglich, aber was mich gewissermaßen reizt ist das Frühmoderne - nie hat man bei Reger den Eindruck einer gewissermaßen sentimentalen Anhänglichkeit an die Spätromantik, sondern erstaunlicherweise ist seine Musik viel frischer, viel erfrischender, als seine Rezeption als "schwer zugänglicher Spätromantiker" glauben machen will.

Gruß Martin
Martin2
Inventar
#7 erstellt: 06. Jan 2012, 03:22
Also ich habe mir mittlerweile auch Opus 109 und Opus 121 angehört. Daß die "zugänglicher" wären als Opus 74, wie Günther schrieb, kann ich nicht finden. Opus 109 habe ich zweimal gehört - die Faszination des Opus 74 wollte sich bei mir nicht einstellen, ich war etwas enttäuscht. Wieder sind es die Scherzosätze und die Finale, die entschieden zugänglicher sind, aber die 1. und die langsamen Sätze machen Schwierigkeiten.

Es ist aber sicher nicht der Mangel an memorablen Ideen allein, der Schwierigkeiten macht. Mir ist es speziell schon beim Schluß des Finales des Opus 74 aufgefallen, wie dieser Satz fast abrupt abbricht. Man hat fast den Eindruck: Nanu, kommt da noch was? Aber es kommt da nichts mehr, das ist das Ende. Noch bei einem anderen Satz der späten Streichquartette ist mir das aufgefallen. Nun, wer die Streichquartette der Wiener Schule kennt, ist an solche Überraschungen gewöhnt, atonale Musik kennt keine "Schlußkadenz", woher auch. Ich finde es dann erstaunlich, dieses Gefühl eines abrupten Endes bei tonaler Musik wiederzufinden. Nun ist die Zelebrierung der Schlußkadenz, dieses gewissermaßen melodramatische Zulaufen auf den Schluß, das bei Beethovens 5. vielleicht noch ganz angemessen wirkt, aber bei späterer Musik gelegentlich schematisch, etwas für die moderne Musik auch gewissermaßen problematisches. Was ich bei Reger eben glaube, ist, daß es nicht nur um die Schlußkadenz geht, sondern daß das, was bei der Schlußkadenz gewissermaßen auffällig wird, auch für die interne Struktur der Musik gilt, auch da gibt es in der traditionellen klassisch romantischen Musik auch innerhalb der Musik gewissermaßen kadenzielle Wirkungen, die ein Stück strukturieren können und es ist mein Verdacht, daß dies auch Regers Verzicht auf Kadenzwirkungen auch diese Musik in ihrer internen Struktur, nicht nur in ihrer Schlußwirkung, weniger zugänglich macht.

Ich würde mich jedenfalls freuen, wenn wir über die Reger Streichquartette im Gespräch bleiben könnten; sie sind gewiß nicht die memorabelste Musik, die ich in meinem Leben gehört habe, aber ich finde sie in ungewöhnlicher Weise stilistisch faszinierend. Auch wenn ich da teilweise sitze, wie beim langsamen Satz des Opus 109, und einfach überhaupt keine Struktur höre, sondern vielmehr ein zielloses Mäandern. Aber das mag sich alles noch ändern, gerade beim langsamen Satz von 121 hatte ich unbedingt das Gefühl von etwas Noblem, nur ob ich die Musik jemals mit derselben Selbstverständlichkeit hören werde wie Beethovens Quartette meinetwegen, muß sich noch heraus stellen. Jedenfalls trotzdem nicht schlecht, daß ich mit Opus 74 angefangen habe, bisher das Faszinierendste, was ich von Reger gehört habe ( auch einschließlich der anderen Sachen, die ich von ihm kenne) und Faszination ist ja auch schon ganz schön - man muß ja nicht alle Dinge verstehen.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#8 erstellt: 06. Jan 2012, 11:05
Hallo!

Meiner Meinung nach ist überhaupt schwer Kammermusik-Werke auf dem Niveau des Op.74 zu finden, bei Reger würde ich noch am ehesten die Cellosonate Op.116, das Klavierquintett Op.64 und das Klaviertrio Op. 102 in die Nähe rücken ohne das sie diesen Rang ganz erreichen.

Alexander Zemlinskys 2. Streichquartett Op.15 und Schönbergs spätes Streichtrio Op.45 erreichen mit anderen Mitteln eine vergleichbare Dichte im Ausdruck.von der älteren Musik würde ich allenfalls noch Schuberts Streichquartett Op. 810 und das Streichquintett D-956 als ähnlich ausdrucksstark bezeichnen.

Das Gros der Werke späterer Komponisten folgt anderen Intentionen, -hier stehen m.E. einfach andere Absichten und Ansichten im Vordergrund und diese Werke sind für mich somit eigentlich nicht gut vergleichbar-.

Aber ich bin vermutlich recht voreingenommen was Regers Werk -zumal den Op.74 betrifft-, er gehört neben seinem Klaviertrio einfach zu meinen Lieblingswerken.

Nach Op. 74 wirken die beiden späteren Quartette Op. 109 und Op. 121 natürlich sowohl im Ausdruck wie auch in der Wahl der kompositorischen Mittel stark zurückgenommen, -sie sind gewissermaßen von Regers "Altersstil" geprägt, hier zeichnet sich schon der für die späteren Werke typische Verzicht auf allzu expressive Mittel und die Vereinfachung seines Stils aus der seine Krönung dann m.E, in den Telemann-Variationen Op. 134 von 1914 in denen der für die früheren Werke fast typische düstere wühlende Tonfall zugunsten einer klassischen Virtuosenmanier von Reger aufgegeben wurde. Ganz ähnlich wie in Regers letztem größerem Kammermusikwerk, -dem Klarinetten-Quintett Op. 146 von 1915-1916 das mich eher an Mozart und Brahms gemahnt als an Regers früheren Stil.

MFG Günther


[Beitrag von Hörbert am 06. Jan 2012, 11:06 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#9 erstellt: 06. Jan 2012, 15:01
Hallo Günther,

wie der Begleittext zu den Streichquartetten aber m.E. zu recht schreibt, ist das Opus 121 wieder avancierter als das frühere Opus 109. Ich fand es eventuell interessanter, obwohl das Opus 109 einen sehr schönen Schlußsatz hat.

Deine "Voreingenommenheit" bezüglich Regers - er gehört ja offensichtlich zu Deinen Lieblingskomponisten, ist etwas, von dem ich nur profitieren kann. Ob mein Regerinteresse so lange anhalten wird, weiß ich noch nicht. Ich war immer jemand, der eine gute Melodie sehr zu schätzen wußte und das bietet Reger nicht oder mir doch zu wenig. Trotzdem ist er ganz ohne Zweifel eine sehr interessante Figur.

Gruß Martin
AladdinWunderlampe
Stammgast
#10 erstellt: 07. Jan 2012, 00:51

Martin2 schrieb:
Also ich fand es diesmal ungemein fesselnd, nur der Logik der Musik konnte ich noch nicht so folgen


Lieber Martin,

die Gründe, warum man der "Logik" des ersten Satzes aus Regers Opus 74 gerade beim ersten Hören nur schwer zu folgen vermag, dürften nicht nur mit der vergleichsweise großen Ausdehnung des Satzes, sondern vor allem mit einem eigentümlichen Verhältnis zum zugrundeliegenden Formmodell zusammenhängen.

Einerseits nämlich folgt der Satz dem Muster der Sonatenhauptsatzform, deren äußere Gliederung in die vier vertrauten Formteile Exposition (ohne Wiederholung), Durchführung, Reprise und Coda sogar verhältnismäßig gut nachvollziehbar ist. Andererseits wird dieses Formmodell durch die Proportionierung der Teile sowie deren innere kompositorische Ausgestaltung in gewisser Weise ausgehöhlt:

Problematisch beim ersten Hören, das ja notwendigerweise ohne Kenntnis des Folgenden von vorne nach hinten erfolgen muss, ist bereits die ungewöhnliche Länge der Exposition, die jede Menge musikalischen Materials anhäuft, über dessen Stellenwert im Formprozess man über lange Zeit im Ungewissen gehalten wird. Anders als in vielen Werken des neunzehnten Jahrhunderts ist sie nicht nur länger als die Reprise, sondern auch als die Durchführung. Der große Umfang der Exposition resultiert bei Reger daraus, dass die Vorstellung der thematischen Hauptgedanken immer wieder in Fortspinnungs- oder Verarbeitungspartien übergeht, in denen das motivische Material gleichsam atomisiert wird, so dass sie den Eindruck des Athematisch-Amorphen, teils auch Improvisatorischen erwecken.

Da diese Einschübe in der wesentlich kürzeren Reprise weitgehend wegfallen, treten dort die thematischen Hauptgedanken sehr viel deutlicher hervor. Der Satz wird daher um einiges klarer, wenn man ihn gewissermaßen von hinten nach vorne zu verstehen versucht. Dann erkennt man, dass die Exposition eigentlich aus drei thematischen Hauptkomplexen aufgebaut ist, die freilich in sich wiederum teils recht gegensätzliches Material enthalten:

Dies gilt insbesondere für den ersten Themenkomplex, der zwei extrem kontrastierende Gedanken verarbeitet: einerseits die leidenschaftlich in großen Intervallen ab- und aufwogendende Melodie, die direkt am Beginn im Unisono fortissimo und unisono von den vier Streichern vorgestellt wird; und andererseits der fast siciliano-artig in Tonwiederholungen und und kleinen Tonschritten pendelnde, tonal merkwürdig zwischen Dur und Moll schwebende Gesang der ersten Violine im pianissimo, der von gleichmäßigen Pizzicato-Achteln des Violoncellos und leisen, aber ein wenig unruhig synkopierten Akkorden der beiden übrigen Streicher begleitet wird. Beide Gedanken wechseln im ersten Themenkomplex mehrfach ab, werden variiert, fortgesponnen und in kleinste Bestandteile aufgelöst - Verfahrensweisen, die man eher in einer Durchführung erwartet.

Sehr viel griffiger als Ganzheit wahrnehmbar ist der zweite Themenkomplex, der nach den vorangegangenen chromatischen Exzessen überraschend schulmäßig in der Tonikaparallele F-Dur ansetzt und ganz von der wirklich wundervoll sanglichen Melodie der ersten Violine geprägt ist (herrlich der ausdrucksvolle Septimabsprung, der jeweils am Themenkopf erscheint), welche über einem wiederum siciliano-artig wiegenden Rhythmus erklingt.

Nach einer Generalpause kommt dann - eingeleitet durch 8 leise Pizzicato-Töne im Unisono - ein merkwürdiger Fortissimo-Einschub, heftig erregt im Ausdruck, motivisch seltsam amorph in kontrapunktisch verschlungenen Sechzehntelketten - vom Charakter her durchführungsartig, obwohl motivisch nie ganz greifbar wird, was da nun eigentlich durgeführt wird, jedenfalls, bis sich gegen Ende auf dem dynamischen Höhepunkt das eröffnende Unisono des ersten Hauptkomplexes herauskristallisiert.

Nach einem abrupten Abbruch in Form einer weiteren Generalpause setzt dann der dritte Komplex ein, der fremd wie eine Episode aus einer anderen Welt anmutet: leise, ostinate Quint- und Quartklänge der tiefen Streicher; und darüber eine merkwürdig traurige, zerbrechliche Melodie der ersten Violine mit beinahe folkloristisch improvisatorischen Gestus, die für einen Moment die Zeit stehen lässt, bevor die Musik in einer Art Schlussgruppe wieder in das Fahrwasser der Siciliano-Bewegung gerät, um dann in zunehmend bewegtere Fortspinnungen überzugehen und dabei auch die Kopfmotive der beiden ersten Themenkomplexe wiederaufzugreifen.


Soviel für heute. Vielleicht hilft es Dir, Martin, diese thematischen Charaktere und ihre Behandlung in Exposition, Durchführung und Reprise einmal bewusst zu verfolgen, um ein wenig Ordnung in den Satz zu bringen. Das fällt in der Durchführung und in der Reprise wie gesagt leichter als in der Exposition, weil die Durchführung und die Reprise sich viel deutlicher auf die genannten Hauptgedanken konzentrieren als die Exposition, die immer wieder durch Einschübe, Fortspinnungen und Verarbeitungen aus dem Fahrwasser zu geraten scheint.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 07. Jan 2012, 01:02 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#11 erstellt: 07. Jan 2012, 01:32
Hallo Aladdin,

nun ich hoffe, daß Du bei mir nicht Perlen vor die Säue wirfst. Auf der anderen Seite habe ich Brucknersinfonien oft in weniger elaborierter Form auch analysiert und - wenn ich es wollte - die drei Themengruppen auch heraus kristalisieren können. Die drei Themengruppen, die Du beim Reger ansprichst, haben mich jedenfalls sofort an Bruckner erinnert. Üblich sind ja im Sonatensatz zwei Themen in der Exposition, aber bei Bruckner eben drei und in diesem Regerschen Satz offensichtlich auch.

Natürlich sind es auch bei Bruckner nicht einfach drei Themen, sondern drei Themengruppen, die aber leichter auseinanderzuhalten sind. Die erste Themengruppe bildet das thematische Zentrum, die zweite ein gewissermaßen feierlicher Gesang und die dritte gewissermaßen abschließend. Ob mir das bei Reger tatsächlich gelingt, hier Strukturen heraus zu hören, werde ich mal abwarten müssen, ich werde es mal versuchen, mir auch vielleicht mal wieder Notizen machen müssen.

Also ich finde es noch mal gesagt höchst interessant, was Du schreibst, es könnte aber trotzdem sein, daß Du Perlen vor die Säue wirfst, weil ich das, was Du hier beschreibst, schlicht nicht höre, weil ich, zumal in der, wie Du ja selber sagst, etwas konfusen Exposition, die drei Themengruppen schlicht nicht wahrnehme. Aber vielen Dank für Deinen Beitrag!

Gruß Martin
Joachim49
Inventar
#12 erstellt: 07. Jan 2012, 20:58
Angeregt durch Hörberts Begeisterung für Reger und Martins thread zu den Quartetten, habe ich mich trotz einer gewissen Skepsis auch mit Reger beschäftigt. Das Violinkonzert habe ich mit nach Frankreich genommen (wo ich mich aus faliliären gründen aufhalten musste) .... und dort in einem Player liegen lassen, nachdem ich in den Kopfsatz hineingehört hatte. (Es gibt eine gute Chance, dass die Scheibe in ein paar Monaten noch immer im Player steckt).

Zurück habe ich mir das op 74 angehört. Dabei gab es eine reihe von Problemen. Das hauptsächliche besteht darin, dass ich beim Hören wiederholt eingeschlafen bin. Ich meine dies keineswegs sarkastisch. Im Gegenteil: das Werk gefällt mir ausserordentlich gut und ich bin sehr dankbar für die Anregung. Aber wenn ich alles andere abschalte und mich unter dem Kopfhörer ganz auf die Musik konzentriere, dann passiert es mir sehr häufig, dass ich einschlafe. Nach ca. 10 Minuten oder weniger, bin ich weg und werde - trotz erheblicher Lautstärke - erst nach dem Schlusstrich des Gesamtwerkes wieder wach. (Ich sollte Musik besser im stehen hören). Aber vorhin ist es mir gelungen zumindest den Kopfsatz ganz zu hören. Manches darin ist ganz wundervolle Musik, vor allem wenn bei den häufigen Stimmungswechseln die zarteren Passagen mit den schrofferen kontrastieren ("wie eine Episode aus einer anderen Welt" um Aladdin zu zitieren).

Es ist gewiss richtig, dass dieses Quartett schwierig ist, zumindest empfinde ich es so. Das hat sicher etwas damit zu tun, dass sich die Motive, Themen, Episoden etc. nicht leicht einprägen und wiederholtes Hören erfordern. Denn wenn man irgendwo mitten im Stück keine lebendige Erinnerung mehr hat an das was man bereits gehört hat, dann zerfällt es in beziehungslose, unzusammenhängende Episoden und verliert seinen Reiz. Dieser (subjektive) Mangel ein Musikstück als eine organische Einheit zu empfinden, erschwert mir den Zugang zu tonaler Musik in ihrer Spätphase und natürlich erst recht zu dem, was danach kommt. Da solche Musik zunächst abstösst, ist das Risiko sehr gross, dass man sie links liegen lässt, obwohl sie gerade nur durch wiederholtes Hören erobert werden kann. Jedenfalls ist es mir gelungen, dieses Regerstück schon ein bisschen lieb zu gewinnen und es gehört gewiss zu den erfreulichsten Aspekten dieses Forums, dass es solche Lernprozesse in Gang setzen kann. (Nur schade, dass die Versuche, Stücke gemeinsam zu hören und zu diskutieren oft schnell wieder einschlafen oder nur wenige Teilnehmer reizen - der letzte Versuch in dieser Richtung war glaube ich Bergs Lyrische Suite.)

Das Gespräch über Regers Quartette wird hoffentlich fortgesetzt.

Freundliche grüsse
Joachim
Hörbert
Inventar
#13 erstellt: 08. Jan 2012, 09:32
Hallo!

@Joachim49

Welche Interpretation des Op. 74 hast du?

Gerade beim Op. 74 kann es den Interpreten leicht passieren daß das Werk buchstänblich in seine Einzelheiten zerfällt oder, -was genau so schlimm ist-, das ein Teil davon förmlich zugekleistert wird. Das betrifft insbesondere den Kopfsatz.

Bei Op. 74 ist neben Martins Interpretation mit den Bernern noch die uralte Aufnahme mit dem Drolc-Quartett empfehlenswert. Eine Interpretation mit dem Joachim-Quartett die ich ebenfall mal hatte hat ich da nicht zufriedengestellt, trotz technischer Perfektion ging mir da der Zusammenhang ziemlich verloren. Leider hat die mir ebenfalls bekannte alte Da-Camera Magnum Aufnahme mit dem Zagreber Streichquartett. einen groben Aufnahmefehler der nur mit einem Brenner zu beheben ist.

MFG Günther
AladdinWunderlampe
Stammgast
#14 erstellt: 08. Jan 2012, 13:02
Meine bislang einzige Aufnahme von Regers Opus 74, mit der ich allerdings interpretatorisch wie klanglich sehr zufrieden bin, wird vom Philharmonia Quartett Berlin gespielt (1 CD, Thorofon CTH 2116):

jpc.de


Gerade beim Op. 74 kann es den Interpreten leicht passieren daß das Werk buchstänblich in seine Einzelheiten zerfällt oder, -was genau so schlimm ist-, das ein Teil davon förmlich zugekleistert wird. Das betrifft insbesondere den Kopfsatz.


Im Falle Regers leiden nach meiner Kenntnis viele Interpretationen eher unter dem Zukleistern der Einzelheiten. Insbesondere bei den Orgelwerken, aber auch bei einem Werk wie dem Klavierkonzert f-Moll ist mir häufiger aufgefallen, dass die Ausführenden dazu tendieren, die motivische und syntaktische Gliederung der Musik unter endlosen Legato-Bögen verschwinden zu lassen oder eben (gerade bei den Orgelwerken wohl nicht zuletzt aufgrund der enormen spieltechnischen Ansprüche) so phrasieren, wie es eben kommt... Das führt dann häufig dazu, dass diese Musik, deren Details aus kompositorischen Gründen schon die Tendenz zum Verschwimmen haben, sich in einen ungegliederten, chromatischen Klangbrei verwandelt, dessen "Logik" wirklich schwer nachvollziehbar wird.

Regers Musik, die auch da, wo es technisch gar nicht allzu "schwierig" klingt, meist ziemlich ziemlich unbequem zu spielen ist, fordert daher Ausführende, die über die souveräne Beherrschung der technischen Schwierigkeiten hinaus den verwickelten Tonsatz zugleich so gut durchschauen, dass sie ihn so transparent und gegliedert wie irgend möglich zum Klingen bringen können - wahrlich keine leichte Aufgabe.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 08. Jan 2012, 13:47 bearbeitet]
Joachim49
Inventar
#15 erstellt: 08. Jan 2012, 13:39
Ich besitze die Aufnahme mit dem Drolc Quartett.
Der Bielefelder Katalog (er ist im Internet frei zugänglich !) verzeichnet 4 Aufnahmen des op 74

- Mannheimer Streichquartett
- Berner Streichquartett
- Philharmonia Quartett Berlin
- Drolc Quartett


Das ist recht mager. Merkwürdig, dass keines der 'berühmten' Quartette (Amadeus, Emerson, LaSalle, Juilliard, Melos, Tokyo, A. Berg, Hagen ...) sich für Reger eingesetzt hat.


[Beitrag von Joachim49 am 08. Jan 2012, 13:41 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#16 erstellt: 08. Jan 2012, 14:34
op.74 kenne nich noch nicht (die cpo-Box ist aber bestellt). Ich besitze die beiden letzten Quartette op.109 und 121 mit dem Mannheimer SQ. Gestern abend habe ich daraus op.109 angehört (vermutlich vorher in den letzten Monaten schon ca. zweimal). Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, von der Musik begeistert zu sein. Zwar meine ich, etwa im Kopfsatz, die Formteile grob zu durchschauen, und ein paar Motive sind auch einigermaßen einprägsam. Aber weder finde ich das besonders emotional noch packt es mich in anderer Weise. Ziemlich lang ist das Ganze immer noch (36 min) und besonders das Finale, eine Art Fuge, kommt mir doch recht "akademisch" vor. Ich mag diese Charakterisierung eigentlich gar nicht. Aber der Eindruck ist hier doch der vom Musterschüler im Kontrapunkt oder fleißigen Organisten. Egal wie schematisch die Thematik, jetzt nochmal beide Themen zusammen durchgenudelt und das soll dann ein Höhepunkt sein...?

Was Beethoven (sinngemäß) gesagt haben soll, dass eine Fuge keine große Kunst sei, es eben aber auf das poetische Element dabei ankäme, finde ich bei Reger leider nur bedingt oder gar nicht.
Dagegen scheint mir die Fusion von "Gelehrtheit" und Ausdruck nicht nur beim späten Beethoven, sondern auch in Werken von Schumann (Rheinische Sinfonie, 4. Satz, Finali des Klavierquintetts und -quartetts) oder Brahms (zB Finale des F-Dur-Quintetts oder der 4. Sinfonie) durchaus überzeugend gelungen. Oder, wobei ich dessen Musik auch noch nicht so gut kenne, beim späten Fauré (Das kann man kaum vergleichen, weil viel subtiler und nicht so "demonstrativ" wie bei Beethoven oder Brahms). Francks Quartett ist mir bisher auch ein ziemlich unverdaulicher Brocken gewesen, während ich sein Klavierquintett ziemlich gern mag.
Dennoch werde ich, wenn die Box mit dem Berner SQ kommt, versuchen, dranzubleiben... wenn sich hier schonmal so ein interessanter Austausch anbahnt.
Martin2
Inventar
#17 erstellt: 08. Jan 2012, 15:51
Also ich habe mir heute speziell den 1. Satz aus Opus 74 angehört und schlafe dabei überhaupt nicht ein, sondern finde ihn hochspannend. Natürlich habe ich, angeregt durch Aladdin, nun auch ein bißchen versucht, Strukturen heraus zu hören und da macht es einem Reger nicht einfach.

Das Ergebnis meiner Bemühungen:

Zunächst die erste Themengruppe: Da findet zunächst eine Auseinandersetzung zwischen dem mehr maskulinen Unisonothema und seiner lyrischeren Ergänzung statt. Dann bei 1'30 nimmt die Musik einen wiegenden Charakter ein. Bei 2'10 setzt eine transitorische Passage ein, bei 2'43 eine schöne Pizikattostelle. Bei 2'55 meine ich wahrzunehmen wie die erste Themengruppe bestimmt auf den Schluß zumarschiert, was aber dann in einen eher lyrischen "Abgesang" mündet.

Bei 4'01 scheint mir das wirlich sehr schöne 2. Thema zu beginnen, ein Thema, das mich wirklich an verklärte Nacht erinnert. Bei 5'22 beginnt mit einigen Pizikatti eine Art Durchführungsteil innerhalb der zweiten Themengruppe ( ich glaube das hatte Aladdin gemeint) und dann mit 6'18 eine Art Abgesang des Themas, der in einer Generalpause endet.

Die 3. Themengruppe setzt bei 8'10 ein wenn ich mich nicht irre. Es ist - im Gegensatz zu Bruckner - wieder ein lyrisches Thema, das auf mich aber irgendwie einen "versponneneren" Eindruck macht. Bei 9'20 setzen Pizikatto ein.

Dann ist aber für mich der Übergang von der 3. Themengruppe zur Durchführung ziemlich schwer zu erkennen, ich habe den Eindruck als sei dieser Übergang quasi verwischt, bei 10'30 oder so merkt man, in der Durchführung zu sein, aber wo die eigentlich angefangen hat, realisiere ich nicht. Bei 11'30 setzt dann eine Verarbeitung des 2. Themas ein. Bei 12'31 setzt dann wie mir scheint eine Fuge ein, nur wird die wie mir scheint nicht schulmäßig ausgeführt, sondern das fugenmäßige zerfleddert nach und nach, ohne das man merkt wo diese Fuge endet und ist bei 13'25 wieder sehr unfugenmäßig lyrisch. Bei 14'00 setzt wieder eine Art "Abgesang" auf den Durchführungsabschnitt ein.

Bei 14'14 setzt die Reprise ein und diesmal sind, wie Aladdin gesagt hat, die Themenkomplexe wirklich auch kürzer. Die erste Themengruppe ist nur noch halb so lang und endet bei 16'17, wenn wieder das 2. Thema beginnt, allerdings wieder mit dem "Durchführungsteil" bei 17'18''. Bei 17'56'' kommt anscheinend die 3. Themengruppe.

Bei 19'42 dann die kurze Coda mit dem Anfang der 1. Themengruppe, so daß diese Coda den Eindruck erweckt, als ob die Musik gewissermaßen dort wieder zurückkehrt, wovon sie ausgegangen ist.

Natürlich ist das schwierige Musik, aber Bruckner ist auch nicht weniger komplex und hat auch sehr viele verschiedene Abschnitte. Wie Aladdin sagt, ist insbesondere die Exposition, die, wenn ich mich nicht irre, über 10 Minuten dauert, schwer aufzunehmen, weil die Musik immer neue Wendungen nimmt. Ich weiß auch nicht, ob ich das jetzt alles richtig analysiert habe - aber darum geht es letzlich auch nicht, sondern nur darum, sich das selbst verständlich zu machen. Damit will ich es mal gut sein lassen, vielleicht kommen wir noch weiter ins Gespräch.

Die Musik finde ich nicht wirklich schwieriger als Bruckner, nur es gibt halt bestimmte Dinge, die sie noch schwieriger machen: Die überlange Exposition, der geringere Kontrast zwischen der 2. und 3. Themengruppe als bei Bruckner, das Verwischen von Expostion und Durchführung.

Die Berner Aufführung gefällt mir jedenfalls sehr gut, danke an Frank und Günther für den Tip. Ob ich das nun alles richtig analysiert habe, weiß ich nicht, jedenfalls sind mir dadurch ein paar Dinge klar geworden. Und ich finde diese Musik jedenfalls toll.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#18 erstellt: 08. Jan 2012, 16:42
Hallo!

Die Aufnahme mit dem Drolc-Quartett ist m.W. nicht mehr auf dem Markt, aber es gibt neben den anderen drei von dir genannten noch eine Aufnahme mit dem Koeckert Quartett und die von mir schon genannte Interpretation des Zagreber Streichquartetts in der Gesamtausgabe der Regerischen Kammermusik bei da Camera Magna:

jpc.de

Leider mit dem erwähnten Fehler.

MFG Günther
Kreisler_jun.
Inventar
#19 erstellt: 08. Jan 2012, 19:03
Drolc gebraucht (ein bißchen teuer) oder als Download (16,99)

amazon.de
Martin2
Inventar
#20 erstellt: 09. Jan 2012, 01:10
So, ich habe jetzt auch noch die erste CD mit dem Jugendstreichquartett und den Opus 54 gehört. Damit habe ich nun alle Streichquartette gehört, aber natürlich reicht einmaliges Hören nicht aus.

Zwischenresümee. Reger ist kein eingängiger Melodiker, der einen gleich unmittelbar packt. Sein Jugendwerk fand ich übrigens sehr erfreulich, überhaupt nicht primitiv, aber trotzdem eine Erholung nach so viel schwerer Kost.

Die Opus 54 ganz bestimmt interessant, auf der Höhe seiner Zeit und keine verquaste Spätromantik. Aber einfach schwere Kost. Speziell auch der 1. Satz des Opus 54, 1. Das ist einfach eine fortwährende Bewegung ohne Atempause, zu der ich beim ersten Hören kaum einen Zugang fand. Ganz anders der 1. Satz des Opus 74 mit seinen fast Brucknerschen Blöcken. Das ist zwar auch schwer, aber die fortwährenden Charakterwechsel schaffen auch Orientierung. Das Scherzo recht nett, der langsame Satz etwas bleiern, das Finale dagegen unmittelbar zündend. Opus 54, 2 dagegen mit seinem 1. Satz unmittelbar fesselnd, der Variationssatz mir noch unklar, der 3. Satz könnte interessant sein.

Also Reger ist ein - sicher nicht nur für mich - schwieriger Komponist, zumal man bei Reger nie "Big tunes" erwarten darf, schon gar nicht in diesen Streichquartetten. Aber subtil ist das, fesselnd und interessant. Und jetzt, wo ich alles schon mal gehört habe, beginnt natürlich für mich die Phase weiterer Annäherung. Und das Opus 74 finde ich nachwievor am faszinierendsten. Das Berner Quartett finde ich übrigens ganz hervorragend. Es wäre aber nett gewesen, den Kontrabassisten im Finale des "Jugendquartetts" einfach mal zu erwähnen, man freut sich als Künstler doch immer, wenn man erwähnt wird.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#21 erstellt: 09. Jan 2012, 07:19
Hallo!

Nicht umsonst empfehle ich oft Reger als Einstig in die neue Musik, wer mit Regers Kammermusik zurechtkommt sollte mit Werken der neuen Musik an sich keine größeren Probleme haben.

Gerade das Fehlen großformatiger melodischer Strukturen hat man seinerzeit Reger oft vorgeworfen, das fordert natürlich für einige Rezipienten ein Bruch mit alten Hörgewohnheiten. Ob man sich darauf einlassen will ist natürlich jedermanns Sache selbst.

Faszinierend finde ich bei Regers Werk immer wieder die motivische Entwicklung auf kleinstem Raum und die kontrapunktische Entwicklung die gerade in den Werken des frühen und mittleren Reger neben der Varitationstechnik breiten Raum einnimmt. Hierin trift sich Reger mit den Komponisten späterer Zeit.

Wenn du mit den Streichquartetten einmal vertraut bist solltest du noch einmakl Schönbergs Streichquartette hören, ich bin mir sicher das du sie dann mit ganz anderen Ohren rezipipieren wirst.

MFG Günther
Martin2
Inventar
#22 erstellt: 09. Jan 2012, 16:00
Hallo Günther,

durchaus vorstellbar, daß sich mir die Musik der Wiener Schule noch besser erschließt, wenn sich mir die Streichquartette von Reger besser erschlossen haben. Nur höre ich ganz bestimmt nicht Reger, um den Schönberg besser zu verstehen. Sondern ich höre Reger wegen dem Reger. Aber so hast Du es sicherlich nicht gemeint.

Ich hörte heute wieder Regers Opus 74. Dieses Werk habe ich nun schon siebenmal oder so gehört und ich finde dies ist wirklich Musik, die begeistert. Ich finde, das ist wirklich eine unheimlich tolle Musik.

Danke auch noch an Aladdin für seine Darstellung der Struktur des 1. Satzes. Ich bin zwar an sich ein "Gefühlshörer", aber in diesem Fall war es einfach mal notwendig, sich zumindestens die groben Strukturen deutlich zu machen, insbesondere die Sache mit der überlangen Exposition, um sich diesen Satz besser zu erschließen. Als ich diesen über 20 minütigen Satz gestern hörte, fiel mir wieder dieses Bonmot ein: Dieser erste Satz ist wunderbar, nur leider viel zu kurz. Also ich habe inzwischen überhaupt kein Gefühl mehr von Längen.

Wahrscheinlich werde ich mir in den nächsten Tagen auch die anderen Streichquartette noch mal anhören, etwa das durchaus fesselnde Opus 49,2.

Ich merke einfach, daß sich bei mir so etwas wie eine Liebe zu diesem Komponisten aufbaut, den ich mehr und mehr als einen "stillen Revolutionär" empfinde, dessen Modernität seiner Musik sich daraus ableitet, daß er schlicht seiner eigenen Integrität gefolgt ist. Ich werde mir vermutlich auch mal so etwas wie eine Regerbiographie kaufen oder leihen, möglichst eine, die auch Bezug auf die Musik nimmt. Kennt da jemand etwas empfehlenswertes?

Auch werde ich mir wohl mal irgendwann die Berlin Classics Box mit den orchestralen Sachen kaufen, die ganz gut sein soll, außer dem Klavierkonzert, das grottenschlecht sein soll, und wo ich hoffe, den Serkin noch irgendwie zu bekommen. Also in Bezug auf Reger bleibe ich am Ball, wenn auch vermutlich nicht alles so tolle Musik ist wie dieses Opus 74.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#23 erstellt: 09. Jan 2012, 17:45
Hallo!

Nein, so habe ich das ganz bestimmt nicht gemeint.

Wenn ich dir raten dürfte noch ein wenig bei Regers Kammermusik zu verweilen?

Empfehlenswert wären da auf alle Fälle das Klaviertrio Op. 102, die Sonate für Cello und Klavier A-moll Op.116 und das Klavierquintett Op.64.

Bei den Klavierwerken kämen neben den Bachvariationen Op.81 vor allem die Werke für zwei Klaviere Op. 86 und Op. 96 in Frage.

Bei der Orchestermusik würde ich neben den Hiller-Variationen Op.100 und dem Violinkonzert Op. 101 vor allem das Klavierkonzert Op. 114 und die Sinfoniette Op. 90 ins Auge fassen. Die Mozartvariationen Op.132 sind dir ja wohl schon bekannt?

Regers Orchestermusik ist recht schwierig zu Interpretieren, ich habe weit mehr verunglückte Interpretationen gehört als gelungene, es gibt allerdings -recht günstig-, die alten DDR-Aufnahmen mit der Staatskapelle Dresden unter Herbert Blomsted die von einigen Ausreissern abgesehen recht gut gelungen sind. Das Klavierkonzert ist bei CPO in einer recht annehmbaren Fassung mit dem Münchner Rundfunkorchester und Michael Korstik unter Ulf Schirmer verlegt. Die alte Serkin-Ormandy Interpretation dürfte wohkl nicht mer aufzutreiben sein.

MFG Günther
Martin2
Inventar
#24 erstellt: 09. Jan 2012, 18:03
Hallo Günther,

über die Cellosonaten habe ich auch schon positives gehört - ich glaube mein Freund Klaus hat sie.

Mir wäre es allerdings auch sehr recht, über die Streichquartette noch ein wenig im Gespräch zu bleiben. Heute hörte ich wieder die Opus 49. Da finde ich Opus 49,2 insgesamt einfacher, Opus 49,1 aber faszinierender.

Also jetzt beim Wiederhören erschien mir der 1. Satz von Opus 49,1 weniger amorph, aber trotzdem sehr anspruchsvoll. Immerhin 11 Minuten dieser Satz, man müßte diesen Satz vermutlich trotzdem mehr aufschlüsseln, also sich die Struktur mal angucken.

Irgenjemand in einem anderen Forum meinte auch, bei Opus 49,1 sei das Tel Aviv Quartett besser.

Wir haben übrigens einen Regerthread, den ich selbst mal irgendwann ins Leben gerufen habe ( "Max Reger, der letzte Riese?"), ich glaube, den revitalisiere ich irgendwann mal.

Hinweise auf die Streichquartette, die mein Verständnis fördern, sind mir jedenfalls hoch willkommen. Also an Dich noch mal die Frage, was Dir die liebsten Streichquartette Regers sind, jenseits des Opus 74 natürlich.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#25 erstellt: 09. Jan 2012, 21:20
Hallo!

Äääh, du meinst natürlich Op. 54.1?

Op. 49.1 wäre eine der Sonaten Für Klarinette und Klavier (Nr.1 As-dur) das ist zwar auch ein sehr gutes Stück Musik in der Nachfolge von Brahms Klarinettensonaten aber diese Sonate kommt in ihrer Expressivität an die Streichquartette nicht heran.

Das Tel-Aviv Quartett ist ebenfalls in meiner Da Camera Magna Sammlung der Kammermusik Regers
enthalten, aber sie spielen das Werk für meinen Geschmack etwas zu zahm und kleistern die recht schroffen Abgründe dieser Musik m.E. etwas zu sehr zu, hier sind mir die Berner und auch das Drolc-Quartett allemal lieber.

Neben dem monumentalem Op. 74 gefallen mir die beiden Schwesterwerke des Op.54 am meisten obwohl ich das wilde Op. 54.1 seltener höre ziehe ich es eigentlich dem Op. 54.2 vor nur muß man dafür eben in deer rechten Stimmung sein. Neben dem Klavierquintett Op. 64 ist es eines der wildesten Reger-Werke überhaupt.

Von den beiden späten Quartetten ziehe ich Op. 121 dem recht zahmen Op. 109 vor, -allerdings ist Op. 109 paradoxerweise das Reger-Quartett das ich am häufigsten höre, -es liegt nicht zuletzt an seiner relativen "Ausdruckslosigkeit" gemessen an den anderen vier Quartetten. Es ist für mich das Ideale Werk wenn ich mich einfach nur ohne Affekte entspannen wil.

MFG Güntherl
Martin2
Inventar
#26 erstellt: 09. Jan 2012, 22:18
Hallo Günther,

ja selbstverständlich meinte ich Opus 54,1 - die Opusnummern sitzen bei mir noch nicht so fest.

Danke für Deine Hinweise bezüglich der Quartette, finde ich sehr hilfreich - man spricht in Klassikforen meist zu selten über Musik, sondern stürzt sich gleich auf Interpretenhinweise.

Also ich finde Opus 74 ist schon das tollste Quartett, aber grundsätzlich finde ich diese Musik sehr interessant.

Bei Opus 54, 2 mußte ich übrigens daran denken, daß in unserem zentralen Regerthread jemand den Hinweis brachte, daß Prokoview ein großer Fan von Reger war, woran man bei zwei so unterschiedlichen Komponisten nie dächte - und doch ein kleiner, wenn auch nur sehr kleiner Touch Prokoview ist in diesem Opus 54, 2. Es ist nicht die nobelste Inspiration, aber darin erscheint Absicht zu liegen, diese Verfremdung des Trivialen, die gewaltige Energien frei setzt, dieses leicht Schräge, was Prokoview kultivierte, ist speziell in diesen Ecksätzen, das weist für mich auf Prokoview, obwohl die Komponisten unterschiedlicher kaum sein könnten.

Beim ersten Satz Opus 54,1 denke ich vielleicht noch mal daran, mir Notizen zu machen, um auf meine völlig laienhafte Weise Struktur in den Satz zu bringen - könnte lohnend sein. Wild ist der Satz bestimmt, aber jedenfalls in dieser Wildheit trotzdem abwechslungsreicher als er auf den ersten Blick scheint.

Na ja, das solls gewesen sein, sonst schreibe ich am Ende mehr über Reger als ich ihn höre.

Gruß Martin
Hörbert
Inventar
#27 erstellt: 10. Jan 2012, 09:39
Hallo!

Na ja, so ganz ohne jeden Einfluß auf die spätere Musik ist Reger nicht gewesen.

Auch bei Serge Tanejew und Reinhold Gliere sind Regers Einfluß spürbar.

Allerdings verhinderte m.E, gerade die Komplexität seiner Musik nicht nur die Rezeption auf breiter Basis sondern auch die Beschäftigung anderer Komponisten mit seinem Werk.

Reger hatte nie den Einfluß auf nachfolgende Komponistengenerationen wie die Schönbergschule, die Neudeutschen Wagnerianer (Strauss, von Schillings, Tuillie) oder Stravinskys.

Gerade aber in seiner Kammermusik und hier insbesondere bei den Streichquartetten sehe ich doch -zumindestens zu Regers Lebzeiten einen gewissen Einfluß, zumindestens was die Komplexität und dien Umfang der Werke betrifft. Ich denke mal das weder Schönberg noch später Hindemith von Regers Werk gänzlich unbeeinflußt geblieben sind, auch Auswirkungen auf das Werk Hans Pfitzners finde ich nicht ausgeschlossen., zumindestens das Klaviertrio Op.8 hat m.E. einiges von Reger.

MFG Günther
Martin2
Inventar
#28 erstellt: 10. Jan 2012, 20:19
Also ich habe mir jetzt noch zweimal das Opus 109 angehört. Wirklich schöne Musik, aber ich glaube nicht, daß das Opus 109 in irgendeiner Weise leichter ist als die anderen Quartette.

Ich denke, ich muß in Zukunft noch in stärkerer Weise dem Regerschen Melos auf die Spur kommen. Meiner Meinung nach liegt da der Schlüssel zum Verständnis Regers. Daß er ein guter Kontrapunktiker war und ein guter Harmoniker ist Allgemeingut, nur spricht man ihm allzusehr das Melos ab.

Aber die Sache ist ganz einfach die: Reger schreibt eigentlich überhaupt keine "vollständigen" Melodien. Eine solche Melodie, die einleitend auftritt, zum Höhepunkt geführt wird und dann abgerundet wird, schreibt Reger schlicht nicht, auch nicht in dem angeblich "populäreren" Opus 109.

Nichts wäre hier sicher dümmer, als Reger "Dilletantismus" vorzuwerfen, so als ob Reger keine Melodien schreiben könne. Sondern der melodische "Fragmentarismus" ist Teil Regerscher Ästhetik und auch bei Opus 109, etwa im langsamen Satz ist es wieder so, das das melodisch wunderschön beginnt, aber dann versandet, ohne daß das melodisch abgerundet wird.

Das mag dann in der Melodiebildung, oder sagen wir die Motivbildung teilweise sogar wirklich ein bißchen an Brahms erinnern, ist aber in der Ausführung etwas völlig anderes als Brahms.

Man muß sich aber auf die Regersche Ästhetik dann auch einlassen. Ich hoffe jedenfalls, daß sich mir das nach und nach immer besser erschließt. Reger hat diese Tendenz, Dinge von vorneherein zu verkomplizieren und ein Thema klingt dabei fast wie die Durchführung eines Themas. Das macht die Sache schwierig, da der allgemeine Klassikhörer immer bereit ist, etwas Komplexes zu akzeptieren, wenn ihm auch etwas einfaches angeboten wird, zum Beispiel einfach so ein nettes Thema. Und Opus 109 ist wieder ein Beispiel dafür, daß das Scherzo und das Finale gar keine Probleme machen, der Eingangssatz und der langsame Satz umsomehr, wobei der Variationssatz von Opus 74 eigentlich wieder einfacher ist, weil es ein Variationssatz ist.

Soweit erst mal. Aber Opus 109 ist eigentlich wirklich schön und sicher das "Pastoralste" aller Quartette.

Gruß Martin
AladdinWunderlampe
Stammgast
#29 erstellt: 11. Jan 2012, 13:43

Martin2 schrieb:
Reger schreibt eigentlich überhaupt keine "vollständigen" Melodien. Eine solche Melodie, die einleitend auftritt, zum Höhepunkt geführt wird und dann abgerundet wird, schreibt Reger schlicht nicht, auch nicht in dem angeblich "populäreren" Opus 109.

Nichts wäre hier sicher dümmer, als Reger "Dilletantismus" vorzuwerfen, so als ob Reger keine Melodien schreiben könne. Sondern der melodische "Fragmentarismus" ist Teil Regerscher Ästhetik und auch bei Opus 109, etwa im langsamen Satz ist es wieder so, das das melodisch wunderschön beginnt, aber dann versandet, ohne daß das melodisch abgerundet wird.


Lieber Martin,

Mit der Irregularität der melodischen Phrasen sprichst Du einen wichtigen Aspekt für die Schwierigkeit der Musik Regers an.
Schon die erste Phrase des Hauptthemas aus dem Kopfsatz von Opus 74 ist ja fünftaktig, wobei aber nur in den ersten beiden Takten der 6/8-Takt rhythmisch und melodisch artikuliert wird; die den nachfolgenden drei Takte gewinnen gleitende Chromatik sowie durch Synkopierung und durch das Überwiegen langgehaltener Noten eineb melodisch und metrisch eher freien charakter. Die nachfolgende siciliano-artige Bewegung bricht dann nach vier Takten ab, um erneut in einem Fünftakter auf die amorph versiegende Unisono-Melodik des Anfangs zurückzugreifen zurückzugreifen.

Es gibt also keine Gliederung des Themas in korrespondierende Vorder- und Nachsätze, keine melodischen Fragen und Antworten, keine metrische Regularität als Gerüst der Musik mehr, sondern Reger reiht einzelne Phrasen unterschiedlicher Form und Länge aneinander. Der Komponist hat in diesem Zusammenhang von musikalischer "Prosa" gesprochen und setzt diese Gestaltungsweise damit von der gleichsam "gebundenen" Periodenbildung der Tradition ab (die an die Versbildung bei Gedichten erinnert). Natürlich ist Reger nicht der Erfinder dieser Technik, sondern setzt damit Tendenzen fort, die bei Brahms und in gewisser Weise auch bei Wagner bereits vorgeprägt waren; aber er treibt diese Entwicklung gewissermaßen ins Extrem.

Interessanterweise hat Alban Berg in seinem Aufsatz Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich? in der Neigung zur musikalischen Prosa eine Hauptparallele zwischen den Werken Regers und Schönbergs gesehen, der in diesem Zusammenhang übrigens auch von "musikalische Prosa" sprach:

"Auch die Musik Mahlers und - um einen Meister eines ganz anderen Stils dieser Zeit zu nennen: Debussys kennt fast nur Melodiebildungen mit gerader Taktzahl. Und wenn als einzige Ausnahme (neben Schönberg) Reger ziemlich freie und, wie er selbst sagt, an Prosa gemahnende Konstruktionen bevorzugt, so ist dies auch der Grund der relativ schweren Eingängigkeit seiner Musik." (Alban Berg: Warum ist Schönbergs Musik so schwer verständlich?, in: Willi Reich: Alban Berg: Leben und Werk, München 1985, S. 181.)
m
Auch Schönberg selbst weist in seinem Aufsatz Brahms, der Fortschrittlich anhand eines Beispiels aus Regers Violinkonzert op. 101 auf diese Parallele hin (Arnold Schönberg: Brahms, der Fortschrittliche, in: Stil und Gedanke, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main 1992, S. 88.) Und in seinem Aufsatz Kriterien für die Bewertung von Musik nennt er Reger auch als wichtigen Impulsgeber bei der Entwicklung des Verfahrens der "entwickelnden Variation", das Schönberg der bloßen Sequenzierung von Motiven in der Musik Wagners, Bruckners, Wolfs, Strauss', Debussys und Puccinis entgegenzusetzen trachtete: "Eine neue Technik mußte gefunden werden, und in dieser Entwicklung spielten Max Reger, Gustav Mahler und auch ich selbst eine Rolle." (Arnold Schönberg: Kriterien für die Bewertung von Musik, in: Stil und Gedanke, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main 1992, S. 176.)

Reger hat also durchaus einigen Einfluss auf die Musik der Wiener Schule gehabt. Und dass er insbesondere mit seinen gleichsam "neobarocken" Zügen Komponisten wie Paul Hindemith beeinflusst hat, steht ebenfalls außer Frage. Aber die Wirkung seiner Musik lässt sich meines Erachten bis zu einigen Komponisten verfolgen, an die man auf den ersten Blick nicht unbedingt denkt - beispielsweise an Béla Bartók, in dessen ersten beiden Streichquartetten nicht nur der späte Beethoven, sondern - insbesondere in den fugierten Passagen - eben auch Reger seine Spuren hinterlassen hat. (Im Herbst 1907, unmittelbar vor der Komposition seines 1. Streichquartetts, hat Bartók die Werke Regers intensiv studiert.) Ähnliches scheint mir auch für manches beim frühen Ernst Krenek zu gelten.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 11. Jan 2012, 13:55 bearbeitet]
Martin2
Inventar
#30 erstellt: 12. Jan 2012, 12:07
Hallo Aladdin,

vielen Dank für diese sehr interessanten Zitate. Und in der Tat gewinne ich den Eindruck, daß Reger auch heute noch kaum wahrgenommen wird. Ich glaube, man kennt Reger nicht, wenn man nur Sachen wie die Mozartvariationen kennt, die sind nämlich über weite Strecken wesentlich konservativer.

Ich muß das nicht so gut analyisieren können wie Du. Anderseits war ich über "achtaktige Perioden" durchaus informiert, ich weiß, das herkömmliche Musik so konstruiert ist und ich weiß nun, daß Regers Musik etwas durchaus anderes ist. Was an einer solcherartigen "musikalischen Prosa" schwer verständlich ist, ist, daß man das "musikalische Ende" einer solchen "Melodie" nur noch schwer erkennt. Herkömmliche Musik mit ihren "regelmäßigen Perioden" und einfachen harmonischen Kadenzbildungen macht es einem da recht einfach und man weiß präzise, wann eine Melodie anfängt und aufhört.

Trotzdem scheint mir Regers Musik nicht "unerschließbar". Regers Opus 74 höre ich mittlerweile recht gerne. Mit den Opus 54 komme ich aber immer noch, hörte es wieder, teilweise nicht zu Rande - die Musik erschien mir auch teilweise als nicht so nobel wie die späteren Quartette. Opus 54,2 finde ich aber zugänglicher. Ich werde mir diese Musik aber immer wieder anhören, sie fasziniert mich.

Gruß Martin
Martin2
Inventar
#31 erstellt: 12. Jan 2012, 15:24
Also ich habe mir heute noch mal das Streichquartett Opus 109 hervorgekramt und zweimal, den ersten Satz dreimal gehört. Zweifellos sehr schöne Musik!

Aber anspruchsvoll! Der 1. Satz ist zweifellos sehr kurzweilig und auch schön, nur ist der Satz dermaßen feinstrukturiert, daß man die Grobstrukturen kaum noch wahrnimmt. Irgendwie passiert alle 20 Sekunden was neues und wenn man versucht, sich diesen Satz aufzuschlüsseln, kommt man mit dem Schreiben gar nicht mehr nach.

Zunächst hört man das Thema, dann kommt aber bei 0'27'' ein energischer Kontrast, bei 0'57'' eine Stelle die mich an Ives erinnert usw. usw.

Das zweite Thema beginnt wohl bei 2'15'' und wieder ist die Passage außerordentlich fein strukturiert.

Bei 4'05'' beginnt die Durchführung. Dann beginnt eine etwas längere Passage, die etwas Grobstruktur ins Werk bringt und die bis 4'52'' dauert. Danach aber befindet sich man wohl immer noch in der Durchführung, nur daß nun wieder alle 20 Sekunden was neues passiert und die Musik wieder strukturell völlig zerfällt.

Bei 7'49 beginnt wohl die Reprise.

Zusammenfassend gesagt: Es passiert in diesem 1. Satz ständig was neues, große Bögen finden nicht statt und ich finde diese Musik, obwohl gewissermaßen "recht angenehm" und "kurzweilig" fast noch überfordernder als Opus 74.

Das Scherzo ist aber wirklich sehr nett und der langsame Satz außerordentlich schön, vor allem gegen Ende hin, wenn einfach akkordische Pizzikati einen wundervollen Lyrizismus begleiten. Der Schlußsatz hat ein angenehmes Fugenthema. Die "Fuge" ( vermutlich ist es gar keine) endet aber in lyrischen Passagen, bis irgendwann im Cello das Fugenthema wieder auftritt und den Satz wieder zuende führt. Auf diese Weise hat der letzte Satz nicht nur ein erkennbares Thema, sondern auch in diesen drei Passagen eine erkennbare Grobstruktur, die man in den Sätzen davor, speziell dem ersten, vermißt.

Gruß Martin
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