Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 6

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Thomas228
Stammgast
#1 erstellt: 19. Nov 2006, 22:20
Liebe Schostakowitsch-Freunde,

weiter geht es in der Reihe der Schostakowitsch-Sinfonien. Wie üblich soll die sechste Sinfonie in den Unterpunkten "Geschichtlicher, biographischer Hintergrund", "Werkbeschreibung" und "Interpretationen auf CDs" den Lesern des Forums näher gebracht, möglichst auch besprochen und diskutiert werden. Anders als bei den bisher in dieser Beitrags-Reihe besprochenen Sinfonien, darauf sei schon jetzt hingewiesen, hege ich allerdings gewisse Zweifel, ob ich der Richtige bin, um die Sinfonie Nr. 6 vorzustellen. Zweifel, die darauf gründen, dass ich den Zugang zu dieser Sinfonie noch immer nicht recht gefunden habe, dass mir den Sinfonie einfach nicht liegt, was vor allem mit ihrer Struktur und dem dritten Satz zusammen hängt. Zur Folge hat dieses leichte Unbehagen, dass ich mich bei der Nennung von Empfehlungen, bei den Interpretationen also zurückhalten werde. Jetzt aber erst einmal wie üblich:

1. Geschichtlicher, biographischer Hintergrund

Schostakowitsch schrieb die Sinfonie Nr. 6 im Jahre 1939. Obgleich der stalinistische Terror weiterhin im vollen Gange war - ihm fielen unter anderem 1938 Ossip Mandelstam, 1939 Issaak Baabel und 1940 Schostakowitschs enger Freund, der uns bereits bekannte Wsewolod Meyerhold zum Opfer –, erging es Schostakowitsch besser: Er, dessen zweites Kind Maxim Schostakowitsch im Mai 1938 geboren worden war, hatte sich mit dem Erfolg seiner fünften Sinfonie, die offiziell als Antwort eines Künstlers auf berechtigte Kritik galt, fürs erste dem Zugriff der Schergen Stalins entzogen. Er schrieb weiterhin die von ihm verlangte Filmmusik, schrieb auch sein erstes Streichquartett in problemlosem, leicht zugänglichem Stil und kündigte zudem noch an, eine Vokalsymphonie zu Ehren Lenins zu komponieren. Diese Behauptung war inhaltsleer, wie man heute weiß, war aber aus Sicht Schostakowitschs bestens geeignet, um erst mal Ruhe zu haben.

Die sechste Sinfonie, die nun aber anstelle der manchenorts erwarteten Leninsinfonie erklang, führte wegen ihrer äußeren Gestalt zu Diskussionen. Wich Schostakowitsch erneut von der offiziellen Linie ab? Die Kritiker hielten sich erstmal zurück. Beim Publikum aber hatte die Sinfonie Erfolg. Und Schostakowitsch, inzwischen ordentlicher Professor an dem Leningrader Konservatorium und in einer geräumigen Suite im Hause des sowjetischen Komponistenverbandes lebend, erhielt sogar wenig später den Stalinpreis für sein Klavierquintett.

2. Werkbeschreibung:

Die äußere Gestalt, habe ich soeben geschrieben, führte zu Diskussionen. Kein Wunder! Sie ist in der Tat seltsam, in Zeiten des sozialistischen Realismus geradezu absonderlich. Die Sinfonie besteht aus drei Sätzen, die zeitlich betrachtet nicht recht zusammen passen. Von den insgesamt rund 30 Minuten der Sinfonie nimmt der erste Satz schon knapp 20 in Anspruch, der zweite und dritte rund 5 bzw. 6. Ein Missverhältnis? Wir werden sehen.

Das Largo beginnt in tragischer Größe. Beachtenswert sind zwei Motive: Das erste besteht aus den ersten vier Noten der Sinfonie. Das zweite, es besteht aus sieben Noten, erklingt erstmalig beim ersten Auftreten der Pauken (bei 0:45, hier und im Folgenden werden die Zeiten der Barshai-Aufnahme angegeben): drei steigende Noten, eine tremolierende längere Mittelnote und wieder drei steigende Noten. Nach zwei Minuten, das Anfangs-Grandioso ist zur Ruhe gekommen, beginnen die Geigen mit dem 7-Ton-Motiv ihren Klagegesang (2:08), in den die Holzbläser nach und nach einstimmen. Prägnant wird das 7-Ton-Motiv mehrfach wiederholt. Bei 4:01 erklingt ein wunderschönes Flötensolo – auch die Flöte spielt das 7-Ton-Motiv –, das seinen Zauber nicht zuletzt deshalb verströmt, weil es von zarten Tupfern der Harfe untermalt wird. Danach (4:37) kehrt das Anfangsmotiv zurück. Mit ihm wird ein langer, von den Streichern beherrschter, großartiger Aufschwung eingeleitet, der bei 5:14 in den Geigen seinen schrillen Höhepunkt erreicht und in den hinein die Trompeten das 4-Ton-Motiv erschallen lassen (5:24). Von dort ganz oben steigen die Streicher terrassenartig herab. Dazu donnern die Pauken ein gewaltiges Dum-dadum (5:30) und auch das Blech steht nicht zurück, bis der Boden erreicht ist. Leises Grummeln der Violinen ist zu hören, vereinzelte Einwürfe der Pauke, nichts sonst ist geblieben.

Schostakowitsch hat uns hier vorgeführt, was er beherrschte, wie kein anderer. Das langsame, aus vorhandenen Motiven erarbeitete Ansteigen der Spannung, der gewaltige Höhepunkt, das perfekt gearbeitete Abebben, die verbleibende Leere, die Kälte. All das kennen wir bereits. Auch wie es weiter geht, ist uns wohl vertraut, könnten wir, wenn wir es nicht bereits wüssten, erraten. Ein Holzbläsersolo (hier bei 6:16 das Englisch Horn) kontrastiert mit seinem warmen Klang aufs Herrlichste mit der grundierenden Fahlheit. Ein „Trick“ von Schostakowitsch, der seine Wirkung nie verliert.

An dieser Stelle breche ich die detaillierte Beschreibung des Satzes ab und setze verkürzt fort: Die traurige Holzbläsermelodie wird fort gesponnen, beherrscht für eine Weile das Feld. Das weitere Strickmuster ist uns vertraut: wechselnde Instrumente (Trompete, Flöte...), ein tragischer Höhepunkt. Danach wieder ein Holzbläsersolo (Oboe, später Flöte). Die Melodie zerfällt. Kraftlosigkeit, Betäubtheit herrschen vor.

Dann aber, bei 14:30, geschieht Erstaunliches: Ein neuer, warmer Klang ist zu hören. Und das Wunder ist: Er darf bleiben. Länger als je, über zwei Minuten lang, erlaubt sich Schostakowitsch von menschlicher Wärme zu träumen, erreicht er lyrische Höhen, die zu betreten er sich bisher versagt hatte. Erst bei 16:33 findet die Episode mit dem 7-Ton-Motiv ihr Ende. Bei 16:46 ertönt einmalig schroff das Blech. Schon aber übernehmen Bass-Klarinette und Fagott das Spiel. Die entstehende Stimmung ist unklar, changiert zwischen Klagen und Hoffen, Kälte und Wärme. Am Ende des Satzes erklingen im Wesentlichen nur noch die Geigen. Bereits nach dem ersten Höhepunkt (bei 6:00) war ihr Grummeln zu hören. Hier grummeln sie wieder. Nach dem lyrischen Intermezzo klingt es wie eine Frage.

Der zweite Satz ist ein herrliches, munteres Scherzo, wie wir es von Schostakowitsch bereits kennen. Wie im Scherzo der ersten Sinfonie drängt die Musik stürmisch nach vorn, allerdings nicht mehr übermütig wie dort, sondern perfekt gestaltet. Nach den Trompetenfanfaren (1:25) beginnt der Mittelteil (1:37). Auch hier findet sich das tonsprachlich vertraute Zwitschern der Flöte. Auch hier „arbeitet“ die Musik auf einen Höhepunkt hin, der bei 3:32 mit den erneuten Trompetenfanfaren und einem anschließenden erreicht wird. Dieser Höhepunkt ist wiederum großartig gestaltet. Bei 3:36 markiert ein lauter Schlag auf den Gong das Ende der Steigerung. Nahtlos folgt ein Paukensolo, auf das die Klarinetten den Anfangsteil folgen lassen, und zwar normal und umgekehrt gespielt zugleich. Weiter geht das wilde Treiben, dann aber wird die Stimmung allmählich dunkler, bis schließlich ein Aufwärts-Lauf den Satz beendet.

Der dritte Satz, ein Presto, ist ein munterer Kehraus, bestimmt von der Bonanza-Melodie, die gleich zu Anfang ertönt und die verschiedenen Abschnitte sequentiert Anmerkung: Es handelt sich natürlich nicht um die Bonanza-Melodie, sondern um eine Tonfolge aus der Wilhelm Tell-Ouvertüre; aber ich wette, 99 % der Hörer assoziieren Bonanza, so auch ich). Bei 1:51 kommt es zu einem Umschwung in Form eines Rhythmuswechsels. Die tiefen Streicher melden sich zu Wort. Es folgt auch in diesem Satz ein großer Aufschwung mit Paukensolo und Gong, auch an dieser Stelle gefolgt von Holzbläsern (Das Fagott singt kurz eine orientalische Weise, vgl. den Mittelteil des Scherzos der Sinfonie 1). Ab 3:46 führt die Solovioline zum Anfangsgalopp zurück. Mit dem Erklingen der Triangel wechselt (bei 5:05) die Tonart. In warmem Dur geht die Sinfonie heiter und fröhlich zu Ende, wie es niemand für möglich hält, der Schostakowitschs Weg bis hierher kennen gelernt hat.

Damit, lieber Leser, ist die Werkbeschreibung zu Ende. Und jetzt gestehe ich offen: Der dritte Satz vermiest mir die ganze Sinfonie. Ich kann diesen Satz nicht hören, ohne an Bonanza, Tom und Jerry und an Operettentheater zu denken. Ich verstehe ihn auch nicht. Wie kann Schostakowitsch so etwas schreiben? Muss ich meinen ganzen Ansatz hinterfragen? Ist es so, wie Aladdin bereits in der Diskussion der fünften Sinfonie geschrieben hat, dass ich zuviel in die Sinfonien Schostakowitschs hineininterpretiere? Wenn Schostakowitsch in der Situation von 1939, also zwar nach leidlich überstandener existentieller Angst, aber doch noch inmitten des Terrors einen solch fröhlichen Operettensatz schreiben kann und es keinen Hinweis darauf gibt, dass dieses Ende ironisch gemeint sein könnte – es gibt ihn nicht! – , ist dann die weit verbreitete Interpretation der Sinfonien Schostakowitschs aus seinem Leben, aus seinem Leid heraus nicht schon widerlegt, weil das Ende der sechsten Sinfonie aus dieser Interpretationshaltung heraus nicht zu erklären ist? Ich weiß es nicht. Manchmal wünschte ich, man könnte so tun, als wäre die sechste Sinfonie Fragment geblieben. Ich schlage vor (nicht ernst gemeint), wir streichen den dritten Satz und nennen die Sechste ab heute Schostakowitschs Unvollendete. Das geht aber leider auch nicht. Ich weiß, die Sechste ist nicht unvollendet. Ich weiß, was folgt. Ich kann den ersten, den zweiten Satz nicht hören, ohne zu wissen, was kommt.

3. Interpretationen auf CDs:

Eine Übersicht der vorhandenen Aufnahmen findet sich hier: http://develp.envi.o...dsch/work/sym6e.html

Ich besitze folgende CDs:

Barshai, WDR-Sinfonieorchester, aufgenommen 1995
Haitink, Concertgebouw Ochestra, aufgenommen 1983
Järvi, Scottish National Orchestra, aufgenommen, 1985
Jansons, Oslo Philharmonic Orchestra, aufgenommen 1991
Kondrashin, Moscow Philharmonic-Orchestra, aufgenommen 1967
Mrawinskij, Leningrad Philharmonic Orchestra, aufgenommen 1972
Sanderling, Berliner Sinfonie-Orchester, aufgenommen 1979

Aus den genannten Gründen beschränke ich mich an dieser Stelle darauf, zu sagen, dass mir die Aufnahmen von Barshai und Sanderling am besten gefallen. Mögen diejenigen, die von sich sagen können, sie mögen die sechste Sinfonie, ihre liebsten Aufnahmen vorstellen.

Sollte jemand Fragen zu den genannten Aufnahmen haben, bin ich selbstverständlich gern bereit, nähere Angaben zu machen.

Mit großem Interesse an vielen Einstellungen und Meinungen zu dieser Sinfonie, zu dem dritten Satz, zu den angesprochenen Problemen grüßt freundlich

Thomas
teleton
Inventar
#2 erstellt: 20. Nov 2006, 08:22
Hallo Thomas228,

wegen des schlechtes Wetters, hatte ich mir schon gedacht, dass jetzt die weiterhin schöne Fortsetzung der Schostakowitsch-Sinfonien von Dir folgt.

Die Sinfonie Nr.6 schätze ich im Gegensatz zu Dir sehr. Die drei Sätze erfahren im Verlauf sind nicht nur eine tempomäßige Steigerung, sondern auch von der Emotionalität.
Das Du beim dritten Satz quasi Schwierigkeiten hast und sogar "vermießt mir die ganze Sinfonie" schreibst kann ich für meinen Geschmack nicht nachvollziehen.
Bei mir ist es so, dass ich beim Hören geradezu diesen Satz herbeisehne. An anderer Stelle (Rossini: Wilhelm Tell-Ouvertüre) habe ich auch schonmal gelesen, das jemand Bonanza asoziiert, worüber ich mich schon damals wunderte. Das wäre mir ehrlich gesagt nie in den Sinn gekommen:
Zitat zu Wilhelm Tell und fertig - schön.

Da Du weniger auf verschiedene Aufnahmen eingegangen bist möchte ich meine Eindrücken zu Aufnahmen der Sinfonie Nr.6 erzählen:

Meine erste Aufnahme, war damals Kondraschin auf Eurodisc-LP(wie bei fast allen Schostakowitsch-Sinfonien (auch Swetlanow)). Von Anfang an war ich sehr begeistert von der Sinfonie Nr.6.

Die Mrawinsky-Aufnahme (Eurodisc) hatte mich damals wegen des schlechten Klanges nicht weiter interessiert. Es war ein ältere Aufnahme um 1960 (nicht Deine von 1972, die mich auch interessieren würde).

Auf CD wurde dann später die Haitink-Aufnahme (Decca) gekauft. Diese hatte den Vorteil des besseren Klanges und als Medium CD; diese hat mich Jahrelang zufriedengestellt und ich habe nichts anderes mehr gehört. Eine Aufnahme an der es IMO nichts zu bemängeln gibt - es ist alles perfekt da, was man an Tiefe und Emotionalität wünscht.

Irgendwann kaufte ich mir dann in Einzel-CD´s die Roshdestwensky-Aufnahmen.
Die Roshdestwensky-Aufnahme (Eurodisc)der Sinfonie Nr.6, hat mich dann wirklich umgehauen. Wenn die Sinfonie zu Ende ist sitzt man erst mal ergriffen und regungslos im Hörsessel und muß das eben gehörte verdauen - einfach Klasse.
Wie Roshdestwensky die Sinfonie bis zum letzten Satz steigert ist unglaublich spannend.

Erst diesen Monat habe ich durch meine AULOS-Box mit Freude zu Kondraschin zurückgefunden, die nun bekanntlich eine wesentlich bessere Klangqualität als die LP und das alte Melodyia-CD-Remastering hat. Kondraschin ist von meinem Favorit Roshdestwensky interpretatorisch nicht weit entfernt und bietet noch straffer, aber sachlicher was man an russischer Atmosphäre in den Schostakowitsch-Sinfonien sucht.

Die Maxim Schostakowitsch-Supraphon-Live-Aufnahme ist interpretatorisch auch eine gute "Westaufnahme", mit den Pragern aber im Gegensatz zu Rosh und Kondraschin ein "laues Lüfterl", was auch an der stumpfen Live-Klangqualität liegen mag; da hat Barshai mit dem Kölner RSO (Brillant) für meinen Geschmack nicht nur klanglich einfach mehr zu bieten. Diese ist ja die Aufnahme zu der Du noch am meisten tendierst.
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#3 erstellt: 20. Nov 2006, 11:34

Thomas228 schrieb:

Ich besitze folgende CDs:

Barshai, WDR-Sinfonieorchester, aufgenommen 1995
Haitink, Concertgebouw Ochestra, aufgenommen 1983
Järvi, Scottish National Orchestra, aufgenommen, 1985
Jansons, Oslo Philharmonic Orchestra, aufgenommen 1991
Kondrashin, Moscow Philharmonic-Orchestra, aufgenommen 1967
Mrawinskij, Leningrad Philharmonic Orchestra, aufgenommen 1972
Sanderling, Berliner Sinfonie-Orchester, aufgenommen 1979


Dem kann ich nicht viel hinzufügen, da ich mich mit der 6. auch noch nicht so intensiv beschäftigt habe. Ich habe alle der o.g., ausser Järvi, der mich im allgemeinen nicht interessiert, und ausserdem noch Polyansky/Russische Symphonische Staatskapelle (ist OK, muss man ber nicht unbedingt haben) und Bernstein/Wiener Philharmoniker. Letztere aus LB's Spätphase, daher ist der erste Satz auch ziemlich langsam, aber ausdrucksstark, das Finale aber sehr flott und virtuos gespielt. Lohnt sich auf jeden Fall anzuhören.

Vielen Dank für den ausführlichen Artikel.
teleton
Inventar
#4 erstellt: 21. Nov 2006, 08:18
Hallo Thomas228,

ich habe mir gestern abend (über Kopfhörer) den letzten Satz mal wieder angehört um zu prüfen, ob man tatsächlich an Bonanza denken könnte. Wie schon gesagt, kann ich dies nun gar nicht asoziiren - lediglich die Tonfolgen aus Wilhelm-Tell, die Schostakowitsch aber zu seinem eigenen Thema macht, da er nicht "wörtlich" zitiert.
Ich find es wahnsinnig gut gemacht, denn zu so leichfüßiger Sinfonik hat Schostakowitsch erst wieder in der Sinfonie Nr.9 und 15 gefunden.

Ich habe dazu eine Aufnahme gewählt, die ich in meinem Vorbeitrag noch nicht erwähnt hatte:
Leonard Bernstein / New Yorker PH (SONY)
Das ist ja insgesamt eine ganz gute Aufnahme, aber der letzte Satz hat nicht den überbordenden Spielwitz den Roshdestwensky und Kondraschin einbringen und größte Spannung erzeugen - Bernstein ist mehr sachlich und witzig statt ein Fragezeichen zu setzen !
Thomas228
Stammgast
#5 erstellt: 21. Nov 2006, 09:23
Hallo teleton,

du hast ja Recht, es ist natürlich nicht Bonanza. Aber ich kann mir nicht helfen, ich assoziiere es trotzdem. Dass Schostakowitsch das betreffende Thema hervorragend gemacht hat, bezweifele ich ebenfalls nicht. Es ist nur nicht mein Geschmack, zu sehr Operette.

Übrigens hat Schostakowitsch mal geäußert, sein Musikgeschmack reiche von Bach bis Offenbach, konnte er also mit Operettenmusik sehr wohl etwas anfangen.

Interessant finde ich, dass dieser Thread bislang auf keine nennenswerte Resonanz stößt - ausgenommen natürlich auf die deine, treuer Gefährte .

Liegt es daran, dass viele Forianer meine doch zurückhaltende Einschätzung der Sinfonie Nr. 6 teilen?

Thomas
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#6 erstellt: 21. Nov 2006, 10:19
Nee, ich glaube, das liegt daran, dass hier sowieso offensichtlich nur eine sehr kleine Handvoll Leute posten, und von denen kennt wahrscheinlich nicht jeder die 6..
Laubandel
Ist häufiger hier
#7 erstellt: 21. Nov 2006, 10:34
Die Sechste gehört zu meinen Lieblingssymphonien von DSch. Sobald es die Zeit erlaubt, möchte ich auch etwas näher darauf eingehen. Für jetzt nur soviel: auch mir gefällt das Finale sehr gut, zeigt einen facettenreichen Schostakowitsch, der sich irgendwo zwischen Clownerie und Sarkasmus in den Durschluss rettet.
Das Wilhelm Tell - Thema mit Bonanza als Nachsatz zu versehen gahört übrigens nicht nur zu meinen klavierimprovisatorischen Fetengags...

Cheers

laubandel


[Beitrag von Laubandel am 21. Nov 2006, 15:51 bearbeitet]
s.bummer
Hat sich gelöscht
#8 erstellt: 21. Nov 2006, 11:08
Mal abgesehen davon, dass die 6. zu den Sinfonien von DS gehört, auf die ich ungern verzichten möchte, siehe andere Beiträge von mir, gefällt mir gerade das sarkastische Finale ausgezeichnet.
Den 1. Satz stelle ich gleichberechtigt neben den 1. der 10. und da mir der affirmative Schluss der 10. gar nicht mehr gefällt, fühle ich mich mit der 6. viel wohler.
Wird in der 5 der Legende nach jemand zum Jubel gezwungen, so hier anscheinend zum Fröhlichsein, aber nur noch viel überdrehter.
Und ich gebe Wolfgang völlig recht, dass dieser Stil in Sinfonien von DS nur noch ganz selten zu hören ist, nämlich sparsamer in der 9. und in der 15. dann schon sehr dunkel und bitter.

Ab der 7. geht es dann in der Regel "staatstragend" ernst zu, selten fröhlich, meistens tragisch, auch selbstmitleidig (10, 14, 15), es war ja auch nun keine lustige Zeit.

Hingegen ist im Frühwerk (Die Nase, Der Bolzen, 1. Sinfonie, Ballettmusiken) diese rausschmeisserische Musik häufiger zu hören.
Mit der 6. wird dann in Sinfonien davon eigentlich Abschied genommen. Die Zeiten sind nichts mehr für sarkastische Fröhlichkeit.

Doch abseits solcher Überlegungen, macht es einfach Spaß, die 6. zu hören.
Ich habe Barschai, Haitink und Mrawinski 1972, dessen Aufnahme mir eigentlich am besten gefällt.

Gruß S.
Thomas228
Stammgast
#9 erstellt: 21. Nov 2006, 11:30
s.bummer schreibt:


Mal abgesehen davon, dass die 6. zu den Sinfonien von DS gehört, auf die ich ungern verzichten möchte, siehe andere Beiträge von mir, gefällt mir gerade das sarkastische Finale ausgezeichnet...
Wird in der 5 der Legende nach jemand zum Jubel gezwungen, so hier anscheinend zum Fröhlichsein, aber nur noch viel überdrehter.


Laubandel schreibt:


auch mir gefällt das Finale sehr gut, zeigt einen facettenreichen Schostakowitsch, der irgendwo zwischen Clownerie und Sarkasmus.


Diese Bemerkungen finde ich äußerst interessant. Ich habe oben geschrieben, man könne den dritten Satz nicht ironisch verstehen. Ich gehe bis jetzt davon aus, dass die Fröhlichkeit des dritten Satzes ernst gemeint ist. Eben von diesem Ausgangspunkt her ergeben sich die von mir angesprochenen Fragen zur Zulässigkeit der Interpretation aus der Biographie heraus.

Wenn der dritte Satz sarkastisch zu verstehen ist, wenn die Fröhlichkeit nicht ernst gemeint ist, dann verschwinden meine interpretatorischen Probleme - was nicht bedeutet, dass ich den Satz dann lieber mag.

Das muss ich nochmal genauer überprüfen. Ich werde mir also gezielt nur den dritten Satz meiner Aufnahmen daraufhin anhören, ob die Fröhlichkeit ernst gemeint klingt oder nicht. Mal sehen (heute und morgen Abend gibt es allerdings erst mal Fußball).

Teleton, wie verstehst du den dritten Satz: aufrichtig fröhlich, clownesk, sarkastisch?

Thomas


[Beitrag von Thomas228 am 21. Nov 2006, 12:38 bearbeitet]
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#10 erstellt: 21. Nov 2006, 11:51

s.bummer schrieb:

Hingegen ist im Frühwerk (Die Nase, Der Bolzen, 1. Sinfonie, Ballettmusiken) diese rausschmeisserische Musik häufiger zu hören.
Mit der 6. wird dann in Sinfonien davon eigentlich Abschied genommen. Die Zeiten sind nichts mehr für sarkastische Fröhlichkeit.


Wie sieht's mit der 9. aus? Wie seht Ihr die dort verbreitete Heiterkeit?


[Beitrag von M_on_the_loose am 21. Nov 2006, 11:53 bearbeitet]
Laubandel
Ist häufiger hier
#11 erstellt: 21. Nov 2006, 16:41
Ich habe mir gerade die feine SACD mit der 6. von Jurowski (in "deutscher" Aufstellung ) draufgetan, leider hat die geliehene Partitur schon wieder mein Haus verlassen, die brauch ich zur Vertiefung demnächst wieder. Aber jetzt geht es erst einmal zur Klärung des Ausdruckscharakters im Finale, und das geht mit den Ohren alleine.

Man kann nicht sagen, daß zwischen dem 2. und 3. Satz liegen unbedingt Welten liegen, eigentlich sind sie beide Verwandte eines Scherzo-Typus. Beim Finale würde ich den Eindruck von Ironie/Sarkasmus an zwei signalhaft wirkenden Dingen festmachen. Zum Ersten ist es das verfremdete Rossinizitat, es klingt wie eine Interpretation des Schweizer Freiheitshelden durch Charlie Chaplin, gerade in der slapstickartigen Wiederholung und der absichtlich "unbeholfenen" Harmonisierung, die dann folgt. Das andere ist die vor alllem gegen Ende hin zunehmende, sozusagen stilisierte Banalität nach der Art von Zirkusmusik.

Vielleicht lassen sich schlußendlich Freude, "sportlicher" Spaß und Ironisches bei Schostakowitsch gar nicht trennen und vielleicht ist die Quintessenz seiner musikalischen Aussage, daß es das "Positive" ohne das "Negative" nicht geben kann - nicht als Gegenüberstellung sondern in jedem Moment ineinander verwoben. Den Satz als ungebrochene Freude wahrzunehmen verbietet sich vielleicht auch aus einem anderen Grunde: Es gibt keine komponierte Logik, die dahin führt, die Fröhlichkeit tanzt einfach so in das Trauerhaus hinein. Das dürfte damit zu tun haben, daß Schostakowitsch, wie ja seinen Kritikern gleich übel auffiel, kein "dialektisches" Sonatenallegro an den Anfang stellte, wie es die Ästheten des sozialistischen Realismus gerne gehabt hätten und zum Fetisch erhoben (siehe die Apostrophierung des Werks als "Torso ohne Kopf). Und so kann das erreichen der symphonischen Finaleuphorie auch nicht als logisch-stringenter Prozeß im traditionellen Sinn erreicht werden.

- Bei aller Operettenhaftigkeit, allem Zirkusgebaren und was da noch wäre, der Satz macht mir unglaublich Spaß, denn unter der Oberfläche passiert ja so manche kleine Verrücktheit, etwa durch klitzekleine metrische Verschiebungen. Das ist schon enorm kunstvoll.

Herzliche Grüße,

laubandel

(Formalist und Volksfeind, jawoll)


[Beitrag von Laubandel am 21. Nov 2006, 20:04 bearbeitet]
op111
Moderator
#12 erstellt: 21. Nov 2006, 19:29
Hallo zusammmen,
@Thomas228
erst mal vielen Dank für deine ausführliche Sastellung der 6. (wie auch der anderen Werke).

Thomas228 schrieb:
Interessant finde ich, dass dieser Thread bislang auf keine nennenswerte Resonanz stößt...
von Resonanzlosigkeit kann m.E. keine Rede sein.
Ich stelle bei mir allerdings eine Sättigung mit der Musik von DSCH fest, die aus dem derzeitigen Überangebot resultiert.


Thomas228 schrieb:
Liegt es daran, dass viele Forianer meine doch zurückhaltende Einschätzung der Sinfonie Nr. 6 teilen?
Glaub ich kaum.
Vielleicht liegt's eher daran, daß die 6. (ähnlich wie Beethovens 8.) nicht so populär ist wie die "Hauptwerke" insbes. Nr. 5. 7. 10.

Ich habe sie seit langem nicht mehr gehört. Werd ich gleich mal nachholen.
Die Assoziation an "Bonanza" hatte ich beim 3. Satz nie, eher Mahlers 9./III. es scheint mir wieder mal Lehar zitiert zu werden.

Gruß


[Beitrag von op111 am 21. Nov 2006, 19:35 bearbeitet]
sound67-again
Gesperrt
#13 erstellt: 22. Nov 2006, 09:22
DMIRTRI SHOSTAKOVICH: Symphony No.6 in B minor
Russian National Orchestra, Vladimir Jurowski (Pentatone SACD)



Vorzügliche Aufnahme der sechsten Symphonie: Jurowskis Tempi im Largo sind noch getragener als die Barshais (19:59 gegenüber 18:50), er erhält aber den Spannungsbogen wunderbar und differenziert sehr fein zwischen Passagen absoluten "Trübsinns" und den wärmeren Einsprengseln in der zweiten Hälfte des Satzes. Als Kontrast sind die beiden darauffolgenden Sätze sehr zügig genommen, im Scherzo nochmals 20 Sekunden schneller als Barshai. Die beiden Sätze gewinnen unter Jurowski einen ausgesprochen ballettösen Charakter.

Der Klang des Russischen Nationalorchesters ist überraschend feinsinnig in den Details, aber wenns darauf ankommt kracht das Blech wie zu besten Sowjetzeiten. Gottlob ist die Klangqualität um Längen besser als zu jeder Sowjetzeit - kraftvoll, plastisch, transparent und präsent zugleich, auch kleinste Details entgehend nicht der Lupe der Pentatone-Ingenieure. Aber von denen ist man dergeleichen ja schon gewöhnt. Eine der eindrucksvollsten 6., die ich bis dato gehört habe (und dazu gehören Järvi, Maxim S., Kondrashin, Mravinsky, Barshai, Jansons, Kitajenko, Haitink und Rozhdestvensky).


[Beitrag von sound67-again am 22. Nov 2006, 09:39 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#14 erstellt: 22. Nov 2006, 14:27
Hallo Thomas,

ich habe den Verdacht, dass die Probleme, die Dir das Finale der 6. Sinfonie - ob nun Bonanza oder nicht - bereitet, eigentlich nicht gelöst werden können, wenn man den Satz isoliert betrachtet. Was die 6. Sinfonie vor dem Gattungsmodell, das Schostakowitsch ansonsten pflegte, in meinen Ohren so merkwürdig macht, scheint vielmehr das Verhältnis des ersten zu den beiden folgenden Sätzen zu sein, zu deren krasser zeitlicher Disproportion auch ein radikaler Charakterumschung vom Melancholischen ins überdreht Heitere erfolgt.

Du fragst, ob es Dein hermeneutischen Ansatz sein könnte, der Dir das Verständnis der 6. Sinfonie verstellt. Anlässlich der 5. Sinfonie haben wir darüber diskutiert, inwieweit diese Musik biographisch zu dechiffrieren sei, und mir ist damals Deine konkrete Ausdeutung bestimmter kompositorischer Details gelegentlich zu weit gegangen; trotzdem denke ich, dass der Ansatz nicht grundsätzlich falsch war, weil die Musik auch in meinen Ohren durchaus zahlreiche semantische Konnotationen aufweist. Was mir damals schon auffiel, war Dein Bemühen, eine Art musikalischer Erzählung zu rekonstruieren. Ich denke, dass dies bei der 5. Sinfonie und auch bei vielen anderen Schostakowitsch-Sinfonien im gewissen Rahmen funktioniert - wenn auch vielleicht nicht in dem Maße, wie Du es bei der 5. Sinfonie ursprünglich vorgeschlagen hast. Und ich habe den Verdacht, dass die Probleme, die Dir die 6. Sinfonie bereitet, darauf beruhen, dass eine solche narrative Lesart der Musik hier sehr viel schwerer fällt. Konkret gesagt, führt in der 6. Sinfonie kein unmittelbar erkennbarer Weg vom 1. in den 2. und 3. Satz. Es gibt keine Zwischenstationen - keine schrittweise Auflichtung nach dem Modell "per aspera ad astra" (das in der 10. Sinfonie massiv und in der 8. zumindest als seiner selbst nicht ganz gewisser Schatten erkennbar bleibt, während es in der 5. Sinfonie als Bezugspunkt dient, um dann aber durch die Ambivalenz des Finales gerade zerstört zu werden), aber auch kein Gang in die Katastrophe (wie in der 4. Sinfonie). Der Ausdruckscharakter schlägt einfach ins Gegenteil um, ohne dass man "erzählen" könnte, warum das so ist. Die Frage, die man meines Erachtens klären müsste, um der 6. Sinfonie näher zu kommen, ist daher die nach der Gesamtanlage - nach dem Verhältnis des ersten zu den beiden folgenden Sätzen.

Was mir an Deiner Beschreibung des ersten Satzes der 6. Sinfonie auffällt, ist, dass Du immer wieder hervorhebst, dass hier alles seinen für Schostakowitsch gewohnten Gang gehe, der uns aus anderen Werken vertraut sei. Komischerweise habe ich einen ganz anderen Eindruck: Mir scheint Schostakowitsch in seinen Sinfonien weder vorher noch nachher einen Eröffnungssatz wie diesen komponiert zu haben. Zwar erkennt man auch hier wieder den Bezug auf die Sonatenhauptsatzform: zunächst ein weitausgesponnener erster Themenkomplex (0'00-6'05), der wie in der 5. Sinfonie auf zwei gegensätzlichen musikalischen Gestalten - dem weit ausholenden Kopfmotiv und der fast barock anmutenden kadenzierenden 7-Tonfigur (mit Leittontriller und auskomponiertem Nachschlag) - beruht, die - ihrem barocken Gestus angemessen - zunächst beinahe eine fugatoartige Verarbeitung herbeizuziehen scheint, ohne dabei freilich über Zwei- oder Dreistimmigkeit hinaus zu gelangen und dann gemeinsam mit dem Kopfmotiv zunehmend in wechselnder instrumentaler und harmonischer Beleuchtung diversen Charaktervariationen unterzogen wird; dann der schattenhafte, zwischen Moll und Dur changierende zweite Themenkomplex (6'05-11'08) (in b-moll!), der in seiner zurückgenommenen Dynamik klingt wie ein aus der Ferne herüberwehender Trauermarsch und nur von einzelnen lichteren Holzbläser-Intermezzi unterbrochen wird.
Dass eine Exposition weit ausgesponnen wird und dabei einen eher lyrischen Grundton anschlägt, kennt man beispielsweise auch aus der 5. oder 10. Sinfonie; normalerweise folgt dann aber eine kämpferische Durchführung, die als großer musikalischer Steigerungsprozess auf ihrem Höhepunkt in eine verkürzte Reprise mündet. Ganz anders aber in der 6. Sinfonie: Nicht nur verliert die Exposition, die hier mehr als die Hälfte des gesamten Satzes (11 Minuten in der von Dir herangezogenen Barschai-Einspielung) umfasst, zunehmend an Energie, sondern die nachfolgende, recht kurze Durchführung (11'08-15'14) setzt diesen musikalischen Auflösungsprozess sogar noch weiter fort: orgelpunktartige Trillerfiguren in hoher Lage werden mit kargen Arabesken der Holzbläser kombiniert, die auf ornamentalen Fortspinnungen des Trauermarsch-Motivs beruhen. Statt sich in der Durchführung zu konsolidieren und einen dramatischen Konflikt auszutragen, zerfasert, zerfällt die Musik wie im "Abschied" aus Mahlers Lied von der Erde, das Schostakowitsch bekanntlich sehr liebte. Die Reprise nach dem "warmen", gleichwohl sterbechoralartigen Bläsereinsatz bringt dann vollends nur noch verwehte Anklänge an die beiden Themen (1. Thema 15'14-17'44, 2. Theman 17'44-18'38) und endet in hingetupften Trauermarsch-Bässen. Ein Satz ganz ohne Kampf und Dramatik, wie Schostakowitsch ihn noch nie an den Anfang einer Sinfonie gesetzt hatte, eine Musik der Abseitigkeit, der resignierten Weltflucht und Weltferne, in den die Konflikte nur als ferner Nachklang, als versprengte Reste eines Trauermarschs hineintönen.

Ich glaube nun, dass der Fortgang dieser Sinfonie nach diesem musikalischen Wunder eben nicht in der Fortsetzung einer Geschichte, sondern vielmehr in einem radikalen Perspektivenwechsel geschieht: Die beiden scherzoartigen Sätze 2 und 3 setzen der Weltflucht eine andere Haltung entgegen - nicht die des Kampfes, sondern eine Art Schweijkscher Subversion:
Gestaltenreich, satztechnisch und instrumentatorisch brillant, wirken sie, obwohl sie zusammengenommen nur die Hälfte der Zeit des ersten Satzes einnehmen, für meine Ohren so prall gefüllt und bunt, dass sie entgegen aller zeitlichen Arithmetik in einer Art musikalischen Zeitraffer-Verfahren den elegischen Kopfsatz vollkommen ausbalancieren - Wunder Nr. 2.
Wenn Du Dich an Tom und Jerry erinnert fühlst, so trifft das meines Erachtens genau den richtigen Punkt - die Musik malt das utopische Bild einer Comic-Welt, in der der Gewitzte, Schnelle, Kleine und Schwache den Großen und Starken austrickst. Achte nur einmal darauf, wie in die quirlige Musik des 2. Satzes im Trio ab 2'15 auf einmal dunkle Töne eindringen, die die Musik unversehens zu einem negativen Höhepunkt im Orchestertutti 3'30-3'44) führen, aus dem die Flöten nach dem gewalttätigen Paukensolo aber sogleich wieselflink hervorhuschen, als könne nichts und niemand sie einschüchtern.
Die Operetten-Anklänge des Finales sind daher - wie Du meines Erachtens richtig bemerkst - nicht ernstlich sarkastisch gemeint, sie sind keine Verzerrung und bösartige Parodie "niederer" Musik wie die Marsch-Episoden der 5. Sinfonie, sondern greifen in ihren unverhüllten Rossini-Anklängen den Operetten- und Buffo-Traum einer allumfassenden musikalischen Verwirbelung, einer Überwindung der Schwerkraft auf - so natürlich insbesondere, wenn in der Stretta das zuvor im tänzerischen Dreiertakt vorgestellte Seitenthema in einen geradezu Offenbach'schen Galopp im Feuerwehrkapellen-Sound verwandelt wird.
Komischerweise erinnert mich dieses Finale - bei allen Charakterunterschieden im Einzelnen - in gewisser Weise an dasjenige aus Mahlers 5. Sinfonie, dessen Grundton trotz der Choralapotheose ganz ähnlich ist: verspielt, mutwillig, trotz aller (gar nicht gelehrt, sondern gewitzt daherkommenden) Kontrapunktik beherrscht von Themen, die an harmlose Kinderlieder erinnern,und ebenfalls in eine operettenartige Schlussstretta mündend.

Und vielleicht ist es kein Zufall, dass durch Mahlers 5. Sinfonie ein ebensolcher Riss geht wie durch Schostakowitschs 6. Sinfonie: Auch Mahler beginnt mit zwei düsteren, negativen Sätzen, um dann im dritten Satz eine abrupte Kehrtwende zu machen, als schlüge man unversehens eine andere Geschichte auf; zwar gibt es noch übergreifende musikalische Verknüpfungen zwischen dem 2. und dem 5. Satz, aber letztlich führt auch hier keine musikalische Erzählung von der ersten in die zweite Hälfte des Werks; stattdessen katapultiert die Musik den Hörer auf einen neuen Standpunkt - eine Dramaturgie des Perspektivenwechsels, wie sie meiner Meinung nach auch in Schostakowitschs 6. Sinfonie vorliegt.

So höre ich (ganz persönlich und ohne jede musikwissenschaftliche oder biographische Absicherung) diese Sinfonie, die wegen ihres originellen Konzepts, ihrer in zahllosen Details meisterlichen Ausarbeitung und ihrem wohltuend unprätentiösen, unaufgedonnerten Gestus neben der 1., 4., 5. und 15. Sinfonie zu meinen raren Lieblingen im Gesamtwerk Schostakowitschs gehört. Ob Du dieser Auffassung folgen kannst, weiß ich nicht, bin aber auf Deine Einschätzung sehr gespannt!


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 23. Nov 2006, 19:33 bearbeitet]
s.bummer
Hat sich gelöscht
#15 erstellt: 23. Nov 2006, 10:48
Angeregt durch diesen Thread dudeln bei mir nahezu ohne Pause in wechselnder Reihenfolge 1,6 und 9.
Wenn das so weiter geht, werde ich noch aus der Wohnung geworfen.
Gruß S
Laubandel
Ist häufiger hier
#16 erstellt: 23. Nov 2006, 14:48

s.bummer schrieb:

Wenn das so weiter geht, werde ich noch aus der Wohnung geworfen.
Gruß S


Na, das hoffe ich nicht; oder sind deine vermieter oder mitbewohner der meinung, dies sei nur das Mozartjahr

Als fast nur Kopf-Hörer habe ich da meine Narrenfreiheit....

Grüße

laubandel
Thomas228
Stammgast
#17 erstellt: 25. Nov 2006, 14:06
Liebe Schostakowitsch-Freunde,

ihr seht mich begeistert! Davon, dass dieser Thread auf keine nennenswerte Resonanz stößt, kann mittlerweile nicht mehr die Rede sein

Vorab möchte ich kurz über das Ergebnis eines kleinen Versuchs berichten. Meinem von klassischer Musik völlig unbeleckten Schwager habe ich den Anfang des dritten Satzes vorgespielt und ihn gefragt, was ihm dazu einfalle. "Weiß nicht... irgendwas mit Pferden… Reiterei.", lautete seine Antwort.

Nun aber zum wesentlichen: Wie angekündigt habe ich eingedenk eurer Hinweise den Finalsatz meiner Aufnahmen nochmals vergleichend gehört, und nachdem ich Aladdins sehr informativen Beitrag gesehen habe, auch noch mal die komplette Barshai-Aufnahme gehört.

Außerdem habe ich in den Booklets und Büchern, die ich besitze, sowie in den Weiten des world wide web nach Informationen speziell zu dem dritten Satz gesucht. Denn auf die Bedeutung des dritten Satzes läuft es wohl hinaus. Wer die Sinfonie verstehen will, muss verstehen, was dieser dritte Satz soll, für sich, aber auch und gerade in Bezug zu den beiden anderen Sätzen, insbesondere zum ersten Satz.

Das Ergebnis meiner Recherche lautet: Es gibt keine allgemeine Ansicht. Teils wird der dritte Satz als positiver, fröhlicher Abschluss verstanden, teils als manische Übersteigerung. Oftmals findet sich auch eingestandene Ratlosigkeit.

Exemplarisch für das zu findende Spektrum sind folgende Zitate:

David Hurwitz schreibt in seinem Buch "Shostakovich, Symphonies and Concertos":

[quote]"It [the design of the symphony] follows a totally convincing emotional progression from darkness and desolation, to bittersweet humor tinged with nostalgia, to rambunctious high spirits, and does so in about half an hour... The final bars are as happy and carefree as anything that Shostakovich ever wrote...[/quote]

Auf derselben Linie liegen die Ausführungen in der Programm-Note des London Shostakovich-Orchestra, die sich auf Äußerungen von Schostakowitsch selbst stützen [url]http://www.shostakovich.com/may2001.html[/url]:

"On the subject of the Sixth Symphony, Shostakovich stated:

The musical character of the Sixth Symphony will differ from the mood and emotional tone of the Fifth Symphony, in which movements of tragedy and tension were characteristic. In my latest symphony, music of a contemplative and lyrical order predominates. I wanted to convey in it the moods of spring, joy, youth.

And at a private playing of the symphony in front of the composer's closest friends, Ivan Sollertinsky and Issak Glickman, Shostakovich exclaimed:

It's the first time I have written such a successful Finale. It seems to me not even the sternest critics will be able to find fault with it."

Diesen Standpunkt nehmen bislang Aladdin und ich ein – selbstverständlich mit Abweichungen im Einzelnen. Warum, so erlaube ich mir zu fragen, sollten wir Schostakowitsch nicht glauben (vorausgesetzt die Zitate stimmen)?

Wohl, weil wir von Schostakowitsch Doppelbödigkeit gewohnt sind und weil wir hören, was laubandel und s.bummer beschrieben haben. Somit gibt es auch die Gegenposition, zu der laubandel und s.bummer zu zählen sind. Exemplarisch für diese Sichtweise stehen die folgenden Zitate:

Im Haitink-Booklet (aus der Einzelaufnahme) heißt es:

[quote]"Das Final ist ein Rondo in H-Dur, ein Wirbel guter Laune. So erscheint es zumindest an der Oberfläche. Hinter dieser Albernheit, den einhertollenden Melodien und gleitenden Harmonien steht jedoch eine seltsame Leere, die den Lustbarkeiten eine gewisse Künstlichkeit und Distanziertheit verleiht... Die 6. Sinfonie bringt spirituelle Trostlosigkeit, Einsamkeit Enttäuschung zum Ausdruck; nicht einmal ihre Lustigkeit kann die alles durchdringende Melancholie verbergen. Sie endet nicht im Triumph, sondern mit einer Grimasse, vielleicht gar begleitet von einem unverbindlichen Schulterzucken."[/quote]

Im Jansons-Booklet (aus der Gesamtaufnahme) steht:

[quote]"Die Gegenüberstellung von erhaben und banal ist in der Sinfonie Nr. 6 noch deutlicher, in der der trostlose einleitende Trauermarsch einen beunruhigenden Schatten über die nächsten beiden Sätze wirft, ein aggressives Scherzo und ein manisches Finale, das von rossinihaftem Überschwang zu militaristischer Vulgarität auf den letzten Seiten reicht.[/quote]

Und in der Süddeutschen Zeitung vom 03.11.03 schreibt Reinhard Schulzt (zitiert nach: [url]http://www.theodor-frey.de/schostakowitsch.htm[/url]):

[quote]"Schostakowitschs 6. Sinfonie ist ein rätselhaftes Hybridgewächs. Die drei Sätze werden immer schneller, ein Prozess, der ins Rasen gerät. Kein Satz aber findet eine Mitte, alle thematischen Gestalten vagieren in falschem Glanz oder in leuchtender Fahlheit durchs Werk. Nur in solchen begrifflichen Widerspruchspaaren ist die Magie des Hintergründigen dieser Musik annähernd zu beschreiben: ob nun im ersten Satz scheinbare Idyllen zum Brachland werde, ob im zweiten der Exzess des Leerlaufs zwischen Walzer-Geschmeidigkeit und Etüden-Attrappen in frappierender Instrumentalkunst beschreiben wird, oder ob im dritten der außer Rand und Band geratende Orchesterklang überbordend Richtung Abgrund steuert. Siegesfanfaren mischen sich hier ein, wo die Schlacht noch tobt, Freund Hein spielt makaber dazwischen und wird vom fortlaufenden Widersinn verschüttet."[/quote]

Eine vermittelnde Position nimmt Dr. Koball ein, der in seinem Aufsatz über die sechste Sinfonie ausführt: [url]http://www.koball.de/texte/ds_sinfonik.htm[/url]

[quote]"Die ungewöhnliche Dramaturgie und die unvermittelte Konfrontation von Lamento und überdrehter Fröhlichkeit trägt deutliche Züge der Methode der Groteske, die stets einer Bedrohung der menschlichen Existenz (1. Satz) mit 'karnevalistischem' Weltempfinden begegnet. In der russischen Literatur hat dies Alexander Blok, im Theater der Regisseur Wsewolod Meyerhold weiterverarbeitet. Ähnlich der Musik Gustav Mahlers, dessen groteske Formen Schostakowitsch in der VI. Sinfonie aufnimmt und seinem Personalstil einverleibt, gelingt Schostakowitsch in der VI. Sinfonie eine 'Maskierung' der direkten lyrischen Äußerung mittels der Groteske."[/quote]

Nach Dr. Koball ist die Überdrehtheit mithin zwar echt im obigen Sinne, aber gleichwohl überdreht, weil karnevalistisch empfunden und somit doch auch zugleich unecht, weil grotesk.

Das Anhören der mir vorliegenden Aufnahmen der Finalsätze geschah vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass der Anfang des Finalsatzes, das Wilhelm-Tell-Thema symptomatisch für das Operettenhafte, Überdrehte steht. Folglich machte es Sinn, die Aufnahmen konkret auf den Umgang mit diesem Thema abzuhören. Es ergab sich die Erkenntnis, dass das Entstehen des Eindrucks der Überdrehtheit wesentlich von der Schnelligkeit abhängt, mit der gespielt wird.

Die Extreme heißten Järvi und Haitink:

Järvi schafft den Satz in 6:33. Es handelt sich nach dieser Auflistung ([url]http://develp.envi.osakafu-u.ac.jp/staff/kudo/dsch/work/sym6e.html[/url]) um den zweitschnellsten Satz aller Aufnahmen. Nur Berglund spielt den Satz noch eine Sekunde schneller. Und wirklich: Hier findet sich das manisch Überdrehte, wirkt die Musik nicht mehr ernst gemeint, fast schon erzwungen fröhlich, kommt der Hörer nicht auf die Idee mittanzen zu wollen. Järvi gelingt es überdies der heftigste Ausbruch. Leider erreichen die Holzbläser nicht das Niveau der Spitzenaufnahmen und ist auch das Klangbild etwas hell und fern.

Haitink ist mit 7:06 nicht einmal besonders langsam (den Spitzenwert erreicht Fedoseev mit 8:45), doch ist er bezogen auf das Wilhelm-Tell-Thema der mit Abstand trägste. Bei Hatink lahmt Rossini entsetzlich. Nicht ansatzweise bekommt man bei Haitink Ausgelassenheit, Fröhlichkeit zu hören. Der einzige Eindruck, der sich bei mir eingestellt hat, ist der des Ausschalten-Wollens. Das habe ich dann auch sehr bald getan.

Die Schostakowitsch-Gralshüter Mrawinskij (der Uraufführungs-Dirigent) und Kondraschin befinden sich im Vergleich zu Järvi und Haitink in der Mitte, ebenso wie Barshai und Sanderling. Insbesondere bei Barshai habe ich den Eindruck des echt Positiven. Es mag Zufall sein, aber just als Barshai verklungen war, betrat meine Frau das Wohnzimmer und meinte: „Das war aber mal fröhliche Musik.“ Deutlich am interessantesten fand ich beim Hören nur des dritten Satzes übrigens die Aufnahme von Mrawinskij. Er bietet das breiteste Spektrum. Bei ihm klingt das Orchester in den tiefen Tönen deutlich knorriger, was einen sehr schönen klangfarblichen Kontrast zu den hellen Stellen bietet. Sehr eindrucksvoll ist daher beispielsweise die Wiederkehr der Flöte nach dem Ausbruch. Hier tritt zwischenzeitlich sogar eine gewisse Bedrohlichkeit in Erscheinung.

Bislang nur besprochen worden ist das Verständnis des Finalsatzes. Nicht angesprochen worden ist die Bedeutung des Finalsatzes in Bezug auf die beiden vorangegangenen Sätze, insbesondere in Bezug auf den ersten Satz. Hierzu möchte ich etwas schreiben im Wege der Antwort auf Aladdins Beitrag:

Lieber Aladdin,

du schreibst von meinem Bemühen, eine Art musikalische Erzählung zu rekonstruieren. Meine Probleme mit der 6. Sinfonie, so nimmst du an, könnten daher rühren, dass eine narrative Lesart bei der 6. Sinfonie schwer falle.

Teils, teils, möchte ich antworten. Richtig ist, dass eine narrative Lesart bei der 6. Sinfonie schwer fällt. Unrichtig ist, dass ich deshalb Probleme mit der 6. Sinfonie habe. Ich benötige zum Hören einer Sinfonie keine (gar außermusikalische) Erzählung. Wohl aber wünsche ich mir einen Zusammenhang der einzelnen Sätze. Wenn die einzelnen Sätze nichts miteinander zu tun haben, sollten sie nicht gewaltsam zu einer Sinfonie zusammengepresst werden, finde ich. Eine Sinfonie liegt in meinen Augen erst dann vor, wenn die Sätze aufeinander bezogen sind.

Ganz richtig schreibst du daher: "Die Frage die man meines Erachtens klären müsste, um der 6. Sinfonie näher zu kommen, ist daher die nach der Gesamtanlage."

Mein Problem mit der 6. Sinfonie rührt daher, dass ich ein Aufeinanderbezogensein der Sätze nicht höre. Interessanterweise habe ich bei dem ersten und zweiten Satz nicht das Gefühl der Nichtzusammengehörigkeit, sondern erst beim dritten. Ich frage daher nicht nach dem Verhältnis des ersten zu den beiden folgenden Sätzen, sondern nach dem Verhältnis des dritten zu den beiden vorangehenden Sätzen.

Zum ersten Satz schreibst und begründest du, dass Schostakowitsch in seinen Sinfonien weder vorher noch nachher einen Eröffnungssatz wie diesen komponiert habe. Deine Begründung überzeugt mich bezogen auf den Aufbau, also gewissermaßen auf das Skelett des ersten Satzes. Tonsprachlich allerdings handelt es sich um keinen singulären Satz, sondern um einen von vielen aus der Reihe der langsamen Sätze, wenn auch mit der von dir treffend beschriebenen Besonderheit des Verzichtes auf den Kampf. Tonsprachlich ist auch der zweite Satz nicht außergewöhnlich. Es handelt sich um ein typisches, auch und gerade für Schostakowitsch typisches Scherzo.

Aufbautechnisch, skelettmäßig, musiktheoretisch besteht, darauf weist Hurwitz in dem eingangs genannten Buch hin, sehr wohl ein Zusammenhang aller Sätze. So heißt es bei Hurwitz:

[quote]"On useful fact worth noting about this symphony is that all three o its movements have exactly the same shape: ABAB, a.k.a. "sonata form without development section." This does not mean that there is no sense of progress to the musical argument. On the contrary, there´s plenty, because restatements of important thematic material are always recomposed and varied in melody, phrase length, volume, and scoring. In each movement, the difference between the first (A) and second (B) subjects ist not just a matter of the actual melodies but also of the contrast between a predominance of triple versus duple rhythms (whether in terms of the actual time signature or simply the way the music is notated. Furthermore, all of the duple-rhythm ("in two") or marchtype) tunes throughout the symphony are subtly related by shared motives, and the same is true of the triple-time ("in three") thems… Note also the balance of tonalities (major vs. minor) As you can see, the second and third movements are mirror images of each other, arranges do that the major (happy) ending prevails at the conclusion of the symphony. Shostakovich gives this progress an even greater feeling of inevitability by having the repeat of the B section progressively grow in size from one movement to the next. In the first movement it´s a tiny reminiscence only a few bars long. In the central scherzo, the second subject returns in full; while in the finale, it gets repeated, developed, and extended into a lengthy coda."

Und er gibt dazu die Übersicht:

[quote]First movement: A (triple)(minor), B (duple)(minor)
Second movement: A (triple)(major), B (duple)(minor)
Third movement: A (duple)(minor), B (triple)(major)[/quote]

Nur höre ich von alldem nicht allzu viel. Was ich höre, ist, dass der dritte Satz tonsprachlich nicht zu den beiden vorangegangenen passt, und auch nicht zu all dem, was Schostakowitsch bisher in seinen Sinfonien geschrieben hat. Richtig ist der Hinweis von s.bummer, dass rausschmeißerische Musik im Frühwerk von Schostakowitsch häufiger zu hören sei. Allerdings in dieser übersteigerten, operettenhaften Form nicht in den Sinfonien, auch nicht in der Sinfonie Nr. 1.

Ja, lieber Aladdin, es handelt sich um eine Dramaturgie des Perspektivenwechsel. Nur ist mit dieser Feststellung nicht allzu viel gewonnen. Es drängt sich doch sogleich die Frage auf, warum dieser Perspektivenwechsel erfolgt. Du bietest eine Antwort an, die der von Dr. Koball ähnelt. Das, was Dr. Koball karnevalistisch nennt, nennst du utopisch comichaft. Damit seht ihr die Sinfonie als sinnvoll beendet an.

Aber, kann es nicht sein, dass Schostakowitsch das Ende bewusst offen lassen wollte? Er schreibt einen ersten, traurigen langsamen Satz. Diesem lässt er ein typisches Scherzo folgen. Nach der Hörgewohnheit, nach dem Hergebrachten müsste in dem Finalsatz das Material des ersten Satzes wieder aufgegriffen werden, müsste es ggf. unter Einbeziehung des in den weiteren Sätzen Gesagten zu einem Abschluss gebracht werden (wobei in diesem Zusammenhang davon abgesehen werden soll, dass der Sinfonie Nr. 6 nach klassischen Maßstäben der Kopfsatz fehlt). Einen solchen, abschließenden Finalsatz hat Schostakowitsch aber gerade nicht geschrieben. Stattdessen findet sich dieses operettenhafte, zirkusnahe Presto. Das kann doch kein Zufall sein! Schostakowitsch wusste doch genau, was er tat. Ich habe jedes Mal nach dem Verklingen des dritten Satzes den Eindruck, jetzt muss noch etwas kommen. Kann es nicht sein, dass Schostakowitsch genau diesen Eindruck erzeugen wollte?

Dagegen sprechen die oben wiedergegebenen Äußerungen Schostakowitschs. Diese müssen aber nicht seine wirkliche Ansicht wiedergeben. Es ist bekannt, dass Schostakowitsch so gut wie nie Auskunft über seine Sinfonien gegeben hat.

"Reiter ohne Kopf", ist die Sinfonie genannt worden, weil "oben" etwas fehlt. Nein, möchte ich versuchsweise erwidern. Nicht oben fehlt etwas, sondern unten.

Bei diesem Verständnis ergibt sich eine interessante Bedeutung des Schlusssatzes. Ja, der Schluss-Satz ist fröhlich, meinetwegen auch überdreht fröhlich. Aber: Nach dem Verklingen der Fröhlichkeit ist jedem klar: So wird es nicht weitergehen. Etwas wird passieren. Etwas, das mit dem Leid des ersten Satzes zu tun hat. Wartet es ab.

Thomas (fragt mich nicht, warum das mit den links und den Zitaten nicht geklappt hat)


[Beitrag von Thomas228 am 25. Nov 2006, 14:10 bearbeitet]
AladdinWunderlampe
Stammgast
#18 erstellt: 27. Nov 2006, 20:48
Lieber Thomas,

vielen Dank für die bedenkenswerten Fragen, Überlegungen und Einwände, die Du in Bezug auf meine Gedanken zum Finalproblem in der 6. Sinfonie formuliert hast. Ähnlich wie im Falle unserer Diskussion zur 5. Sinfonie habe ich allerdings den Verdacht, dass wir in unseren Auffassungen näher beieinander sind als man vielleicht auf den ersten Blick denken könnte. Ich möchte daher versuchen, die anscheinend ein wenig wirr, missverständlich und unklar formulierten Gedanken meines ersten Beitrags nun ein bißchen zu präzisieren.

Wenn ich vermutet habe, dass es der nicht-narrative Charakter der 6. Sinfonie sein könnte, der Dir Verständnisprobleme bereitet, dann meinte ich damit nicht das Fehlen einer außermusikalischen Erzählung, sondern eher so etwas wie den Verzicht auf eine musikalisch-formale Erzählhaltung - vielleicht etwas wie den von Dir eingeklagten "Zusammenhang" zwischen den Sätzen oder eine gewisse Logik in ihrer Abfolge. Spätestens seit Beethovens 5. Sinfonie sind wir gewohnt, als entscheidenden Aspekt für solch eine Logik das Verhältnis zwischen dem Kopfsatz und dem Finale zu betrachten: Der Kopfsatz formuliert eine Art Konflikt und das Finale bringt diesen Konflikt in irgendeiner Weise zur Lösung - sei es positiv apotheotisch wie in Beethovens 5. und 9. Sinfonie, Brahms' 1. Sinfonie, Tschaikowskis 5. Sinfonie und den meisten von Bruckners Sinfonien, sei es tragisch wie in Brahms' 4. Sinfonie, Tschaikowskis 6. Sinfonie oder Mahlers 6. Sinfonie. Neben diesen reinen Typen gibt es beispielsweise bei Schumann und insbesondere Mahler, dessen Sinfonik Adorno nicht ohne Grund als "episch" bezeichnete, natürlich auch sehr viele unschematische Dramaturgien. Aber auch in diesen Fällen sind die Eckpfeiler des Zusammenhangs der Kopfsatz und das Finale, die nicht selten auch motivisch-thematisch eng aufeinander bezogen sind. Die Mittelsätze können, müssen aber nicht unbedingt an dieser motivisch-thematischen Integration Anteil haben, vertiefen einzelne musikalische Affekte - meist hin zum Scherzhaften, Motorischen und andererseits zum Lyrischen, Hymnischen oder Kontemplativen -, sind in sich aber weniger konfliktreich angelegt. Sie stellen mehr oder weniger gewichtige Episoden zwischen den beiden entscheidenden Rahmensätzen dar, während das Finale dem Kopfsatz äußerlich und innerlich zumindest gleichkommen muss, wenn er ihn nicht sogar in Intenstität und Weitläufigkeit der Anlage überflügelt (wie beispielsweise in Bruckners 5. Sinfonie oder Mahlers 6. Sinfonie). (Dass Dir in Schostakowitschs 6. Sinfonie erst das Finale und nicht bereits der 2. Satz problematisch erscheint, bestätigt die Wichtigkeit der Rahmensätze: Im "Inneren" der Sinfonie - also in den Mittelsätzen - sind wir bereit, alle möglichen Ausdruckscharaktere und Formtypen zu akzeptieren, wenn sie nur durch den Schlusssatz in irgendeinerweise rückwirkend legitimiert werden, beziehungweise wenn es dem Schlussatz gelingt, das vielfältige Ganze irgendwie zusammenzuschließen.)

Diesen Grundzügen folgen auch viele von Schostakowitschs Sinfonien. (Hier und auch in der weiteren Diskussion lasse ich die Formexperimente der einsätztigen 2. und 3. Sinfonie sowie die vokal angelegte 13. und 14. Sinfonie als Sonderfälle außer Betracht.) Die 1. Sinfonie beispielsweise beginnt zwar spielerisch-leichtgewichtig, wächst aber im 3. Satz gewissermaßen in die Rolle einer "großen" Sinfonie herein und bestätigt dies durch das Finale, dass im Memento der Pauken auf ein wichtiges Motiv des 3. Satzes zurückgreift, dieses melodisch umkehrt und mit dieser Umkehrungsvariante auch den positiv überhöhenden Schluss der Sinfonie gestaltet. Die Apotheose des aufgedonnerten Finales der 5. Sinfonie scheint zwar oberflächlich dem konventionellen Konzept des "per aspera ad adstra" zu folgen, ist aber bekanntlich ambivalent; immerhin jedoch ist das bis ins Unerträgliche repetierte hohe a der Streicher die musikalische Konsequenz aus der das ganze Werk durchziehenden Repetitionsmotivik, so dass diese Apotheose auch und gerade bei negativer Lesart folgerichtig aus den vorangehenden Sätzen erwächst. In der 8., 10. und 15. Sinfonie ist die innere Verknüpfung der Rahmen- und vielfach auch der Binnensätze durch zahlreiche handgreifliche thematische Beziehungen noch viel deutlicher - selbst die düstere 8. Sinfonie bringt dabei ein zwar nur verhaltenes und seiner selbst nicht ganz gewisses, aber dennoch positives Durfinale, dass auf der Umkehrung des Wechselnotenmotivs aus dem tragischen Kopfsatz beruht.

All diese Dinge treffen offenbar für die 6. Sinfonie nicht zu: Weder vom Umfang noch vom Gewicht kommt das Finale dem Kopfsatz gleich oder übertrifft ihn gar, und auch motivisch-thematisch gibt es keine erkennbaren Bezüge und Weiterentwicklungen, die den Schlusssatz erkennbar als positive oder negative Konsequenz aus dem vorangehenden musikalischen Geschehen plausibel machen. (Die vermeintlichen Bezüge, von denen Hurwitz spricht, beruhen so offensichtlich auf falscher oder ungenauer Wahrnehmung, dass ihre weitere Diskussion sich meines Erachtens erübrigt - mal ganz abgesehen davon, dass sie eher auf einer syntaktischen als einer motivisch-thematischen Ebene angesiedelt sind. Mit etwas Abstraktionsvermögen und noch mehr gutem Willen könnte man freilich das Kopfmotiv des Finales als freie Umkehrung des Kopfmotivs aus dem 1. Satz auffassen, aber auch dieser Bezug ist so versteckt, dass er dramaturgisch nicht relevant ist.) Das Finale löst demnach keinen Konflikt, "bringt" (um an Deine Formulierung anzuknüpfen) "nichts zu Ende", sondern ist - wie schon der 2. Satz, dem wir dies aber als Mittelsatz leichter zugestehen - von Anfang an sozusagen "grundlos" fröhlich. Dies, so scheint es mir jedenfalls, ist dasjenige, was Du als Zusammenhangslosigkeit wahrnimmst: die 6. Sinfonie erscheint Dir nicht als ein Ganzes, sondern als eine unverbundene, potpurriartige Reihung charakteristisch allzu stark unterschiedener Sätze.

Allerdings ist das, was Du als Problem des Finales wahrnimmst, im gleichen Maße ein Problem des Kopfsatz. Dass das Finale nämlich keinen Konflikt lösen kann, liegt darin, dass schon der Kopfsatz (wie die ganze Sinfonie) eigentlich keinen Konflikt enthält. Der Zusammenhang zwischen dem ersten und den beiden letzten Sätzen der 6. Sinfonie beruht nämlich meines Erachtens darin, dass Schostakowitsch hier musikalisch zwei Weisen der Konfliktumgehung vorführt.

Um das zu verdeutlichen, muss ich nochmals auf den ersten Satz zu sprechen kommen. Du hast die Frage angesprochen, ob der 6. Sinfonie nun ein Kopfsatz oder ein Schlusssatz fehle, und charakterisiert den 1. Satz "als einen von vielen aus der Reihe von langsamen Sätzen". Das ist mir zu einfach, den die Frage, ob ein Satz innerhalb einer Sinfonie die Funktion des Kopfsatzes oder des langsamen Satzes einnehmen kann, ist nicht allein ein Frage des Tempos: Der Kopfsatz der 8. Sinfonie beispielsweise ist trotz seines langsamen Tempos eindeutig ein Eröffnungssatz und könnte niemals an zweiter oder dritter Stelle stehen. Und dies liegt nicht nur an der aggressiven Durchführung, sondern schon am Charakter der Thematik: Wie in der 5. und eben auch in der 6. Sinfonie beginnt dieser Satz nicht einfach mit einem Thema im Sinne eines einigermaßen geschlossenen melodischen Gebildes, sondern mit einer pathetischen Geste. In allen drei Sinfonien ist das Hauptthema des Kopfsatzes dann auch nicht eine fertige Melodie, sondern eigentlich ein Entwicklungsprozess aus zwei musikalischen Gestalttypen, die ihrerseits in ständiger Wandlung begriffen sind. Soetwas gibt es jedoch in keinem einzigen langsamen Binnensatz einer Schostakowitsch-Sinfonie: die dritten Sätze der 1., 5.und 9. Sinfonie heben direkt mit elegischen Oberstimmenmelodien an, das Adagio der 7. Sinfonie arbeitet mit dem klar überschaubaren zweimaligen Wechsel von Choralsatz und Streicherrezitativ, das Largo der 8. Sinfonie ist eine Passacaglia über ein streng abgezirkeltes Thema. (Am ehesten mag noch der Anfang des 2. Satzes aus der 12. Sinfonie zumindest für kurze Zeit an einen Kopfsatz nach Art des ersten Satzes der10. Sinfonie erinnern; allerdings sind die 11. und 12. Sinfonie aufgrund ihres expliziten programatischen Hintergrundes Sonderfälle: Tatsächlich entzieht sich auch der Eröffnungssatz der 11. Sinfonie mit seinem ausgeblichenen Impressionismus, dessen Statik immer wieder von Blechbläser- und Schlagzeug-Signalen in Unruhe versetzt wird, normalen sinfonischen Kategorien: Er ist ist weder ein "sinfonischer Kopfsatz" noch ein "langsamer Binnensatz", sondern eine Art ins riesenhafte verselbständigte langsame Einleitung, die dunkle Ankündigung von etwas Bedrohlichem, gewissermaßen die Ruhe vor dem Sturm, auf die dann konsequenterweise der eigentliche Hauptsatz in Form des an zweiter Stelle stehenden Allegros folgt.)

Mit dem weitausholenden, pathetischen Gestus des Beginns und der Prozessualität des ersten Themenkomplexes könnte das Largo der 6. Sinfonie mithin niemals ein langsamer Binnensatz sein; bis zum Ende der Exposition wähnt man sich vielmehr regulär im langsamen Kopfsatz einer Sinfonie - ein Typus, für den ein weiteres Mal Mahler (in der 9. Sinfonie) ein "klassisches" musikalisches Vorbild geliefert hat. Und erst indem nun eine "Durchführung" folgt, die nichts "durchführt", sondern sich im Gegenteil immer mehr in kargen Arabesken - in dasjenige, was Reinhard Schulz so zutreffend als "Brachland" charakterisierte - verliert, erweist sich, dass wir es hier mit etwas zu tun haben, dass sich den gängigen Spielregeln eines sinfonischen Kopfsatzes entzieht. (Das habe ich aber bereits in meinem ersten Beitrag beschrieben, so dass ich es hier nicht wiederholen muss.) Die Abseitigkeit, ja Weltflucht dieses Satzes beruht auf einer Konfliktvermeidungsstrategie.

Damit ist das, was seit der Wiener Klassik das Wesen der Sinfonie ausmachte, schon im ersten Satz ausgehebelt. Und hierin sind die beiden scheinbar so heterogenen Hälften der Sinfonie paradox aufeinander bezogen: Vermeidet die erste Hälfte den dramatischen Konflikt durch Weltabkehr, sozusagen musikalisches Eremitentum - oder plastischer und Schostakowitschs biographischer Situation vielleicht angemessener: durch eine Haltung resignierter innerer Emigration - so vermeiden die beiden folgenden Sätze ihn durch Verkleinerung auf comic-strip-artige Katz-und-Maus-Spiele und operettenhafte Verwirbelungen. (Möglicherweise - und hier erlaube ich mir auch einmal, biographisch zu spekulieren - entsprach das sogar der damaligen Befindlichkeit Schostakowitschs, dem es nach der lebensgefährlichen Phase um 1936 durch gewitzte Mimikry immerhin gelungen war, seine 5. Sinfonie als parteikonformes Werk, als "Werden der Persönlichkeit" und als Antwort auf "gerechte Kritik" zu verkaufen und der verhassten Autorität derart ein Schnippchen zu schlagen, dass sie gar nicht umhin konnte, ihm im Jahre der Entstehung der 6. Sinfonie eine ordentliche Professur am Petersburger Konservatorium zuzugestehen...)

Nicht nur im Finale, sondern in ihren beiden scheinbar so ungleichen Hälften würde die 6. Sinfonie demnach den traditionellen sinfonischen Anspruch gewissermaßen unterlaufen - und genau das macht ihre Einheit aus.

Vielleicht ist es charakteristich, dass Schostakowitsch so etwas gerade in einem Werk tut, dass zunächst als Verherrlichung Lenins angekündigt worden war. (Ähnliche Ansprüche hat er dann ja später anscheinend auch in seiner 9. Sinfonie, an die ja im Vorfeld anscheinend die Erwartung einer sozialistisch-realistischen Mega-Neunten geknüpft war, unterhöhlt. Dass sich dort die Einheitsfrage nicht so drastisch stellt wie im Falle der 6. Sinfonie, liegt daran, dass die 9. Sinfonie sich von Anfang an eines neoklassizistischen Tonfalls befleißigt; die 6. Sinfonie dagegen meldet an ihrem Beginn den großen sinfonischen Anspruch durchaus an, enttäuscht diese Erwartung aber zunehmend. Und dies ist anscheinend schwerer zu ertragen als die umgekehrte Dramaturgie, wie Schostakowitsch sie Jahre zuvor der 1. Sinfonie zugrunde gelegt hatte: spielerisch anzufangen, und sich dann zunehmend in den sinfonischen Duktus einzuschleichen.)

Du fragst, ob Schostakowitsch die 6. Sinfonie nicht bewusst offen enden lassen wollte. Ich würde sagen: Ja, genau das hat er getan. Er hat keine musikalische Geschichte von Konflikten und deren Lösung erzählt, sondern mitten im Stück die Perspektive gewechselt - oder anders gesagt: Er hat zwei Alternativen zur Sinfonie nebeneinander gestellt. Daher habe ich vom Finale als einer Comic-Utopie gesprochen - die Heiterkeit dieses Schlusssatzes ist genauso irreal wie die Kinderparadiese in den Schlussätzen von Mahlers 4. und 5. Sinfonie. Beide Hälften der Sinfonie stellen in meinen Ohren vielmehr denkbare, aber gegensätzliche musikalische Konfliktvermeidungsstrategien dar - die sich biographisch als Reaktionen auf übermächtige Gewalt verstehen lassen: Die zirkusartige Leichtigkeit des Seins im Finale ist eine sicherlich wünschenswerte Utopie, aber eben eine Utopie. Anders als Jerry, der den Pranken und Zähnen Toms stets auf das Vergnüglichste entkommt, gelang solches beispielsweise Schostakowitschs in den 1930er Jahren erschossenen Komponistenfreund Ziljaev nicht. Das merkwürdige Verhältnis zwischen dem ersten und dem letzten Satz der Sinfonie, das eigentlich ein Nicht-Verhältnis ist, erscheint mir daher nicht als Defekt, sondern als Intention einer Sinfonie, die den tradierten sinfonischen Anspruch nicht verlacht, aber gewissermaßen "einklammert". Nicht hier ist Schostakowitsch gescheitert, sondern eher da, wo er später versucht hat, die Erfahrung einer zerbrochenen Gegenwart und einer gebrochenenen Persönlichkeit in eine geschlossene sinfonische Form zu zwingen, deren Verbindlichkeit dann nur noch mit jener aufgedonnert monumentalen Rhetorik zu suggerieren war, deren Gewalttätigkeit er selbst im Finale seiner 5. Sinfonie entlarvt hatte.

Dass Schostakowitsch nicht erst im Schlusssatz der 6. Sinfonie, sondern von Anfang an das sinfonische Konzept unterläuft (und das ist etwas anderes, als es einfach ironisch zu verspotten - der elegische Affekt des ersten Satzes scheint mir als solcher genauso "ernst gemeint" zu sein wie der gelöst bis überdreht heitere des Finales), bestärkt mich daher in der Ansicht, dass die Sinfonie als Form der musikalischen Weltbewältigung angesichts der Konflikte des 20. Jahrhunderts eigentlich ausgedient hat. Tatsächlich hat es nach Schostakowitsch (vielleicht sogar schon nach Mahler) keinen Sinfoniker von Rang mehr gegeben. "Sinfonie" scheint mir vor diesem Hintergrund bestenfalls noch als kritische Reflexion des sinfonischen Anspruchs möglich zu sein - eine Reflexion, wie sie etwa Luciano Berio in seiner Sinfonia vornimmt. Aber damit fällt mir mit Schrecken ein, um welchen Thread ich mich dringend als Nächstes kümmern muss - so dass ich nun auch schleunigst zum Ende dieser bandwurmartigen Ausführungen komme.


Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 28. Nov 2006, 01:56 bearbeitet]
teleton
Inventar
#19 erstellt: 28. Nov 2006, 14:47
Hallo Aladdin und Thomas228,

Eure beiden "Mega-Beiträge" habe ich mit größtem Interesse gelesen.
Wer hätte gedacht, daß gerade die vergleichsweise zu den anderen Sinfonien relativ kurze Sinfonie Nr.6 so einen Gedankenaustausch auslöst.
Im Endeffekt viele Worte über Dinge, die ich von Anfang an in der Sinfonie Nr.6 als sympatische Abweichung von der sonst üblichen Dramaturgie in Schostakowitsch´s Sinfonien angesehen habe:
Wie ich schon schrieb ist die Sinfonie Nr.6 nicht nur tempomäßig von Satz zu Satz eine Steigerung, sondern auch vom Emotionsgehalt, um dann im letzten Satz ein mit positiven Klängen ein Fragezeichen zu setzen - einfach genial !
Das die 3Sätze eine potpuriaartige Aneinanderreihung ohne Zusammenhang sein könnten, wäre mit nie in den Sinn gekommen und ich finde nicht das diese Aussage zutrifft.

Auch diese Anmerkung entspricht nicht meiner Meinung:

...die 6. Sinfonie dagegen meldet an ihrem Beginn den großen sinfonischen Anspruch durchaus an, enttäuscht diese Erwartung aber zunehmend

Meine Erwartungen werden überhaupt nicht enttäuscht. Der sinfonische Anspruch ist für mein Empfinden bis zum Schluß vorhanden. Im Gegenteil ich freue mich im Unterbewustsein beim Höern der Sinfonie Nr.6 immer schon auf den letzten Satz, weil ich ja weis was mich erwartet .

Gedanklich sehe ich die Sinfonie Nr.6 immer als ein Gegenstück zu Copland´s Sinfonie für Orgel und Orchester, die einen (ganz weitgegriffen) ähnlichen Aufbau hat, mit drei Sätzen die sich fortlaufend steigern.
Das diese beiden Werke sonst keine Gemeinsamkeiten haben ist klar, aber von der Entwicklung her - ja.
AladdinWunderlampe
Stammgast
#20 erstellt: 28. Nov 2006, 19:07
Lieber Wolfgang,

anscheinend ist der Sinn meiner Bemerkung, dass die 6. Sinfonie anfangs einen sinfonischen Anspruch anmelde und diese Erwartung im weiteren Verlauf enttäusche, im Kontext nicht richtig deutlich geworden: Keinesfalls war diese Bemerkung als Kritik an diesem Werk gemeint, das ich im Gegenteil sehr liebe. Sagen wollte ich lediglich, dass der erste Satz eine andere Entwicklung nimmt als es vor dem Hintergrund der sinfonischen Tradition (die ich zumindest in Umrissen zu skizzieren versucht habe) zu erwarten gewesen wäre, und dass diese traditionelle Erwartung auch im weiteren Verlauf des Werks zugunsten einer ganz anderen, höchst originellen - aber vielleicht auch nicht ganz leicht einsehbaren - Dramaturgie unterlaufen wird. Der von Dir sehr zutreffend charakterisierte Sachverhalt, dass der letzte Satz mit höchst positiven Klängen ein Fragezeichen setzt, beruht ja genau auf dieser besonderen Gesamtanlage; stünde das Finale für sich allein oder in einem anderen Kontext, würde es diese Wirkung nicht haben können.

Dass Du Dich am Anfang der 6. Sinfonie immer schon auf dieses besondere Finale freust, liegt freilich daran, dass Du mittlerweile weißt, dass da etwas ganz anderes kommt, als man nach den ersten Takten der Sinfonie erwarten würde. Für einen unbefangenen Hörer kann diese Entwicklung - die eigentlich gerade keine Entwicklung ist - aber überraschend und sogar verstörend wirken.

Tatsächlich scheint es, als läge die Idee dieser Sinfonie durchaus nicht so sonnenklar und unübersehbar auf der Hand, dass sie sich gleichsam von selbst verstünde. Dies wird allein schon daran kenntlich, dass ausgerechnet ein so profunder Schostakowitsch-Kenner wie Thomas kritische Anfragen an das Werk stellt, die umgekehrt wiederum mich vor die Frage stellen, woran es denn wohl liegen mag, dass ich - der ich im Allgemeinen kein Schostakowitsch-Liebhaber und erst recht kein Kenner dieses Komponisten bin - gerade diese Musik mag. Und ich bin mir durchaus nicht sicher, ob mein Versuch einer Antwort überhaupt zutreffend ist; wie so oft führten die Diskussionen im Forum mancherlei Klärungen herbei, warfen für mich aber zugleich auch neue Fragen auf.
Insofern wirst Du uns beiden vielleicht unsere "vielen Worte" über etwas nachsehen, das Dir - anders als uns - anscheinend "von Anfang an" klar gewesen ist.



Herzliche Grüße
Aladdin


[Beitrag von AladdinWunderlampe am 28. Nov 2006, 21:28 bearbeitet]
Thomas228
Stammgast
#21 erstellt: 02. Dez 2006, 13:25
Lieber Aladdin,

ich komme erst jetzt dazu, dir zu antworten und für deinen Beitrag zu danken.

Danke auch für das Lob, aber ein „profunder Kenner“ bin ich nun wirklich nicht, nur ein interessierter Laie, der gern Schostakowitsch hört und sich mit der Materie ein wenig beschäftigt hat. Gerade dieser Thread zeigt doch exemplarisch, wie sich der Zugang eines Kenners meinem, dem eines interessierten Laien, unterscheidet. Letztlich kann diese Frage aber dahinstehen. Entscheidend ist doch, ob sich durch unseren Austausch unser Verständnis von der sechsten Sinfonie entwickelt bzw. vertieft hat.

Diese Frage kann ich für mich mit einem deutlichen Ja beantworten. Die Erklärung, die du, Aladdin, für die Stellung und Bedeutung des dritten Satzes in der Sinfonie gerade auch in Bezug auf den ersten Satz gegeben hast, überzeugt mich. Ich denke, jetzt kann ich besser mit der „grundlosen Fröhlichkeit“ des Finales umgehen.

Überrascht bin ich davon, dass bei der Behauptung, „unten“ fehle etwas (im Gegensatz zu "oben" fehlt etwas) kein Widerspruch kommt. Diesen hatte ich eigentlich erwartet. Die Gründe, die du dafür benannt hast, weshalb der erste Satz der sechsten Sinfonie ein Kopfsatz sein muss, halte ich für stichhaltig. Bei (wiener) klassischen Verständnis war der langsame aber stets der Mittelsatz bzw. nach Einfügung des Menuetts der zweite Satz. So gesehen – und das Sinfonie-Verständnis des sozialistischen Realismus war ja eher schlicht – könnte man doch die Auffassung vertreten, der erste Satz sei eigentlich kein erster ("ohne Kopf") – aber wie gesagt: Ich sehe das nicht so.

Interessanterweise hat Laubandel bereits in einem früheren Beitrag meiner Einschätzung des dritten Satzes als ungebrochene Freude widersprochen, und zwar mit einem Argument, das sich für mich schließlich als zentral erwiesen hat. An der betreffenden Stelle heißt es:

Den Satz als ungebrochene Freude wahrzunehmen verbietet sich vielleicht auch aus einem anderen Grunde: Es gibt keine komponierte Logik, die dahin führt, die Fröhlichkeit tanzt einfach so in das Trauerhaus hinein. Das dürfte damit zu tun haben, daß Schostakowitsch, wie ja seinen Kritikern gleich übel auffiel, kein "dialektisches" Sonatenallegro an den Anfang stellte, wie es die Ästheten des sozialistischen Realismus gerne gehabt hätten und zum Fetisch erhoben (siehe die Apostrophierung des Werks als "Torso ohne Kopf). Und so kann das erreichen der symphonischen Finaleuphorie auch nicht als logisch-stringenter Prozeß im traditionellen Sinn erreicht werden.

Vielleicht war euch allen ja bereits klar, was sich mir erst erschließen musste?

Viele Grüße

Thomas
AladdinWunderlampe
Stammgast
#22 erstellt: 02. Dez 2006, 18:11
Lieber Thomas,

dass unsere Diskussion Dein Verständnis der 6. Sinfonie vertieft hat, freut mich; mir geht es ganz genau so. Allerdings habe ich durch Deinen Hinweis auf Laubandels Beitrag bemerkt, dass es mir gut tun würde, vor dem Schreiben eigener Beiträge den betreffenden Thread aufmerksamer zu durchzulesen: Beinahe all das, was ich über zwei Bandwurmbeiträge mühsam darzulegen versucht habe, hatte Laubandel ja schon längst mit weitaus weniger Worten und dafür umso größerer Prägnanz formuliert!

Im übrigen hast Du Recht mit Deiner Vermutung, dass ich die Vorstellung, der Sinfonie fehle "unten" etwas, nicht teile. Da sich dies aber aus meiner Auffassung des Verhältnisses zwischen dem Kopfsatz und dem Finale eigentlich von selbst ergibt, habe ich diesen Punkt nicht noch einmal eigens diskutiert. Der Beitrag war ja auch so schon viel zu lang...

Übrigens hatte unsere Diskussion - indem sie mich dazu zwang, mich nochmals mit einigen von mir seit längerem nicht mehr sonderlich geliebten Schostakowitsch-Sinfonien zu beschäftigen - auch den interessanten Seiteneffekt, dass ich langsam beginne, zumindest an der 8. Sinfonie ein gewisses Gefallen wiederzufinden. Gewisse mechanische Weitschweifigkeiten und das nicht unproblematische Finale stören mich zwar weiterhin, aber interessanterweise reagiere ich darauf heute anscheinend konzillianter als noch vor einigen Jahren. Vielleicht war die 8. Sinfonie ja trotz allem die bestmögliche Lösung, die betreffende außermusikalische Thematik, für die ich mir eigentlich kein überzeugendes sinfonisches Konzept denken kann, mit sinfonischen Mitteln anzugehen?

Aber wie dem auch sei - dass dieses Werk für mich heute überhaupt wieder diskussionswürdig ist, verdanke ich diesem Thread. Herzlichen Dank dafür und


viele Grüße
Aladdin
Jazzy
Inventar
#23 erstellt: 04. Dez 2006, 19:28
Hi!
Ich bin zwar kein großer Freund einer allzu großen Verquickung von Biografie und Werk.Es gibt da ja aber noch die These,das S. im 1.Satz suizidales Gedankengut pflegt.Somit fehlt dann auch das Ende: es ist für S. noch offen,wie es weitergehen wird.
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