Orchester: Spielen die Majors zuviel gängiges Repertoire?

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 10. Jan 2008, 12:27
Die Majors, das sind die großen bedeutendsten Sinfonieorchester. Berliner Philharmoniker, Chicago Symphony Orchester, Londoner Sinfonie Orchester, Londoner Philharmoniker und noch ein paar andere. Diese, gar nicht so wenige Orchester bezeichnet man als "Majors".

Meine Frage ist, ob diese "großen" Orchester samt ihrer "großen" Dirigenten nicht vielleicht doch zuviel gängiges Repertoire spielen? Nun ist es natürlich die Frage, ob ich mir die Hochpreisaufnahmen ohnehin leisten kann/will, aber das ist eine andere Frage.

Ich bin Naxos zum Beispiel sehr dankbar. Nicht nur, weil sie günstig sind, sondern weil ich durch sie eine Menge interessantes Repertoire kennen gelernt habe. Gliere, Arnold, Barber, Kalinikov, Skrjabin oder Mjaskovski zum Beispiel. Die Majors machen um all solch ein Repertoire einen weiten Bogen. Das finde ich schade. Und irgendwie verwunderlich. Selbst Elgar wird nicht eben oft von Majors aufgenommen.

Als wichtigsten Punkt dabei empfinde ich, daß die berühmtesten Interpreten und dabei ja unbedingt auch "Trendsetter" sind. Hätte sich Karajan etwa, den ich gar nicht so sehr mag, der aber zu seinen Zeiten einen ungeheuren medialen Einfluß besaß, sich meinetwegen für die Musik Barbers eingesetzt, das wäre schon ein mediales Ereignis gewesen, nicht wahr? Nun ja, immerhin hat er sich für Sibelius eingesetzt und seine erste Aufführung mit den Berliner Philharmonikern beinhaltete glaube ich Sibelius 5., zu Zeiten, als in Deutschland erst seine ersten beiden Sinfonien "durchgesetzt" waren. Ein großes Orchester, ein als groß geltender Dirigent können eine Menge machen, um wertvolles Repertoire zur Durchsetzung zur verhelfen. Merkwürdigerweise scheint das selten zu passieren.

Was sind Eurer Meinung nach die Gründe? Wie steht ihr zu diesem Thema?

Gruß Martin
Thomas133
Hat sich gelöscht
#2 erstellt: 10. Jan 2008, 15:36
Hallo,

Ich bin kein Insider aber hab so meine Vermutungen. Zum einen denke ich hat es sicher eine Verbindung von "Angebot und Nachfrage" und damit der zusammenhängende Sinn "wer war zuerst? Die Henne oder das Ei?"
Ich glaube die großen Orchester möchten bewußt im hauptsächlichen ein Repertoire für den breiten Klassik-Publikumsgeschmack anbieten. (Vielleicht auch durch die besondere staatliche Förderung und Position dazu verpflichtend fühlend) Um jetzt wirklich diese gewissen Werke so gut wie möglich zu beherrschen - und diesen hohen Qualitätsanspruch haben sie gewiss - bedarf es wahrscheinlich auch ein gewisses Mass an immer wiederkehrenden Aufführungen/Proben und herumfeilen an den Details. Da bleibt dann nicht mehr so viel Spielraum für viele andere Werke.
Da muß man nicht mal mit Namen wie Kalinikov oder Mjaskovski kommen - die Wiener Philharmoniker haben zB kaum mehr als eine Handvoll CD´s mit Sinfonien Haydn´s auf CD aufgenommen (und davon nur wenige Sinfonien aus dem letzten Drittel seines ganzen Sinfonieschaffens) also ein kleiner Bruchteil seiner Sinfonien. Prokofiev und Schostakowitsch sind bis auf die 1.von Prok. und 5.von Schost. auch nie eingespielt (und vielleicht auch nie aufgeführt worden) Zum Vergleich: von den Beethoven-Sinfonien gibt es schon allein von den Gesamtzyklen mehrere Einspielungen, von Mozarts Jupiter sind mindestens 10 verschiedene Einspielungen veröffentlicht worden.
Hier zeigt sich vielleicht auch das man sich lieber auf etwas konzentrieren will und Klasse statt nur Masse bieten möchte, auch Prioritäten setzen muß und dabei wohl auch an der musikgeschichtlich allgemeinen Bedeutung orientiert wird. Aber ich denke ab und zu packt auch Ihnen die Lust an Neuem und erst unlängst gab es eine polarisierende Aufführung der Philharmoniker im Konzerthaus indem nur 12-Ton-Werke dargeboten wurden, viele Abonenten anscheinend enttäuscht und frustriert vorzeitig den Saal verlassen haben. Desweiteren gibt es vereinzelt CD-Einspielungen wie zB "Wien Modern" wo Ligeti & Co darauf vertreten sind oder unlängst ein Konzert wo zum ersten Mal die 4.Sinfonie Nielsens aufgeführt wurde. Was dann in ihren "Neuentdeckenungen" mit dabei ist ist wohl auch damit gekoppelt mit welchen Ideen der jeweilige Gastdirigent kommt und ob dieser mit dem Orchester Experimente wagen möchte oder auf Nummer sicher altbewährtes Repertoire aufbietet.
Es ist sicher schade für manche sehr guten Werke da Einspielungen der Spitzenorchester sicher mehr Breitenwirkung und Werbeeffekt haben wie eine Einspielung eines eher mittelmäßigen Orchesters, aber für diese ist es sicher auch von Vorteil sich eher an die Kernzone der Klassikkenner zu wenden und selten eingespielte Werke oder gar Ersteinspielungen zu bevorzugen da sie hier in der Klassikszene damit mehr Aufmerksamkeit erregen können wie die hundertste Einspielung der Beethoven-Sinfonien mit enormer Konkurrenz am Markt, da greifen dann meist nur noch die extremsten Komplettisten und Sammelwütigen zu.
Aber mit Rattle bei den Berlinern müßte eigentlich ein aufgeschlossener Dirigent am Werke sein der keine Scheu vor unbekanntem Terretorium hat oder? Vielleicht geht da anhand von veröffentlichten Einspielungen auch Druck von den Labels aus?
gruß
Thomas
Hüb'
Moderator
#3 erstellt: 10. Jan 2008, 18:51
Hallo!

Den Begriff "Majors", hast Du den aus einem englischsprachigen Forum?
In D. wird er im allgemeinen Sprachgebrauch als Kurzform für "Major-Label" benutzt. Ich finde den Titel daher etwas missverständlich.

Zum Inhalt:
Vermutlich sorgt eine Gemengelage aus Gagenforderungen und kommerziellen Erwartungshaltungen dafür, dass die Champions League-Orchester fast ausschließlich (90 %+) mit Aufnahmen des Kernrepertoires betraut sind.

Darüber sollte man sich IMHO allerdings - zumindest mit Blick auf Tonträger - wirklich nicht grämen, ist das allgemeine Orchesterniveau doch dermaßen hoch, dass es nicht unbedingt des CSO oder BPO bedarf, um wenig bekanntes Nischenrepertoire sehr gut einzuspielen.

Und im Konzertsaal sind die vernachlässigten Werke vor (fast) allen Orchestern gleich...

Grüße

Frank


[Beitrag von Hüb' am 11. Jan 2008, 07:31 bearbeitet]
teleton
Inventar
#4 erstellt: 11. Jan 2008, 11:27
Hallo Martin,

ich mine das Wort "MAJORS" bezieht sich auf die bekannten CD-Klassik-Label und nicht auf die Orchester.

Aber abgesehen davon finde ich die Repertoire-Politik von Naxos auch Klasse um viele neue bisher uneingespielte Werke kennenlernen zu können auch Klasse.
Leider kommt es bei Naxos hier und da vor, das ein Orchester oder eine Aufnahme geboten wird, mit dem man nur Mittelmäßig zufrieden sein kann.

Ich denke aber, das alle Klassik-CD-Label zusammen so viel Auswahl an interessantem CD-Programm bieten, dass man zufrieden sein kann.
Ich habe eine Menge sehr ausgefallene Werke, die sowohl von großen und bekannten Orchestern (Berliner PH, Wiener PH, NewYorker PH, Chicago SO, Cleveland O) gespielt werden, wie auch von den großen CD-Labeln (DG; Decca; EMI.....).
Mellus
Stammgast
#5 erstellt: 11. Jan 2008, 12:04
Hallo zusammen,

ich möchte noch einen weiteren Aspekt zur Diskussion beisteuern, nämlich dass die asymmetrische Häufigkeitsverteilung von Komponisten und Werken ganz normal ist. Es scheint, als sei so etwas eine Regel in vielen (allen?) Bereichen des menschlichen Lebens und Verhaltens. Bekannt wurden solche ungleichen Verteilungen in der Sprachwissenschaft und als
Zipf'sche sGesetz formuliert. In einem Text kommen einige Wörter sehr häufig vor, andere selten. Wenige Wörter haben 12 oder mehr Buchstaben, viele Wörter nur 3 oder 4. In gesellschaftlichen Zusammenhängen konnten und können ähnliche Phänomene beobachtet werden: es gibt nur wenige Menschen, die sehr reich sind, viele Menschen haben kein Geld. Usw. usf. Die Ursachen dafür sind sicher komplex, aber vielleicht gibt es in der Klassik ja auch etwas Zipf'sches.

Naxos und Konsorten in allen Ehren, ich kann mir aber gut vorstellen, dass ihre Repertoirepolitik nicht nur hehren Idealen folgte, sondern einfach der Überlegung, auf welchem Sektor sie CDs verkaufen können. Der "Mainstream" ist durch die übermächtigen Majors einfach dicht. Aus der Not eine Tugend machen nennt man das wohl.

Viele Grüße,
Mellus
Gantz_Graf
Hat sich gelöscht
#6 erstellt: 11. Jan 2008, 12:10

Martin2 schrieb:
Die Majors, das sind die großen bedeutendsten Sinfonieorchester. Berliner Philharmoniker, Chicago Symphony Orchester, Londoner Sinfonie Orchester, Londoner Philharmoniker und noch ein paar andere.


Mit "Majors" meint man eigentlich Labels.

ROTFL. Ich zähle mal die Orchester weiter auf, in absteigender Wichtigkeit: Royal Concertgebouw, Boston SO, Lahti SO, Dortmunder Philharmoniker, Sing- und Blasverein Radevormwald, Oma Gerlinde aus Essen-Huttrop und ihr singender Papagei, Wiener Phi... *duck*....


[Beitrag von Gantz_Graf am 11. Jan 2008, 12:14 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#7 erstellt: 11. Jan 2008, 13:17
Man muß hier unterscheiden zwischen dem, was auf LP/CD eingespielt wurde und dem, was im Konzert geboten wird. Die Wiener Philharmoniker spielen meines Wissens im Konzert ein deutlich breiteres Repertoire als ihre Aufnahmen vermuten lassen. Es gibt kaum Aufnahmen etwa mit Strawinsky, Debussy, Ravel, aber das gilt selbst in Wien heute nicht mehr als Avantgarde und wird im Konzert durchaus gespielt.
(Programme kann man leicht ergoogeln)

Aber das ist maximal konservativ. Die New Yorker Philharmoniker unter Bernstein in den 50ern und 60er und später unter Boulez hatten selbstverständlich Programme von außerordentlicher Breite, vom Barock bis zur Moderne und zeitgenössischen Musik.

Ähnliches gilt für viele andere Orchester, natürlich auch abhängig vom Chef- oder wichtigen Gast-Dirigenten.
Die deutschen Rundfunkorchester sind erstklassig und spielen ziemlich viel modernere Musik.
Barock und Klassik sind inzwischen freilich auch von den historisierenden Ensembles belegt, so dass es verständlich ist, wenn die weniger bei den Programmen der großen Sinfonieorchester auftauchen.

Karajan ist einer der Dirigenten, die extrem auf Nummer Sicher gegangen zu sein scheinen und offenbar sehr wenig Interesse an Musik jenseits des Gängigen, egal ob Moderne oder weniger Bekanntes des 18. u. 19. Jhds. hatten. Er hat um 1970 drei Platten mit Musik der 2. Wiener Schule gemacht, da war das aber nicht mehr wirklich neu. Wenn man das mit den unzähligen Uraufführungen, die Bernstein, Fricsay, Scherchen u.a. geleitet haben vergleicht, ist das ziemlich arm. Er hat seinen gigantischen Einfluß nicht für unbekannte Musik genutzt (sondern hauptsächlich zur Steigerung des eigenen Ansehens...)

viele Grüße

JK jr.
Martin2
Inventar
#8 erstellt: 11. Jan 2008, 15:33
Sollte ich mich mit dem Begriff Major wirklich täuschen? Ich erinnere mich, daß Marin Alsop mit den Londoner Philharmonikern die Brahmssinfonien eingespielt haben und in diesem Zusammenhang begegnete mir halt der Begriff "Major", weil die Londoner Philharmoniker halt ein Spitzenorchester sind und daß ein solches Orchester für Naxos einspielte halt sehr ungewöhnlich war. Im übrigen war das meiner Erinnerung nach nicht mal ein englischsprachiger Text. Ich glaube, man sollte doch nicht zu ausgefallene Wörter benutzen.
Mellus
Stammgast
#9 erstellt: 12. Jan 2008, 10:58
Hallo allerseits,

den Begriff Major Label gibt es zumindest auf Wikipedia. Dort werden auch mal ein paar Namen genannt. Interessant: Sogar Universal (die ich immer für ein ziemich großes Label gehalten habe) gehört offenbar zu einem noch größeren "Major", nämlich Vivendi.

Viele Grüße,
Mellus
Kings.Singer
Inventar
#10 erstellt: 13. Jan 2008, 14:43
Hi.

Was die Streuung des Repertoires zumindest im CD-Sektor angeht, halte ich das für reine Kalkulation. Wenn ein CD-Label ein Orchester wie z.B. das Chicago Symphony Orchestra und dazu noch einen Spitzendirigenten zahlt (hinzu kommt noch das Aufnahmeteam, Solisten und und und), will es das Resultat (die CD) auch verkaufen.
Und garantiere mal Universal, dass Max Mustermanns erstes Oratorium "Das Hartzer Landleben" die Unkosten deckt und dabei noch Gewinn für das Unternehmen abwirft (Namen und Titel sind rein fiktiv ), weil es die Leute überall auf der Welt hören wollen.

Da kann Naxos schon mehr punkten. Kleinere Orchester (usw.), weniger Unkosten und dabei einen Nischensektor treffen, in dem die CDs dann auch entsprechend billig an den Mann gebracht werden können.


Das Gleiche gilt für Spielpläne. Was nutzt es den Wienern Struktur 3.561 von Stockhausen zum Besten zu geben, wenn der Saal dann quasi leer bleibt?!


Einfaches Angebot / Nachfrage Prinzip.

Viele Grüße,
Alex.


[Beitrag von Kings.Singer am 13. Jan 2008, 14:44 bearbeitet]
Mellus
Stammgast
#11 erstellt: 13. Jan 2008, 15:28

Kings.Singer schrieb:
Was nutzt es den Wienern Struktur 3.561 von Stockhausen zum Besten zu geben, wenn der Saal dann quasi leer bleibt?!


Zumindest den armen Musikern könnte es nützen: die dürften dann auch mal etwas Aufregendes spielen und nicht immer dasselbe.

Alles auf ein einfaches Angebot-Nachfrage-Prinzip zurückführen zu wollen, ist -- bei allem Nutzen, den dieses simple, aber simplifizierende Modell mit sich bringt -- wohl auch zu einfach. Eine ganz beliebte Masche ist es doch beispielsweise, Nachfrage zu manipulieren, zum Beispiel dadurch, sie einzureden wo sie eigentlich gar nicht besteht. Und: wer fragt etwas nach, was er gar nicht kennt? "Struktur 3.561" kannte ich bisher nicht. Ob es wohl ein Angebot gibt, wenn ich es nachfrage? Ich glaube nicht.

Viele Grüße,
Mellus


[Beitrag von Mellus am 13. Jan 2008, 15:29 bearbeitet]
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