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Zwölftonmusik verstehen+A -A |
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Autor |
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Joachim49
Inventar |
#1 erstellt: 03. Jul 2009, 22:49 | ||||
((Ich werde hier versuchen ein paar Fragen zur Zwölftonmusik zu formulieren, in der Hoffnung dass durch die Antworten diese Art zu komponieren und deren Resultate mir (und vielleicht auch anderen)verständlicher werden. (Dieser thread geht auf Diskussionen in einem anderen thread zurück, aber es wurde gewünscht diese Diskussion auszulagern). Ich habe kaum musiktheoretische Kenntnisse und werde mich teils unbeholfen ausdrücken, teils wird manches was ich sage vielleicht auf Missverständnissen beruhen. Um sich in der Diskussion besser auf die Bemerkungen beziehen zu können nummeriere ich sie. Ich beginne bewusst sehr elementar. 1.Zwölftonmusik (12TM) ist atonale Musik. Tonale Musik beruht auf Tonarten (C-Dur, D-Dur …c-moll, d-moll etc.). Zu einer bestimmten Tonart gehören nur eine begrenzte Anzahl der Halbtöne , bei atonaler Musik können alle Halbtöne der Skala innerhalb einer Oktave verwendet werden. Darum hat der Begriff einer Dissonanz in der atonalen Musik keinen Sinn mehr. Man kann auch nicht modulieren, also eine Melodie von einer Tonart in eine andere transponieren. Es gibt nicht die typischen Akkorde, die wir aus der tonalen Musik kennen (Ich hoffe , dass hier nicht schon viel Humbug steht). 2.Die atonale Musik hat sich Schritt für Schritt aus der tonalen entwickelt. Einige Komponisten gingen halt immer weiter und sprengten die traditionellen harmonischen Verhältnisse (Wagner, Debussy, Reger (?), früher Schönberg (etwa ‘Verklärte Nacht’). 3.12TM ist atonal, aber nicht alle atonale Musik ist 12TM. Es gab zunächst die freie atonale Musik, wenn ich es recht verstehe eine Art “anything goes”. (Schönbergs “Erwartung” ist glaube ich ein Beispiel freier atonaler Musik.) 4.Die 12TM ist eine Methode (?) atonal zu komponieren aber nach strengen (?) Regeln. 5.Charakteristisch für die 12TM ist die Reihe. In einer Reihe werden alle 12 Halbtöne verwendet. Ein Halbton darf erst wiederholt werden, wenn alle anderen Halbtöne verwendet sind. Wenn ich das recht verstehe, muss die Anzahl möglicher Reihen mathematisch begrenzt sein (zumindest wenn eine Reihe – wie ich glaube – nicht mehr oder weniger als 12 Töne enthält). 6.In der Komposition wird die Reihe gespiegelt, rückwärts gespielt und all die anderen Methoden deren technische Terme (Krebs, …) ich nicht genügend kenne. Hier endet ungefähr was ich weiss, oder vielleicht besser, zu wissen glaube. Hier nun Fragen zum Verständnis. 7.Viele Beschreibungen der 12TM erwecken den (sehr wahrscheinlich falschen) Eindruck, dass die Kompositionsweise rein mechanisch ist und keine kompositorische Kreativität erfordert (zumindest nicht viel). Ich bin sicher, dass dies nicht so ist, aber ich weiss nicht, warum es nicht so ist. Ich stelle mir folgendes als 12TM Komposition vor. Ich spiele auf dem Klavier 12 Halbtöne in beliebiger Folge ohne Wiederholungen. Dann spiele ich es in der Spiegelform, rückwärts, etc. und fertig ist die 12Tonkomposition. Das hätte mit Kunst wohl nichts zu tun und das könnte ich auch. 8.Natürlich kommt mehr dazu. Selbst wenn es wahr ist, dass die Reihe die Reihenfolge der Töne festlegt, selbst dann habe ich natürlich Spielraum: Tondauer, Rhythmik, eine Oktav höher oder tiefer, Tonstärke, etc. Aber auch das scheint mir die Sache nicht reizvoller zu machen. 9.Nun können die Töne auch in Akkorden (Clusters) vorkommen (ich weiss nicht ob der Ausdruck Akkord in der 12TM sinnvoll ist). Allerdings werden die typischen tonalen Akkorde (also etwa Dreiklänge) in der 12TM vermieden, oder sie sind gar verboten. Sonst könnte man wahrscheinlich in 12TM über weite Strecken tonal komponieren und wären tonale Kompositionen eine Art Teilmenge der atonalen . Nur Alban Berg gestattet sich Suggestionen der Tonalität. (Ist in der unglaublich ergreifenden Passage der Lulu-Suite oder Zwischenaktmusik , in der die Melodie so überraschend aufblüht, die 12Tontechnik verwendet?) 10.Aber was passiert nun wenn ein ganzes Orchester spielt, oft ja sogar in grosser Besetzung. Auf welche Weise bestimmt die Reihe wer wann was spielt (Das ist mir völlig rätselhaft). Wenn die Reihe die Tonfolgen festlegt (determiniert) dann kann sich die Kreativität des Komponisten nicht auf die Tonfolge erstrecken, sondern nur auf die andern Faktoren (Akkorde, Rhytmik, etc.) Aber das scheint mir unwahrscheinlich zu sein. Und was soll das heissen wenn viele verschiedene Instrumente verschiedenes spielen? 11.Auf der Grundlage meiner bescheidenen Kenntnisse, müsste es ziemlich gleichgültig sein, welche Reihe man wählt, da alle Reihen doch denselben Charakter als Folge hätten . Ich versuche zu verdeutlichen, was ich meine: der Klangcharakter von C-Dur is deutlich anders als der von g-moll. Durch die Tonart erhält die Musik eine bestimmten Charakter. Aber kann es in diesem Sinne charakterverschiedene 12T-Kompositionen geben? Hat die Reihe einen Einfluss auf den ‘Charakter’. Und wenn ja, wie ist das möglich? 12.Warum wird die Oktave in 12 Halbtöne eingeteilt? Wenn man atonal komponieren will, könnte man doch auch die Oktave in 16 oder nur 10 Töne unterteilen und mit denen komponieren. (Oder wollte man keine neuen Klaviere bauen, bzw. Die bestehenden umstimmen?) 13.Wenn ich es recht verstanden habe entsteht die serielle Musik, wenn man auch Tondauer, Lautstärke, etc. der Reihentechnik unterwirft. Es gäbe also, wenn ich es recht verstehe, 12 verschiedene Lautstärken (von ppp bis fff) und ein Ton darf erst dann wieder in p beispielsweise gespielt werden, wenn andere Töne in den anderen Lautstärken gespielt wurden. Wenn das wahr ist, ist das nicht wirklich Quatsch?). Na gut, zum Einstieg in einen thread 12TM-verstehen , reichen diese Bemerkungen wahrscheinlich. Manche mögen dumm sein, aber dann handelt es sich wahrscheinlich um weit verbreitete Dummheiten und lohnt es sich, etwas dagegen zu unternehmen. mit freundlichen grüssen und einem aufrichtigen Dankeschön an die Kommentatoren Joachim |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#2 erstellt: 04. Jul 2009, 09:33 | ||||
Das ist zwar eine andere Diskussion, aber warum besteht die Neigung, bei 12-Tonmusik diese Verstehensfrage zu stellen, nicht aber, angesichts der entsprechenden Unkenntnis von klassischem Kontrapunkt und Harmonielehre, diesselbe Frage bei Bach oder Haydn?
Es gibt keine funktionalen Dissonanzen (wie den Leitton h in C-Dur), aber es klingt natürlich weiterhin eine kleine Sekunde oder eine Septime spannungsreicher als eine Terz oder Quinte. (Ähnlich für Akkorde)
Es haben ja auch nicht Stücke in C-Dur wie etwa das erste Präludium des WTK, die Jupitersinfonie und die Waldsteinsonate alle denselben Charakter! Reihen unterscheiden sich erheblich, da sie sich ja in den *Intervallen* unterscheiden. Ich habe auch keine wirkliche Ahnung, aber eine Reihe wie c-es-f-g-h-e-fis-gis-ais-cis-d-a wird, wenn ich recht sehe, immer mal wieder in Richtung c-moll oder E-Dur klingen, während man andere Reihen gestalten kann, die ganz anders wirken. (edit: Die Reihe klingt doch abgedrehter als ich dachte, aber man kann quasi-tonale Reihen basteln)
Ja, die 12-Tonmethode ist eben ziemlich traditionalistisch. Aber etwas gleichzeitig kamen tatsächlich Leute auf die Idee, mit Viertel- (oder Drittel- und Sechstel-)Tönen zu arbeiten. In anderen Musiktraditionen gab es das schon lange (Indien, Persien, teils auch Balkan). Außer daß bei Bartok ein paarmal Vierteltöne vorkommen, weiß ich aber nichts näheres und auch nicht, was es hier für bekannte Stücke gibt Auf Streichinstrumenten ist das kein Problem, sonst nimmt man z.B 2 gegeneinander verstimmte Klaviere, so daß das "c" des zweiten Klaviers einen Viertelton höher ist, also c-xc-cis-xcis-d-xd- usw. viele Grüße JK jr. [Beitrag von Hüb' am 07. Jul 2009, 07:56 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#3 erstellt: 04. Jul 2009, 16:18 | ||||
Meines Wissen kann ein 12-Ton-Komponist modulieren. Aus der Ausgangsreihe werden Umkehrung, Krebs und Krebs der Umkehrung gebildet, was schon mal vier Reihen ergibt. Diese vier Reihen können auf jede der chromatischen Stufen transponiert werden. Schon hat der 12-Ton-Komponist 4x12 Reihen. Eine Reihe hat auf diese Weise, schwups, 48 Modalitäten. Und damit kann man schon eine ganze Menge machen. Man darf dann auch nicht vergessen, dass die Töne ja nicht nur horizontal angeordnet werden wollen, sondern auch in der Vertikalen. Das eröffnet einen riesigen Spielraum zur Organisation von 12-Ton-Melodien. Wie das genau geregelt ist und was dem Komponisten sonst noch für Techniken und vor allem Ausnahmen zur Verfügung stehen, weiß ich aber auch nicht. Zudem war Schönberg selbst der letzte, der ein sklavisches Regelbefolgen eingefordert hat. Meines Wissen hat er sich immer wieder zugunsten musikalischer Aussagekraft darüber hinweggesetzt. Sicher ist der Ausdrucksgehalt von 12-Ton-Musik "abstrakt". Nicht von ungefähr gibt es einen engen Zusammenhang zwischen den Entdeckungen in der Malerei von Kandinsky und Kollegen und der Musik der zweiten Wiener Schule. Interesant ist vielleicht, was Schönberg selbst in einem Brief an Busoni schreibt:
[Zitiert nach P. Griffiths: Geschichte der Musik, Weimar: Metzler, Bärenreiter, 2008, S. 209] Es ist klar, dass Schönberg in der Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen den Anspruch eingelöst sah, den gewünschten komplexen Ausdruck zu erzielen. Es ist wohl auch klar, dass ein tieferes Verständnis der (Entwicklung der) 12-Ton-Technik nicht nur musikinhärente (z.B. der Traditionsbezug, auf den Kreisler bereits angespielt hat), sondern auch kulturelle (der Verweis auf Kandinsky mag als Stellvertreter dienen) und psychologische (die werden im obigen Zitat sehr deutlich) Einflüsse berücksichtigen muss. Aber von all dem weiß ich leider auch nichts und würde mich freuen, hier vielleicht etwas mehr darüber zu lernen. Viele Grüße, Mellus [Beitrag von Mellus am 04. Jul 2009, 16:21 bearbeitet] |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#4 erstellt: 06. Jul 2009, 15:37 | ||||
Lieber Joachim, viele interessante Fragen wirfst Du da auf, die man aber eigentlich nur angemessen beantworten kann, wenn man ein die Zwölftontechnik in den größeren musikgeschichtlichen und musiktheoretischen Zusammenhängen betrachtet, die Du selbst (in den Punkten 2 und 3) andeutest. Daher werde ich wohl kaum alle von Dir angesprochenen Aspekte auf einen Schlag und erschöpfend beantworten können., sondern werde mich Schritt für Schritt durch Deine Liste arbeiten und – in gewohnter Geschwätzigkeit – einfach alles dazu aufschreiben, was mir durch den Kopf geht. (Soviel zur Warnung für übereifrige Leser. Jedenfalls kann dann nachher keiner sagen, ich hätte ihn nicht gewarnt.) Aber kommen wir zur Sache: 1.) Tonalität ist weniger durch die Auswahl eines bestimmten Tonvorrates aus dem zwölftönigen Total der gleichschwebend temperierten Skala charakterisiert als durch (historisch durchaus verschiedene) Formen, den Tonvorrat zu hierarchisieren. Auch in der tonalen Musik kommen ja durchaus tonleiterfremde Töne vor. Aber die Funktion und Bedeutung aller Töne war stets in irgendeiner Weise definiert im Hinblick auf einen Grundton, der den Bezugspunkt des melodischen, harmonischen und formalen Geschehens darstellte: auf ihn beziehen sich die Funktionen einer Kadenz (Tonika, Subdominante, Dominante) und deren Stellvertreter ebenso wie die funktional differenzierten Abschnitte tradierter Formen beziehungsweise Formprinzipien (beispielsweise Sonate, Rondo oder Fuge), und auch der Bau von Melodien (so die klassische Periode), wird traditionell durch Relationen zu den tonalen Zentren und Gegenzentren markiert. Ein entscheidendes Kriterium für die Atonalität ist daher einerseits Loslösung von einem solchen Grundton als dem übergeordneten Bezugspunkt des melodischen, harmonischen und formalen Geschehens. Allerdings vollstreckt die atonale Musik damit nur eine Tendenz, die sich bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert – zum Beispiel bei Schubert, Liszt, Wagner, Debussy und Reger - angedeutet hat. Dies gilt auch für das zweite wichtige Kriterium der Atonalität: die Aufhebung der Polarität von Konsonanzen und Dissonanzen. Die Klassifizierung der Intervalle war sowieso seit jeher nicht unproblematisch: Man denke nur an die Quarte, die melodisch stets als Konsonanz galt, im im Zusammenklang aber (also in "harmonischer" Hinsicht) im klassischen Kontrapunkt der Renaissance, aber auch in späteren Harmonielehren zwischen Oberstimmen wie eine Konsonanz, zwischen Unterstimmen aber wie eine Dissonanz behandelt wurde. (Darum kann beispielsweise auch ein C-Dur-Dreiklang - von unten nach oben: c/e/g - in veränderter Stellung auflösungsbedürftig sein: Sind die Töne als g-c-e angeordnet, wird er in der traditionellen Harmonielehre wie eine Dissonanz gehandhabt; er darf also entweder nur als Durchgang auf unbetonten Zählzeiten erklingen, oder er wird als Quart-Sext-Vorhalt behandelt, der in einen G-Dur- oder g-Moll-Dreiklang aufgelöst wird.) Umgekehrt erklingen im Jazz kaum reine Dur- oder Moll-Akkorde, sondern meistens zumindest Vierklänge, bei denen der Dur- oder Moll-Akkord um eine hinzugefügte Sexte (die eine Sekundreibung mit der Quinte erzeugt) oder eine Septime und/oder None ergänzt wird, ohne dass diese Akkorde doch als auflösungsbedürftige Dissonanzen behandelt oder wahrgenommen werden. (Ähnliches gab es vorher übrigens auch schon bei Debussy.) Was als Dissonanz empfunden wird, steht also nicht fest, sondern ist vom musikkulturellen Zusammenhang und vom engeren musikalischen Kontext abhängig. Vor diesem Hintergrund widerspricht Schönberg dezidiert der Vorstellung, dass Konsonanzen und Dissonanzen strikt geschieden seien; vielmehr stellten diejenigen Intervalle, die gemeinhin als "Dissonanzen" bezeichnet würden, lediglich "entferntere Konsonanzen" dar. Zwischen "Konsonanzen" und vermeintlichen "Dissonanzen" besteht aus seiner Sicht also kein kategorialer, sondern nur ein gradueller Unterschied. Die beiden genannten Aspekte – Auflösung der Tonalität und Emanzipation der Dissonanz – müssen übrigens nicht notwendig mit einander verknüpft auftreten: Auch eine Aneinanderreihung reiner Dur- und Mollakkorde kann streng genommen atonal sein, sofern die Klänge nicht in einer irgendwie erkennbaren Weise auf ein gemeinsames tonales Zentrum bezogen sind; und andererseits kann auch eine Musik, in der ausschließlich oder beinahe ausschließlich Dissonanzen vorkommen, auf ein tonales Zentrum bezogen sein: So umschreiben am berühmten Beginn des Vorspiels zu Wagners Tristan und Isolde die durchweg dissonanten Akkorde (deren harmlosester der traditionelle Dominantseptimakkord ist) die gemeinsame Tonika a-Moll, ohne dass die letztere dort auch nur einmal erklänge. Bei Schönbergs Atonalität – ein Ausdruck, den der Komponist übrigens ablehnte – greifen indes die Auflösung der Tonalität und die Emanzipation der Dissonanz ineinander. Aber auch wenn die Klänge ihren Bezug auf einen Grundton verlieren und ihre „dissonanten“ Anteile nicht mehr auflösungsbedürftig sind, bedeutet dies – wie auch Kreisler jr. zu Recht hervorgehoben hat - keineswegs, dass damit auch der Charakter der verschiedenen Intervalle nivelliert würde. Das gilt weder für den harmonischen noch für den melodischen Bereich: Vielmehr werden – vielleicht stärker als zuvor – in der Musik der Wiener Schule immer wieder charakteristische Akkorde zum „Thema“ einer Komposition – man denke nur an den chromatisch und instrumental verfärbten Fünfklang in Schönbergs Orchesterstück op. 16 Nr. 3, an den vierstimmigen Leitakkord der Posaunen im Schlussteil der Glücklichen Hand op. 18, an die zweite Szene des ersten Aktes aus Bergs Wozzeck, die auf der Variation dreier Akkorde beruht, sowie (im dodekaphonen Bereich) an die Exposition aus dem Kopfsatz von Weberns Sinfonie op. 21, die gewissermaßen einen kanonisch raffiniert aufgefächerten und instrumental charakteristisch beleuchteten Zwölfklang präsentiert, oder auch an die thematische Harmonienfolge aus Schönbergs Klavierstück op. 33a. Auch an melodisch prägnanten Gestalten fehlt von Schönbergs Klavierstück op. 11 Nr. 1 (dessen lyrischen Eröffnungsthema für mich sogar Ohrwurmqualitäten besitzt; beinahe jedes Mal, wenn ich diese Musik höre, geht mir die einleitende Melodie für Stunden oder Tage nicht aus dem Kopf) bis hin zum dessen 4. Streichquartett keineswegs. Dies alles wäre kaum möglich, wenn die Intervalle mit dem Verlust ihres funktionalen Dissonanzcharakters zugleich auch ihre je individuelle Klanglichkeit verlören. (Ich weiß nicht, ob Du das gemeint hast; trotzdem möchte ich es zur Klarstellung nochmals hervorheben.) Modulieren im Sinne von Wechseln von einem Grundton zum anderen kann man in der Atonalität in der Tat nicht, denn die Ausprägung eines Grundtons soll ja gerade vermieden werden. (Die Zwölftontechnik ist nicht zuletzt ein Verfahren, das die Ausprägung von Grundtönen verhindern soll.) Transponieren kann man Tonfolgen oder Reihen aber durchaus. So ist auch das aus der Tradition bekannte Mittel der Sequenzbildung durchaus möglich - wenn auch Schönberg dergleichen aus Scheu vor Redundanz gerne durch gleichzeitige Variation verschleiert. (Dies - und nicht die Verwendung der Zwölftontechnik - scheint mir übrigens ein Grundproblem für das Verständnis der Musik Schönbergs zu sein: das radikal erweiterte Variationsprinzip, das vom Zuhörer konzentrierte Aufmerksamkeit erfordert, wenn der Zusammenhang zwischen den rasch wechselnden und überdies zumeist kontrapunktisch dicht geschichteten musikalischen Gestalten transparent werden soll.) So viel für heute, bald geht's hoffentlich mit den anderen Punkten weiter. Bis dahin herzliche Grüße Aladdin [Beitrag von AladdinWunderlampe am 06. Jul 2009, 22:29 bearbeitet] |
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Joachim49
Inventar |
#5 erstellt: 06. Jul 2009, 20:42 | ||||
Lieber Aladdin, schon mal herzlichen Dank für die Antworten und die Bereitheit das Gespräch fortzusetzen. Danke schön natürlich auch an Kreisler und Mellus für ihre Reaktionen. Ich sehe schon, dass einige meiner Fragen und Bemerkungen auf auch auf einer Vermischung sachlicher und terminologischer Missverständnisse beruhen. Ich werde mir auch mal das empfohlene Klavierstück von Schönberg anhören, das ich in der Naxos-Aufnahme mit Peter Hill habe (Garstige Kommentatoren werden sagen, dass ich für Schönberg nicht mehr Geld ausgeben wollte. Ich habe sogar 50% Ermässigung bekommen). Aber vielleicht werde ich so Sachen ja bald mit ganz anderen Ohren hören. Leider merke ich, dass meine musiktheoretischen Kenntnisse - hauptsächlich in Harmonienlehre - sehr zu wünschen übrig lassen, aber im grossen und ganzen kann ich folgen, und habe ich schon viel gelernt. Ich habe diesen Eröffnungsbeitrag zur Zwölftonmusik auch ein bisschen stellvertretend für andere Forumleser geschrieben, die vielleicht dieselben oder ähnliche Probleme haben wie ich. Hoffentlich melden sie sich auch zu Wort. Mit Dank und herzlichen Grüssen Joachim |
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Mellus
Stammgast |
#6 erstellt: 06. Jul 2009, 21:04 | ||||
Hallo Joachim, bevor ich gleich zu Bett gehe wollte ich mich noch auf Deine Seite schlagen, Du bist nicht allein:
Mir geht es noch schlechter als Dir: Ich habe überhaupt keine musiktheoretischen Kenntnisse und einiges, was bisher hier geschrieben wurde, erahne ich eher als das ich ihm folgen kann. Insofern habe ich ähnliche Probleme mit der Zwölftonmusik. Aber die Gelegenheit, hier im Forum zu lernen, schätze ich auch sehr.
Das ist wohl der springende Punkt: zuallererst hört man mit den Ohren, nicht mit der Musiktheorie. (Entschuldige bitte die kalenderspruchartige Banalität zur späteren Stunde.) Viele Grüße, Mellus |
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Joachim49
Inventar |
#7 erstellt: 08. Jul 2009, 17:52 | ||||
Ich habe mir das Schönberg'sche op33a inzwischen 3-4 mal angehört. Es bereitet mir grosse Schwierigkeiten mir das Stück einzuprägen. Denn wie soll ich Beziehungen zwischen den Teilen erkennen, wenn sie nicht im musikalischen Kurzzeitgedächtnis haften bleiben? Deshalb kommt mir das ohnehin schon kurze Stück eher wie eine Reihe Miniaturen vor, die relativ unabhängig voneinander sind (was sehr wahrscheinlich ein Irrtum ist.)Aber es war interessant das Stuck zu hören, - die Kûrze erleichtert die 'Hörarbeit'. Und trotz der Kürze erscheint mit das Stück recht vielfältig und ausdrucksreich. Aber es ist schon sehr kondensiert. Alles geschieht wahrscheinlich auf kleinstem Raum und ist darum auch nicht leicht festzuhalten. Von einer Sonatenform habe ich ehrlich gestanden wenig gemerkt. (Wo wäre denn die Reprise?) Freundliche Grüsse Joachim (Ich habe die Naxosaufnahme mit Peter Hill gehört) |
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Tannoymann
Stammgast |
#8 erstellt: 09. Jul 2009, 10:29 | ||||
Back again, nach ein paar freien Tagen und einem schon wieder sehr nervigen 2. Arbeitstag. Aladdin hat natürlich, wie zu erwarten, wieder sehr klar und anschaulich Vieles verständlich gemacht. Joachim hat viele interessante Fragen aufgeworfen und zeigt, dass er sehr wohl Ahnung hat, Kreislers Einwurf-
Das ist wohl der springende Punkt:
will ich anknüpfen und verweilend bei den alten Meistern 3 repräsentative Werke empfehlen. Sie sind alle 3 für Orchester, was vielleicht auch das Hören ein bisschen erleichtern mag oder schmackhafter gestalten soll: A. Schönberg: Variationen für Orchester op.31 Es ist sein erster Versuch – Schönberg war bereits jenseits der 50! - 12tönig für Orchester zu komponieren (da Oktavverdopplungen eigentlich in der Zwölftonmusik verpönt sind, ist das natürlich aufgrund der Stimmen eine ziemliche Herausforderung. Wie konsequent Schönberg in der Vermeidung von Oktavverdopplungen war, kann ich leider nicht sagen, da ich die Partitur nicht so genau durchgeackert hab, ist auch schon lange her) Interessant ist natürlich die Form: ein sehr komplexes Thema, das alle 4 Modi der Grundreihe (Grundgestalt, Krebsumkehrung, Krebs, Umkehrung der Grundgestalt) in sich trägt und die folgende Variationsform. Ein altes oder klassisches Prinzip (Bach, Beethoven........), das auch Schönbergs Zusammenhangsstreben, sein Haltsuchen zeigt. Neues Material in alten Formen, neue Getränke in alten Fässern... Genau diese „Reibungen“ finde ich besonders spannend. Dieses Werk zeigt sich gerade bei erstmaliger Begegnung (zumindest war das bei mir so) als schroff, aufgeregt, aufwühlend, verstörend. Ich höre es nun schon seit gut 25 Jahren immer wieder und entdecke (höre!) immer wieder Neues. Mit der Zeit wird es transparenter, es bleibt aber immer wieder packend. Heute früh klang es für mich wie wohlüberlegte Aufschreie, ich hatte beim Autofahren meine liebe Not. Sehr gute Aufnahme: P. Boulez (sehr schöne auch mit Scherchen, Maderna, Mitropoulus, aufnahmetechnisch allerdings unbefriedigend) Anton Webern: Sinfonie op. 21 (ähnliche Entstehungszeit wie Schönbergs op. 31) Wieder eine klassische Form. Die Werkbeschreibung meint: 1 Satz: Sonatenform 2. Satz: Thema mit 7 Variationen Hörbar ist dies wohl schwerlich, mir ist es bis jetzt nicht gelungen, es stört mich aber auch nicht. Vom emotionellen Eindruck her ist diese Stück wohl das völlige Gegenteil zu Schönbergs Variationen. Sehr ruhig, unglaublich klar und transparent, gleichsam sich selbst beschreibend und zugleich über sich selbst reflektierend. Diese Werk beruhigt und reinigt – und ist allein schon aus hygienischen Aspekten Pflicht. Empfehlenswerte Aufnahmen: Boulez (die 2. Bei DG), Sinopoli Alban Berg: Kammerkonzert für Klavier, Geige und 13 Bläser Berg hat dieses Werk seinem Lehrer zum 50 er gewidmet (er hat hier versucht über die Notennamen ADSCHBEG , AEBE, ABABEG die Namen Schönberg, Webern und Berg einzuweben, keine neues Prinzip, gibt’s ja schon bei BACH und anderen – man könnte natürlich mal versuchen, die Schlagzeilen der Bild-Zeitung auf diese Art zu vertonen, oder über Zahlenverhältnisse die Börsenkurse...) Es ist 3 teilig .Satz 1: Thema scherzoso con Variazioni (hier spielen nur das Klavier d die Bläser) Satz 2: Adagio (nur Violine und Bläser) Satz 3: Rondo ritmico con Introduzione (hier endlich finden Klavier und Violine zusammen) Basis für dieses Werk ist die Zahl 3: 3 Namen (Schönberg, Berg, Webern,) 3 Sätze, 3 Instrumentengattungen. Auch in den Untergleiderungen und Gruppieungen findet man immer wieder die 3. Es ist kein rein 12 töniges Werk. Vielleicht ist das der Einstieg in die 12-Tonwelt, romantisch, atonal, lyrisch, berührend, aufregend, abstrakt, unglaublich virtuos.... Es vereint viel Gegensätzliches zu einem unglaublichen kompaktem Ganzen. Es macht einfach glücklich. Empfehlenswerte Aufnahme: Bernstein/Serkin/Stern Viel Freude bei Hören, subjektives Feedback zu diesen Werken und Erlebnisse mit anderen 12Ton Werken sind willkommen und erwünscht. Ohren auf! Stürzen wir uns in die Reihen! Liebe Grüße Willi (Natürlich gibt’s Alternativaufnahmen. Rechtschreib und Stilfehler bitte ich nachzusehen, man lässt mir hier am Arbeitsplatz überhaupt keine Ruhe mal einen kurzen Text zu schreiben) |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#9 erstellt: 09. Jul 2009, 11:05 | ||||
Liebe Zwölfton-Apostel (und diejenigen, die's - vielleicht - noch werden möchten), Alban Bergs Kammerkonzert ist ein grandioses Stück - nicht zuletzt auch wegen der von Willi anschaulich herausgestellten Dreier-Symbolik. Allerdings ist es nicht zwölftönig sondern "frei" atonal komponiert - wobei die drei Namens-Motti teilweise durchaus reihenartig verwendet werden; ähnliche, nicht zwölftönige Reihenbildungen, mit denen kompositorisch freier umgegangen wird, finden sich übrigens auch schon in den ersten vier Klavierstücken aus Schönbergs op. 23. (Über die "Freiheit" der sogenannten "freien Atonalität", bei der es sich keineswegs um ein "anything goes" handelt, werde ich sicherlich noch einiges schreiben, sobald ich dazu komme, Joachims Frageliste weiter abzuarbeiten.) Wenn man Bergs Umgang mit der Zwölftontechnik näher kennenlernen will, kann man sich insbesondere an die teils frei atonale, teils zwölftönige Lyrische Suite (zwölftönig sind hier der komplette erste Satz, die Rahmenteile des dritten und die beiden Trios des fünften Satzes sowie der komplette sechste Satz), an die Konzertarie Der Wein, an das Violinkonzert und an die Oper Lulu halten - alles sehr eindrucksvolle, vielschichtige Werke, die erweisen, dass Berg auch wenn er zwölftönig arbeitet, seinen charakteristischen Tonfall nicht verliert, der - bei stets (nicht zur auf zwölftöniger Ebene) erstaunlich strenger Konstruktivität - einzigartig zwischen mitfühlender Emotionalität, hoffnungslos zärtlicher Nostalgie und teils bissiger, teils liebevoller Ironie changiert. Herzliche Grüße Aladdin [Beitrag von AladdinWunderlampe am 09. Jul 2009, 11:08 bearbeitet] |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#10 erstellt: 09. Jul 2009, 11:55 | ||||
Da hat Aladdin mal wieder zu flüchtig gelesen und offene Türen eingerannt. Entschuldigung für meinen besserwisserischen Kommentar. |
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Tannoymann
Stammgast |
#11 erstellt: 09. Jul 2009, 12:25 | ||||
Hab's nicht besserwisserisch aufgefasst, sondern als Bekräftigung, da es in diesem Thread ja um 12 Tonmusik geht. Da schadet ein mehrmaliger Hinweis zum Kammerkonzert als nicht wirkliches 12 Tonwerk doch nicht, Berg war ja im engen Wiener Schule Kreis, die Ausnahme, nicht ein reiner 12 Töner zu sein. Schönberg ist in seiner späteren Phase ebenfalls aus der reinen 12 Tönigkeit rausgetreten. Hauer muss man als ganz anderen 12er unbedingt erwähnen, man lässt mir momentan aber überhaupt keine Zeit für Ausführungen. Liebe Grüße Willi |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#12 erstellt: 09. Jul 2009, 12:34 | ||||
Hauers Zwölftonspiele finde ich - soweit ich sie kenne - nun freilich wirklich totlangweilig, was wohl vor allem daran liegt, dass sein individuelles Konzept einer Zwölftontechnik zu satztechnischen Einengungen führt, die aus meiner Sicht zu einer ziemlichen Verarmung der musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten führen. [Beitrag von AladdinWunderlampe am 09. Jul 2009, 13:13 bearbeitet] |
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Tannoymann
Stammgast |
#13 erstellt: 09. Jul 2009, 13:18 | ||||
Klar hat sich Hauer - ein wirklich großer Sonderling - in seinen Ausdrucksmöglichkeiten behindert. Ein Zuviel an Denkgebäude und Zuwenig Arbeit am Material. Rotierende Stückchen, die einen leicht in die Depression (zumidest geht's mir so) führen können. Seltsame Sachen, hat er da gemacht, es klingt sehr tonal, gar nicht nach 12 Ton, ein bisschen Minimal Music kommt da ebenfalls rüber. Ein völlig anderer 12 Tonansatz, der aber erwähnt werden sollte, angereichert mit Mysthizismen. Wunderlich, wunderlich. Es gibt ihn jedenfalls und vielleicht schätzt ihn der eine oder andere. Ich gehöre ja auch nicht zu seinen Anhängern. Allerdings finde ich sein Notationssysten, das sich an den Klavierttasten orientiert, sehr angenehm zu lesen, als 12 TON-Notation allerdings nur, bei tonalen Systemen ist sie mir zu unübersichtlich. Liebe Grüße W |
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Tannoymann
Stammgast |
#14 erstellt: 09. Jul 2009, 13:30 | ||||
Aber ich bin ja auch ein Mystiker - und muss vom Hauer manch 12%iges in den höchsten 12 Tönen loben Liebe Grüße Willi Kann man nicht event ein paar Weinglas Smileys in den pool dazufügen? |
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Klassikkonsument
Inventar |
#15 erstellt: 09. Jul 2009, 13:47 | ||||
Und zumindest ein Einwand gegen die Dodekaphonie liegt hier vielleicht sogar näher: Kann es überhaupt sinn- bzw. reizvolle Melodien oder Harmonien geben, wenn man von einer so starren Vorgabe einer bestimmten Tonfolge ausgeht? (hier eben die auch auf dem Klavier zu findenden Buchstaben aus den Namen der drei Komponisten). Schon das B-A-C-H-Motiv leitet sich von dem zufälligen, außermusikalischen Faktum eines Nachnamens ab. Aber es ist ja noch relativ kurz und relativ einfach: zweimal ein kleiner Sekundschritt nach unten, das zweite Mal transponiert. Da stellt sich eher die Frage (wie bei Beethovens berühmtem Tatata-Taa), was man noch in die Musik hineinbringen muss, damit sie nicht gleichbleibend und spannungslos klingt. Man kann sich immerhin sofort vorstellen, dass das vorgegebene Motiv als Grundbaustein für einen größeren Zusammenhang funktioniert. Dagegen erscheint die Vorgabe gleich dreier Namen (oder eben aller Töne der chromatischen Tonleiter in bestimmter Reihenfolge) als zu konkret, zu viel, um noch eine flexible, überraschende Musik zu schreiben. Als ich Bergs Kammerkonzert zum ersten Mal gehört habe, hatte ich zufällig reingeschaltet (ich glaube ungefähr gegen Ende des 2. Satzes) und schmierte mir ein Brot. Ich war gefesselt von dieser (trotzdem) flexiblen und überraschenden Musik. Sie erinnerte mich an Schönbergs Pierrot lunaire und Debussys Violinsonate, aber abgesehen davon war ich gespannt, was wohl als nächstes kommt. Im Finale ist es eigentlich eine recht lustige Musik. Viele Grüße |
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Tannoymann
Stammgast |
#16 erstellt: 09. Jul 2009, 14:13 | ||||
Hallo?
Ich glaube schon. Und ich finde auch, dass es genügend Werke gibt, die das bewiesen haben. Es hängt letztlich nur von der Genialität des Komponisten ab. Manche Fugenthemen von Bach wirken auch sehr seltsam, befremdlich -gar keine reizvollen Melodien- und was hat er daraus gemacht! Die Festlegung auf eine Reihe und deren Modi scheint mir keine Einschränkung zu sein. Wenn natürlich Kreativität durch einen Rechenschieber abgelöst wird, ist es aus. Das ist aber kein immanentes 12 Ton Musik Problem. Mit sinnvoller Melodie fang ich wenig an. Reizvolle Melodie ist Geschmacksache. Harmonie im klassischen Sinn war in der 12TM nicht das Thema und erwünscht. Bergs freie 12T Behandlung ist sicher kein Artgument gegen strenge 12TMusik.
Liebe Grüße W |
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Klassikkonsument
Inventar |
#17 erstellt: 09. Jul 2009, 17:53 | ||||
Hallo Willi, darauf wollte ich eigentlich auch hinaus. [Kalenderblatt-Modus]Kompositionen können sehr ausgefeilte Durchdringungen eines an sich spröden Materials sein. Das ist allerdings nicht erst seit dem 20 Jahrhundert so.[/Kalenderblatt-Modus] Viele Grüße |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#18 erstellt: 10. Jul 2009, 08:32 | ||||
Ich möchte den Hinweis auf die Lyrische Suite (aber unbedingt in der Vollversion, nicht nur die 3 orchestrierten Sätze!) nachdrücklich unterstützen. Das ist mit Abstand mein Lieblingswerk aus der 2. Wiener Schule, egal ob tonal, atonal, oder 12tönig. (Ich muß freilich gestehen, daß ich kein anderes auch nur annähernd so gut kenne, von Webern kaum etwas; die meisten wichtigen Instrumentalwerke von Berg und Schönberg habe ich aber schon gehört, und zumindest einige kenne ich immerhin ein wenig.) Es ist ein unglaublich packendes, hochemotionales Werk (vom transparenten Kopfsatz mal abgesehen, das ist eher ein aufgelichteter 12Ton-Haydn ;)). Und es klingt keineswegs (selbst wenn sie auch vorkommen) wie eine Abfolge von wilden expressionistischen Gesten (vielleicht zu Unrecht mein Eindruck einer Reihe von Werken der 2. WS), sondern so "logisch" oder "natürlich" wie irgendetwas von Bach oder Beethoven. Dazu kommt ein Ausschöpfen der einem Quartett zu Gebote stehenden Klangfarben, das ebenfalls höchst erstaunlich ist. (Gibt es bei Bartok allerdings auch, aber dort wirkt es manchmal etwas aufgesetzt, wobei ich diese Werke mal wieder hören müßte, weil ich sie eigentlich auch sehr hoch schätze.) Da die 12Tonmethode wie weiter oben im thread erwähnt, nur in einigen Abschnitten der Suite verwendet wurde, ist das auch ein gutes Demonstrationsobjekt dafür, daß diese keineswegs herausstechen. Kaum ein Normalhörer dürfte ohne Partituranalyse sagen können, welches die 12Tonsätze sind. viele Grüße JK jr. |
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Tannoymann
Stammgast |
#19 erstellt: 10. Jul 2009, 09:41 | ||||
Die Lyrische Suite ist wirklich großartig! Soeben wollte ich die Aufnahme mit dem Arditti - Quartett (ich hab sie mit diesem Stzück auch live erlebt) empfehlen, aber leider ist diese Einspielung, ebenso wie die hervorragend interpretierten Schönbergquartette, scheinbar derzeit nicht erhältlich. Ärgerlich!!!! Bleibt noch die schöne Aufnahme mit dem LaSalle Quarett, Wr. Schule bei Brillant Classics (4 CDs zum Spottpreis) Hab deren Lyr. S aber als ein bisschen unterkühlt in Erinnerung. LG W |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#20 erstellt: 10. Jul 2009, 10:49 | ||||
Weiß nicht, ob Aufnahmeempfehlungen den thread nicht zu sehr verwässern. Kennengelernt habe ich das Stück mit dem ABQ (eine ihrer frühen Aufnahmen bei Telefunken/Teldec). Gestern abend wurde ich sehr positiv von dem (recht) jungen Oslo SQ überrascht (bei cpo/jpc, hatte die CD eigentlich wg. Sibelius gekauft, mit diesem Werk habe ich mich aber noch nicht näher befaßt.) (ich besitze noch Juilliard live (Aura/Ermitage) und LaSalle, aber die habe ich nicht präsent) JK jr. |
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Tannoymann
Stammgast |
#21 erstellt: 10. Jul 2009, 11:30 | ||||
Aber du hast recht. Ich werde Aufnahmeempfehlungen nur zu Werkvorstellungen abgeben. LG W |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#22 erstellt: 11. Jul 2009, 01:01 | ||||
Bevor ich mich in die interessanten Diskussionen über Bergs Kammerkonzert und die Lyrische Suite verzettele, versuche ich lieber, Joachims Frageliste weiter abzuarbeiten. Dass man als Leser von dem, was ich darzulegen versuche, gemäß Mellus' Bemerkung manches eher "erahnt" als dass man ihm "folgen" kann, tut mir leid. Keineswegs will ich Zustimmung durch geschraubtes und undurchsichtiges Wortgeschwurbel erschleichen. Und obwohl ich für die Zukunft gerne Besserung geloben würde, weiß ich manchmal einfach nicht, wie ich bestimmte Dinge anders ausdrücken kann, ohne mich noch mehr in Details zu verlieren als ich es ohnehin schon tue. Jeden, dem meine Argumentationen prätentiös, unklar oder sonstwie dunkelmännig erscheinen, möchte ich daher bitten, sogleich Alarm zu schlagen und nachzufragen; ich werde mich dann bemühen, die betreffenden Aussagen - soweit ich kann - anschaulicher zu begründen. Darüber hinaus bin ich natürlich für Ergänzungen, Widersprüche und Kritik aller Art sehr dankbar. Doch genug der Vorrede. Für heute erlaube ich mir, die Punkte 2 und 3 zusammenfassend (wenn auch in meiner gewohnten weitschweifigen Weise) zu bearbeiten, denn beide beschäftigen sich ja mit der geschichtlichen Entwicklung hin zur Zwölftontechnik. Zur Erinnerung hier nochmals Joachims Fragen:
Die Entwicklung der deutsch-österreichischen Musik des 19. Jahrhunderts, in deren Tradition Schönberg, Webern und Berg sich sahen, kann einerseits in dem von mir weiter obendargelegten Sinne als Prozess der Auflösung der Tonalität und der Emanzipation der Dissonanz betrachtet werden. Damit wurden auch traditionelle Verfahren der Formbildung immer problematischer: Die Sonatenhauptsatzform beispielsweise, die als Paradigma der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts gelten kann, ist ja ursprünglich nicht durch die Anzahl und den Charakter ihrer Themen, sondern durch tonale Verhältnisse geprägt: Der Themendualismus, der in manchen Formenlehren so stark betont wird, ist für die Sonatenhauptsatzform der Klassik nicht ausschlaggebend: Bei Haydn etwa finden sich oftmals monothematische Sonatenhauptsätze, während Mozart in seinen Expositionen vielfach mehr als zwei Themen präsentiert. Ebensowenig beruhen die klassischen Durchführungspartien notwendig auf der Verarbeitung der exponierten Themen; nicht selten führen sie vielmehr neue Themen ein oder ergehen sich in Modulationspartien, die mehr oder weniger anonyme melodische Floskeln sequenzieren. Entscheidend für die klassische Sonatenhauptsatzform ist vielmehr die tonale Disposition: Die Exposition etabliert primär die Spannung zwischen zwei tonalen Polen (Tonika und Dominante), die Durchführung ist durch reiche Modulationen und die Vermeidung der Grundtonart charakterisiert, während die Reprise durch die Rückkehr der Grundtonart die vorangegangenen tonalen Spannungen löst. Eine solche Form funktioniert freilich nur solange, wie die tonalen Zentren klar genug ausgeprägt sind, um auch in weitläufigen Zusammenhängen als Bezugspunkte erkennbar zu bleiben. Dies ist in der Wiener Klassik weitgehend der Fall, denn die Organisation im Kleinen - also die lokale Gestaltung der Harmonik und Melodik - beruht, da sie auf das Modell der Kadenz zurückgreift, grundsätzlich auf den gleichen Quintbeziehungen, die auch die übergeordnete Großform bestimmen. Diese Äquivalenz zwischen Detailstruktur und großformaler Organisation beginnt sich allerdings im 19. Jahrhundert zunehmend aufzulösen. Schon bei Schubert treten beispielsweise zunehmend Terzverwandtschaften in Konkurrenz zu Quintverwandtschaften. Zugleich erhöht sich die Verwendung von mehrdeutigen Klänge - also von Klängen, für die mehrere Arten der Auflösungen denkbar sind. Schon in der Wiener Klassik gibt es die sogenannten "Trugschlüsse": eine harmonische Folge beginnt in vertrauter Weise, so dass sie eine bestimmte Art der Fortsetzung erwarten lässt; statt des vom Hörer erwarteten Schlussakkordes erklingt jedoch ein anderer Klang, so dass die musikalische Spannung nicht gelöst, sondern weiterhin aufrechterhalten wird. Eine solche Täuschung des Zuhörers funktioniert aber nur solange, wie die entsprechende harmonische Wendung eine Ausnahme bleibt; reiht sich Trugschluss an Trugschluss, so wird das Unerwartete zum Normalfall und das vormals "Normale" (dessen die Abweichung bedarf, um als Abweichung überhaupt spürbar zu werden) verliert an Verbindlichkeit. Ähnliches beoachtet man im 19. Jahrhundert bei zahlreichen harmonischen Phänomenen. In in diesem Sinne soll Franz Liszt - nicht nur auf harmonischem Gebiet einer der größten Experimentatoren des 19. Jahrhunderts - (gemäß einer meines Wissens freilich nicht ganz gesicherten Überlieferung) konstatiert haben, in der Musik seiner Zeit sei nunmehr der Stand erreicht, dass jeder Akkord auf jeden folgen könne. Aber selbst, wenn der Ausspruch nur gut erfunden ist, entsprach er doch zunehmend der Realität des Komponierens. Dies bedeutete aber zugleich, dass eine Form, die wesentlich auf funktionalen Beziehungen zu einem Grundton beruht, zunehmend problematischer wurde: Wenn beispielsweise schon innerhalb der Exposition einer Sonatenhauptsatzform oder sogar innerhalb eines einzigen Themas bereits alle möglichen Tonarten erklingen, ist nicht einzusehen, wie die Tonika-Dominant-Polarität noch als übergeordneter Rahmen der formalen Entwicklung dienen kann - zumal sich die harmonische Aktivität der Exposition dann kaum noch von derjenigen in der Durchführung unterscheiden lässt. Insofern ist es rührend zu sehen, dass manche spätromantischen Komponisten wie César Franck oder Max Reger auf formaler Ebene teilweise brav am übergeordneten Tonartenrahmen festhalten, obwohl der überaus hohe harmonische Ereignisreichtum innerhalb der einzelnen Teile diesen Bezugsrahmen vollkommen überwuchert. Aus Schönbergs Perspektive jedoch erschien ein solches Festhalten an einem formalen Modell, das seine musikalische Wirksamkeit realiter nicht mehr entfalten konnte, als ein bloßer Formalismus: Warum sollte man in der Reprise zu einer Tonart "zurückkehren", die zuvor eigentlich gar nicht als wirklicher Bezugspunkt des musikalischen Geschehens wirksam gewesen war? Ähnliches gilt für den Umgang mit Dissonanzen, deren funktionelle Auflösung im Komponieren des 19. Jahrhunderts auch zunehmend unterwandert worden ist. Ich wähle dafür - weil es sich sicherlich um den berühmtesten, wenn auch keinesfalls einzigen Fall handelt - den allseits bekannten und weiter vorne bereits erwähnten Tristan-Akkord: Hört man diesen Klang abstrakt - also ohne den musikalischen Kontext des Tristan , so scheint es sich zunächst um einen wohlbekannten Akkord zu handeln - nämlich um einen sogenannten "halbverminderten Septimakkord" (in weiter Lage), wie er in Dur auf der siebten Stufe und in Moll auf der zweiten Stufe zu finden ist. Tauchte ein solcher Akkord in der älteren Musik auf, so war seine harmonische Funktion normalerweise nicht zweifelhaft; erklang er beispielsweise in Moll, so konnte er nämlich vom Hörer sogleich als subdominantischer Klang, dem ein dominantischer Klang zu folgen hatte, in das vertraute Bezugssystem eingeordnet werden. Soetwas ist im Tristan nicht mehr möglich: Welche Funktion der Akkord erfüllt - und ob er überhaupt noch eine Funktion erfüllt - ist im Tristan immer nur nachträglich zu erkennen an der Art, wie der Akkord fortgeführt und aufgelöst wird. Das liegt daran, dass Wagner den Akkord (von unten nach oben: h/f/dis/gis) immer wieder anders interpretiert: Am Anfang (in Takt 2) behandelt er (was man hörend schwerlich erahnen kann) das gis als Sext-Vorhalt zum a, das sich dann als Septime eines doppeldominantischen Septimakkordes (mit tiefalterierter Quinte f im Bass) von a-Moll erweist, der dann auch in den Dominantseptimakkord auf e aufgelöst wird (wobei die Septim der Doppeldominante freilich regelwiedrig nach oben - über b nach h - weitergeführt wird). Am Höhepunkt des Vorspiels (Takt 81-83) dagegen erklingt der Tristan-Akkord - notiert mit einigen enharmonisch verwechselten Tönen (gis = as, h = ces, dis = es) - zunächst zweimal als subdominantischer Septakkord der zweiten Stufe von es-Moll, auf den dann auch erwartungsgemäß ein dominantischer Septimakkord auf B folgt; das vormals als Vorhalt verwendete gis (=as) stellt nun also die (konsonante) Terz dar, während die vormals dissonierende tiefalterierte Quinte f nun als Grundton des Akkordes interpretiert wird. Erst bei der dritten Wiederholung des Klanges (Takt 83) wird der Tristan-Akkord wieder so weitergeführt wie zu Beginn des Vorspiels, so dass er nun aufgrund seiner Vieldeutigkeit als eine Art Brückenklang zwischen es-Moll und a-Moll - also als Verbindung zwischen den beiden Tonarten, die im Quintenzirkel am weitesten voneinander entfernt sind - fungiert. Und an späteren Stellen löst Wagner den Tristan-Akkord sogar ganz aus funktionalen Zusammenhängen: Im zweiten Aufzug wird die dissonante, wesentlich von kleinen Septimen und verminderten Quarten geprägte Singstimmen-Melodie zu den Worten "das Sehnen hin zur heil'gen Nacht" sowie deren unmittelbar folgende, variierte Wiederholung zu den Worten "wo urewig, einzig wahr" jeweils mit drei auf verschiedene Stufen transponierten und in verschiedenen Umkehrungen verwendeten Tristan-Akkorden harmonisiert, die jeweils in einen Septimakkord über e münden: 1. Tristan-Akkord auf gis (gis/d/fis/h, allerdings hier mit d im Bass), 2. Tristan-Akkord auf d (d/as/c/f, allerdings mit as im Bass), 3. Tristan-Akkord auf f (f/h=ces/as=gis/es=dis in Grundstellung). Der Zusammenhang zwischen diesen Akkorden ist aus meiner Sicht funktional nicht mehr sinnvoll zu erklären; nur die aus dem Vorspiel bekannte Wendung des dritten zum vierten Akkords stellt zum Schluss doch noch eine Anbindung an a-Moll her (die freilich in der Fortsetzung nicht eingelöst wird); sie erklärt aber nicht den Zusammenhang zwischen den Akkorden 1-3. Dieser Zusammenhang beruht nicht mehr darauf, dass die drei Akkorde funktional auf einen gemeinsamen Grundton bezogen sind; die Verbindung besteht vielmehr darin, dass die Akkorde in sich gleich aufgebaut sind - dass es sich also dreimal um den Tristan-Akkord auf verschiedenen Tonstufen handelt. Der funktionale Zusammenhang zwischen den Klängen, wie er für die tonale Harmonik charakteristisch ist, wird also durch einen substantiellen Zusammenhang ersetzt. (Und genau dies wird in der freien Atonalität - und erst recht in der Dodekaphonie - gewissermaßen zum Gesetz erhoben; der Zusammenhang der Akkorde ergibt sich nun wesentlich aus der gemeinsamen Beziehung auf eine grundlegende Intervallstruktur, die sich im Falle der zwölftönigen Werke zu einer Reihe verfestigt.) Was lehrt uns das? 1. Dissonanzen werden im 19. Jahrhundert zunächst vieldeutig, lassen also unterschiedliche Arten der Auflösung und Fortführung zu. (Ist eine Auflösung aber nicht mehr zwingend, so kann sie schließlich auch ganz entfallen; alles andere wäre zumindest aus Schönbergs Sicht ein sachfremder Formalismus.) 2. Die Verknüpfung dissonanter Klänge beruht im Extremfall nicht mehr auf dem funktionalen Rückbezug auf einen gemeinsamen Grundton, sondern auf strukturellen Verwandtschaften zwischen den Klängen. Letzteres ist wichtig, damit man die Entwicklung der spätromantischen Harmonik nicht bloß negativ, als reinen Destruktionsprozess zugunsten eines gesteigerten Ausdrucksbedürfnisses (das ja an sich auch schon etwas Positives ist) versteht, der dann in die "Anarchie" der freien Atonalität mündete. Vielmehr zeichnen sich bei Liszt, Wagner, Reger und anderen Komponisten (natürlich zunächst zaghaft) neue konstruktive Möglichkeiten ab, die dann von Schönberg und seinen Schülern ausgebaut und systematisiert werden. Dazu noch zwei weitere Bemerkungen: Die Verbindung der Akkorde geschieht im späten 19. Jahrhundert zunehmend über leittönige Verbindungen; man sieht auch dies schon am Tristan-Akkord, der zu Beginn ja auch überwiegend durch chromatische Schritte in den nächsten Klang überführt wird: das gis gleitet ins a, das dis gleitet ins d, das f gleitet ins e. In der chromatisierten Tonsprache der Spätromantik kann virtuell jeder Akkordton zum Leitton werden, und diese Art der melodischen Verknüpfung durch kleinste Schritte (die beispielsweise bei Reger zum Normalfall wird), das kontinuierliche Gleiten von Klang zu Klang, ist eine weitere Möglichkeit, eine Art "Logik" oder "Zusammenhang" in die Abfolge der Akkorde zu bringen, ohne dass diese dafür funktional auf einen gemeinsamen Grundton bezogen sein müssten. Auch dieses Prinzip wird von Schönberg und seinen Schülern teilweise weitergeführt, wodurch dann beispielsweise in der gerade noch tonalen Kammersinfonie Nr. 1 E-dur die übermäßigen Akkorde mit den tonalitätssprengenden Quartklängen verkittet werden. Im Schlusskapitel seiner Harmonielehre von 1911 (also 12 Jahre vor den ersten zwölftönigen Werken) behandelt Schönberg sechs- und mehrtönige Akkorde, wie sie sich nicht nur in seiner eigenen Musik und derjenigen seiner Schüler, sondern beispielsweise auch in Werken von Franz Schreker (und ebenso bei den von Schönberg nicht explizit genannten Anton Bruckner, Richard Strauss und Gustav Mahler) finden ließen. Schönberg gibt zu, dass er die Gesetzlichkeiten der Verbindung derartiger Akkorde noch nicht durchschaut habe; er selbst (und wohl auch die anderen Komponisten, die derartige Verbindungen verwenden) folgten hier vorerst ihrem "Formgefühl", das von späteren Theorien erst eingeholt werden müsse. Immerhin macht Schönberg eine Beobachtung, die sich aus der oben beschriebenen leittönigen Verbindung der Klänge ergibt: "Für Folgen solcher Akkorde scheint die chromatische Skala verantwortlich gemacht werden zu können. Die Akkordfolge scheint geregelt zu sein durch die Tendenz, im zweiten Akkord Töne zu bringen, die im ersten gefehlt haben, welches meist die einen Halbton höheren oder tieferen sind." Diese aus dem spätromantischen Komponieren herkommende komplementäre Harmonik wird durch die Zwölftontechnik später gewissermaßen kodifiziert, denn die Reihe bringt ja ebensolche Akkordfolgen, die sich zur zwölftönigen Gesamtheit ergänzen, ganz natürlich hervor. Ein letzter Punkt: Die Schwächung der Tonalität als übergeordnetem Bezugssystem für die formalen Zusammenhänge wurde bereits im 19. Jahrhundert zunehmend kompensiert durch eine Verdichtung der motivisch-thematischen Konsistenz des musikalischen Gefüges. Bei Johannes Brahms etwa führt die Steigerung der bereits bei Haydn und Beethoven ausgeprägten Techniken motivischer Arbeit zu demjenigen, was Schönberg später "entwickelnde Variation" nennen sollte. Ähnlich und doch ganz anders arbeitet Liszt mit kleinen intervallischen Zellen, die in unterschiedlicher Weise rhythmisiert werden können und so zu Motiven und Themen ausgeformt werden, die bei größter äußerlicher Verschiedenheit strukturell eng miteinander verwandt sind. Verwandte Verfahren der Motiv- und Thementransformation finden auch im Kontext von César Francks principe cyclique ihre Anwendung. Derartige thematische, motivische und auch submotivische Verflechtungen durchdringen im späten 19. Jahrhundert zunehmend den gesamten musikalischen Satz - indem Überleitungspassagen, Nebenstimmen sowie Begleitfigurationen immer stärker auf die motivisch-thematische Substanz bezogen werden. Und nicht zuletzt stellt auch Wagners Leitmotivtechnik ein Verfahren dar, musikalischen Zusammenhang nicht mehr über die weiträumige harmonisch-tonale Disposition des Satzes, sondern über enge motivische Verknüpfung zu gewährleisten, deren kontrapunktische Verflechtung darüber hinaus eine zusätzliche Legitimation der teils ungewöhnlichen harmonischen Fortschreitungen darstellt. (Auch im Tristan-Akkord und seiner Weiterführung am Beginn des Vorspiels zum ersten Aufzug werden ja zwei motivische Gestalten polyphon verschränkt: das sogenannte "Leidens-" und das sogenannte "Sehnsuchtsmotiv". Ebenso sind die teils harschen harmonischen Forschreitungen in verschiedenen Sätzen insbesondere der 7. und 9. Sinfonie von Gustav Mahler oftmals das Resultat kontrapunktisch verknüpfter und motivisch rückgebundener Linienzüge.) Die Arbeit mit kleinen intervallischen Zellen als Mittel struktureller Zusammenhangbildung findet sich aber auch häufig in der sogenannten "freien" Atonalität Schönbergs, wobei der Komponist hier in der Ausschöpfung der Möglichkeiten entwickelnder Variation freilich weit über seine Vorbilder aus der musikalischen Tradition des 19. Jahrhunderts hinaus geht. Und die Zwölftontechnik treibt diese Entwicklung auf die Spitze und systematisiert sie zugleich, indem nun die Reihe als Substrat sämtlicher motivisch-thematischer und harmonischen Gestaltungen allgegenwärtig wird. In der Dodekaphonie realisiert sich also in gewisser Weise die Idee eines panthematischen Komponierens. Fortsetzung folgt. Bis dahin herzliche Grüße Aladdin [Beitrag von AladdinWunderlampe am 11. Jul 2009, 11:57 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#23 erstellt: 11. Jul 2009, 09:49 | ||||
Lieber Aladdin, ich bitte Dich, meine Bemerkung nicht als Kritik an Deinen Texten zu verstehen. Ich finde, dass Du Deine Sache ausgezeichnet machst. Die konkreten Beispiele in Deiner Argumentation (die unbenommen notwendig und erklärend sind!) setzen aber ein Maß an musiktheoretischem Wissen voraus, das zumindest ich nicht mitbringe. Ich bin aber ehrlich genug einzusehen, dass es hier an mir ist, nachzuarbeiten, nicht an Dir. Sonst muss erst ein Grundkurs in Harmonie- und Kompositionslehre eingeschoben werden. Das wäre wirklich zu viel des Guten! So bin ich motiviert, mir fehlende Bausteine oder unbekannte Begriffe beispielsweise im Musiklexikon nachzuschlagen. Auf diese Weise kann ich die Darstellung wenigstens abstrakt nachvollziehen. Im Detail muss ich Dir dann einfach glauben... Genug der Rückmeldung und des Lobes. Eigentlich wollte ich ja nur kurz auf eine zufällig entdeckte CD hinweisen, die prima in diesen Thread passt: Wien 1900: The Death of Tonality? From Wagnerism to the Second Viennese School. Hier gibt es Hörbeispiele, hier keine, dafür billiger. Viele Grüße, Mellus |
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Tannoymann
Stammgast |
#24 erstellt: 14. Jul 2009, 08:09 | ||||
Lieber Aladdin! Danke! Wie immer ein Genuss! LG W |
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Mellus
Stammgast |
#25 erstellt: 14. Jul 2009, 08:37 | ||||
Lieber Joachim, Deinen Eindruck kann ich unterschreiben und darum mag ich das kleine Stück. Dein Beitrag klingt aber immer noch unzufrieden. Wenn Op. 33a "kurz, vielfältig, ausdrucksreich" ist: Was willst Du denn noch? Viele Grüße, Mellus |
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Joachim49
Inventar |
#26 erstellt: 14. Jul 2009, 12:34 | ||||
Ein grosses Dankeschön an Aladdin für die 2. Lektion. Natürlich kann keine Rede davon sein, dass der Beitrag geschraubt oder undurchsichtig ist. Eventuelle Verständnisschwierigkeiten hängen nur mit dem in diesem Zusammenhang unvermeidlichen technischen Vokabular zusammen, dessen Bedeutung ich nicht immer klar erfasse, weil mir der Hintergrund (Harmonielehre) fehlt. Der Text bleibt trotzdem sehr erhellend und in seinen Grundzügen auch für mich verständlich. So ist mir jetzt zum Beispiel etwas klarer, warum der berühmte Tristanakkord so eine grosse musikgeschichtliche Bedeutung hat. Freundliche Grüsse Joachim |
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Joachim49
Inventar |
#27 erstellt: 14. Jul 2009, 12:41 | ||||
Das Stück lässt mich emotional ziemlich kalt. Allerdings will ich damit weder sagen, dass Musik, um zu gefallen, immer auch die Emotion ansprechen muss, noch dass 12Tonmusik prinzipiell 'emotional' kalt lässt. Aber vielleicht liegt es auch an Unerfahrenheit, dass ich den Reiz des Stückes nicht ganz auskosten kann. Freundliche Grüsse Joachim |
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Joachim49
Inventar |
#28 erstellt: 16. Jul 2009, 20:49 | ||||
Ich bin jetzt mal - mit einer kurzen Unterbrechung - weg. Nicht, dass ihr meint, dass ich diesen thread 'verwaisen' lasse. (U.a. werde ich eine Woche in Berlin sein, wo es das verführerische Kulturkaufhaus in der Friedrichstrasse gibt. Da werde ich mir die Händelsuiten mit Ragna Schirmer kaufen, und ich fürchte, dass es nicht dabei bleiben wird. Kennt jemand second hand shops für Klassik CD's in B?) Freundliche Grüsse Joachim |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#29 erstellt: 17. Jul 2009, 10:18 | ||||
Hallo Joachim, puh, dann hab ich ja noch ein bißchen Zeit mit dem Abarbeiten Deiner umfassenden Frageliste... (Sag mir doch kurz, bis wann die nächste Lektion fertig sein muss!) Inzwischen wünsche ich Dir ein paar erholsame und musikalisch erbauliche Tage in Berlin und anderswo. Herzliche Grüße Aladdin |
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Klassikkonsument
Inventar |
#30 erstellt: 17. Jul 2009, 19:54 | ||||
Hallo Joachim,
ein Second-Hand-CD-Laden, den ich öfter besuche, ist am Oranienburger Tor (quadratisches Schild mit der Aufschrift CD/LP). Ein Raum bildet die Klassikabteilung. Wenige Meter weiter lockt dann noch ein Zweitausendeins-Laden mit günstigen Angeboten. Viele Grüße |
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Sir_Henry0923
Stammgast |
#31 erstellt: 19. Jul 2009, 16:37 | ||||
Gott zum Gruße! 12-Ton-Musik verstehen? Wer kann das, und wer will dieses kunsthandwerkliche Kuriosum verstehen? Ein Alban Berg hätte sicherlich mehr und besser komponiert, wenn er nicht in dieses 12-Ton-Korsett eingebunden gewesen wäre. Eine musikalische Sackgasse, leider nicht mehr. Sie ruhe nach einer kompositorisch proliferativen Periode auch weiterhin in Frieden. Meinen Segen hat sie jedenfalls dazu. Euer Henry |
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AladdinWunderlampe
Stammgast |
#32 erstellt: 19. Jul 2009, 16:44 | ||||
Wer kann und wer will dieses Posting verstehen, das sich vollkommen unbeleckt zeigt vom Wissens- und Diskussionstand, der in dieser Frage hier im Forum mittlerweile erreicht ist? (Begib Dich ins Gefängnis. Gehe direkt dorthin. Ziehe nicht über Los. Ziehe nicht 1000 Jahre Musiktradition ein.) [Beitrag von AladdinWunderlampe am 19. Jul 2009, 16:46 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#33 erstellt: 19. Jul 2009, 19:02 | ||||
Vielleicht meint Henry, dass die Zwölftöner gleich hätten sehen sollen, dass nicht nur Tonhöhen in Reihen organisiert werden können, sondern auch Dauern etc., sie also gleich zum Serialismus hätten durchstarten können? Das ist erst Punkt 13. in der Liste. Wohlmeinend überinterpretierende Grüße, Mellus |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#34 erstellt: 20. Jul 2009, 07:02 | ||||
Selbst wenn man die Weiterentwicklung im Serialismus ignoriert, was wäre eigentlich so schlimm an einer "Sackgasse"? Sind nicht mit etwas bösem Willen alle Stile oder Techniken, die irgendwann mal durch andere abgelöst wurden bzw. nur noch eine marginale Rolle spielten, als "Sackgassen" zu charakterisieren? Muß ein Stil 30 Jahre maßgeblich sein oder 100, um keine Sackgasse zu sein? Reicht es nicht aus, wenn ein Stil (oder eine Technik, es handelt sich hier wohl eher um letzteres) eine Anzahl von einflußreichen Meisterwerken hervorgebracht hat? War der "Barbaro"-Stil des Sacre nicht eine viel kürzere Sackgasse? Der Verismo in der Oper? JK jr. |
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Mellus
Stammgast |
#35 erstellt: 20. Jul 2009, 07:19 | ||||
Finde ich überzeugend, Kreisler. Es liegt wohl daran, dass die Metapher der "Sackgasse" unangemessen ist. Sie impliziert ein "Es-geht-nicht-mehr-weiter" oder "Gegen-die-Wand-gefahren". Man sollte eher von Stationen sprechen, von Durchgängen oder Passagen (vielleicht fallen jemandem noch passendere Begriffe ein). Irgendjemand hat einmal gesagt, dass die Kunstgeschichte (und Musik ist ja eine Kunst) als Abfolge von Avantgarden verstanden werden kann. Diese Idee gefällt mir. Es gibt danach nicht die Avantgarde, sondern viele. Wenn sich das Avantgardeske etabliert, ergibt das einen Stil in Kreislers Sinn. Und das bereitet den Boden für die nächste Avantgarde. Das ist natürlich recht grob gestrickt, aber aus der Ferne betrachtet finde ich das nicht unplausibel. Was vielleicht als spezifisches Problem bzw. Kennzeichen der Moderne (um mal an einen anderen, ereignisreichen Thread anzuknüpfen) übrig bleibt, ist, dass sich kein verbindlicher Stil (oder zwei) etabliert hat und es wohl auch nicht mehr wird. Der viel beschrieene Stilpluralismus. Viele Grüße, Mellus [Beitrag von Mellus am 20. Jul 2009, 07:22 bearbeitet] |
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Martin2
Inventar |
#36 erstellt: 23. Jul 2009, 17:56 | ||||
Aladdins Beiträge finde ich zwar sehr interessant, aber ich kann ihnen wirklich kaum noch folgen. Ich stelle noch mal die Frage, ob das ganze Wissen über 12 Tonmusik, wenn man denn nicht wirklich etwas von der Sache versteht wie sicherlich Aladdin, nicht der Sache eher im Wege steht. Muß ich 12 Tonmusik denn unbedingt theoretisch verstehen? Kann ich nicht meinetwegen Bergs Violinkonzert einfach so hören als sei es von Brahms - also einfach mehrfach hören, meinetwegen auch zehnmal und dann einfach auch sehen, ob dies ein weitergehendes "Verständnis" bei mir auslöst? Geht es nicht letzlich doch mehr um die essentielle Frage, ob man Musik nicht einfach mal eine "echte" Chance geben sollte? Und mein Gott Bruckners Sinfonien habe ich nun wirklich auch nicht gleich beim ersten mal verstanden. Und sollte man nicht, wenn man zum Beispiel wie Joachim und ich zur Zwölftonmusik Bergs doch einen Zugang hat, diesem Pfad erst einmal folgen, also Berg hören und dann hoffen, daß einem das bei Schönberg vielleicht auch weiter hilft? Und dann noch einmal gefragt: Gibt es denn etwas bei der 12 Tonmusik, was ich unbedingt verstehen sollte, weil es mich beim musikalischen Verständnis der Musik "unterstützt"? Natürlich hat es mir meinetwegen beim Verständnis von Bruckners Musik schon weitergeholfen, zu verstehen, daß es drei Themengruppen gibt und diese auch musikalisch zu identifizieren ( auch wenn ich heute beim Hören Bruckners Musik kaum noch darüber nachdenke). Übrigens fand ich eine Bemerkung Aladdins schon sehr interessant, nämlich daß Schönberg die 12 Tonmusik keineswegs als "atonal" sehen wollte. Gibt es eine Erklärung dafür, die mich musiktheoretisch nicht überfordert? Ich persönlich finde den Ausdruck "atonale Musik" ja eigentlich sehr schön, da er für mich Ausdruck eines nach anderen Ufern strebens ausdrückt, während "12 Tonmusik" immer im Geruch eines rein technischen Systems steht. Und wenn man mir noch eine Bemerkung gestattet: Ich mache mir um die Zukunft tonaler Musik eigentlich wenig Sorgen. Es wird letzlich auch weiterhin anspruchsvolle tonale Musik geben. Mir erscheint es eher möglich, daß im Zuge eine "Postmoderne" dann eher die 12 Tonmusik unter die Räder gerät, einschließlich eines eventuell noch ausstehenden Triumphgeheuls der Gegner der 12 Tonmusik. Gruß Martin |
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Kreisler_jun.
Inventar |
#37 erstellt: 24. Jul 2009, 17:37 | ||||
Du rennst offene Türen ein. Ich kann nur darauf verweisen, was ich oben schonmal schrieb: Warum meinen so viele, sie müßten bei 12-Tonmusik theoretisches Wissen haben, nicht aber bei Bach oder Haydn, wo man für Detailanalyse ebenfalls Wissen in Tonsatz, Harmonielehre usw. haben müßte, das man als interessierter Laie normalerweise nicht besitzt? Natürlich muß man es nicht haben. Andererseits ist es bei jeglicher Musik ein Vorurteil, Wissen könne irgendwie schaden oder dem Erleben im Wege stehen. Falsche Vorurteile auszuräumen ist ja nie verkehrt. Ich meine z.B., daß in vielen populären Darstellungen (jedenfalls den ersten, denen ich vor über 20 Jahren als Teenager begegnete) die Sonatenhauptsatzform der Klassik irreführend und mit fragwürdigen Schwerpunkten vorgestellt wird. Man kriegt nämlich immer die Geschichte mit zwei möglichst gegensätzlichen Melodien als "1. u. 2. Thema" aufgetischt und "monothematische" Sonatensätze wie oft bei Haydn werden als eine Art Ausnahme dargestellt. Das ist nicht direkt falsch, aber eben auch nicht richtig. Weil es erst sekundär auf unterschiedliche Gestalten (oder gar Melodien) ankommt, primär aber auf die Spannung zwischen Haupttonart und (idR) Dominante. usw. Ebenso beruhten einige von Joachims Fragen ganz oben auf Annahmen, die so nicht richtig waren und es ist schonmal viel wert, wenn einem das jemand erklärt. JK jr. |
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Klassikkonsument
Inventar |
#38 erstellt: 24. Jul 2009, 19:29 | ||||
Hallo Martin,
ich vermute, dass das eigentlich so ähnlich ist wie mit dem Mitlesen einer Partitur (egal ob 12-Ton oder die klassisch-europäische Tonalität). Durch das Mitlesen (oder mehr -blättern in meinem Fall) nehme ich die Musik deutlicher wahr: etwa einzelne Stimmen, die Struktur eines Satzes. Ein Stück weit emanzipiere mich dabei sogar von der Qualität einer Aufnahme. Andererseits lenkt mich der zusätzliche visuelle Reiz auch ab. Lange Zeit habe ich auch keine Noten mitgeblättert und mich dennoch auch bei 12-Ton-Musik eingehört.
Hören ist nie frei von theoretischem Verständnis im weitesten Sinn. Jedenfalls gibt es kein einfaches, voraussetzungsloses Hören. Und wenn man das auch der Einfachheit halber mal annimmt, dann gilt für Brahms (Schönberg: "Musik für Erwachsene") wie für Berg, dass ein mehrfaches, nach Verstehen strebendes Hören genau das selbe versucht wie theoretische Ausführungen: sinnvolle Bezüge herstellen.
Formmäßig gibt (wie Aladdin bereits bemerkt hat) die 12-Ton-Technik eher noch weniger vor als die geläufige Funktionsharmonik. Schönberg orientiert sich in vielen 12-Ton-Werken recht deutlich an älteren Formen (in Suiten oft tanzartige Sätze wie im Barock, das 3. Streichquartett ist formal näher an der klassischen Form als die ersten beiden). Sonst kommen mir gerade Schönbergs freiere Formen, die man vor allem in den Werken der "erweiterten" Tonalität und der "Atonalität" antrifft, um nicht zu sagen das Amorphe und Spontane in dieser Musik vor wie Weiterentwicklungen der Durchführung der Klassik. Beethoven mit seiner Erweiterung der Durchführung (oder auch der Erweiterung der Coda zu einer Art 2. Durchführung) scheint mir in gewisser Weise am Anfang dieser Entwicklung zu stehen. Die Individualisierung bzw. Auflösung der Form, die vielleicht sogar das größte Hindernis beim Verständnis von avantgardistischer Musik ist, kann man z.B. auch auf die Formexperimente von Beethoven (op. 131 etwa) oder Liszt (Klaviersonate h-moll) zurückführen.
Schönberg hätte lieber die Bezeichnung "atonikal" gehabt, also Musik ohne Hierarchie der Tonbeziehungen. "Atonal" klinge ja leicht so wie "amusikalisch". Aber Dur- & Moll-Akkorde sind ja in der 12-Ton-Musik nicht unmöglich. Viele Grüße |
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Martin2
Inventar |
#39 erstellt: 24. Jul 2009, 21:53 | ||||
Also ich habe mal ein paar Semester Musikwissenschaft im Nebenfach belegt, aber weiter als zu gewissen Grundlagen bin ich letzlich nicht gekommen. Weiß vielleicht noch, was ein Sextakkord ist oder ein Septakkord oder eine Kadenz und diese Dinge. Ich glaube aber letzlich nicht, daß mir diese Dinge wirklich weiter helfen beim Verständnis von Musik. Sicher helfen sie mir mal weiter, wenn ich gewisse Bücher lese. Aber ich kann doch nun beim besten Willen Bruckner oder Ives oder auch Berg nicht "theoretisch verstehen" - das wäre doch nun der pure Größenwahn. Darum geht es doch letzlich. Wenn jemand ein sehr tiefes Verständnis von Musik hat, dann mag dieses Verständnis auch wichtig sein, aber nur weil jemand "ein bißchen mehr" weiß, sich ein bißchen besser in theoretischen Dingen auskennt, ist es völlig albern und größenwahnsinnig, sich viel darauf einzubilden. Aladdin würde darüber vermutlich schmunzeln. Wichtig ist es allerdings, Strukturen zu erkennen. Da gebe ich Dir recht. Hier können Bücher hilfreich sein. Ganz ohne Kenntnis der Strukturen einer Brucknersinfonie wird es dann schon schwierig, sich dieser Musik überhaupt zu nähern. Allerdings muß ich sagen, daß Struktur nicht unbedingt auf theoretisches Wissen angewiesen ist. Was mir sehr bei der "Erarbeitung" schwieriger Musik weiter geholfen hat, war schon die Möglichkeit, Musik auch strukturieren zu können. Letzlich müßtest Du noch nicht mal wissen, was eine Sonatensatzform ist, wenn Du eigenständig in der Lage wärst, die Wiederkehr eines Themas zu registrieren. Ich habe mir bei Bergs Violinkonzert mal wieder vorgenommen, mir "strukturelle Notizen" zu machen. Gut, Theorie ist hilfreich, keine Frage, aber angenommen jemand hätte überhaupt keinen Begriff von der Sonatensatzform, würde aber bei einem Satz erkennen, daß es da ein erstes Thema gibt, ein zweites, daß dann eine Passage der Verarbeitung der Themen gibt, daß es dann eine Passage gibt, in der sich die Themen wiederholen und dann ein letzter Abschnitt wo der Satz zum Schluß kommt, dann kann er auch die Struktur einer Sonatensatzform erkennen, obwohl er von der Sonatensatzform "theoretisch" nicht den geringsten Begriff hat. Und ich finde, selber in eine Sache eine Struktur zu bringen, ist letzlich auch phantasieanregend, ich habe das in jungen Jahren sehr gerne gemacht. Und was nützt es Dir beispielsweise, wenn Du die Themengruppen bei Bruckner meinetwegen erkennst, in diese Themengruppen selber aber überhaupt keine Struktur herein bringen kannst, wenn Du also genau weißt: Dies ist die erste Themengruppe, aber letzlich erscheint Dir dies nur als eine bloße Folge sinnloser Klangereignisse? Dann nützt Dir die Kenntnis der Sonatenform rein gar nichts. Gruß Martin |
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Klassikkonsument
Inventar |
#40 erstellt: 25. Jul 2009, 14:24 | ||||
Interesse an der Struktur und Theorie würde ich doch in einen Topf werfen. Zumindest in der Absicht gibt es große Überschneidungen. Und auf jeden Fall verabschiedet man sich von einem einfachen Hören, wenn man durch Wiederholung der Struktur auf die Schliche kommen will. Theoretisches Wissen im weitesten Sinn sind für mich u.a. Trivialitäten wie die Vorstellung davon, was eine Melodie oder ein Rhythmus sei, wie man sie als Kind beigebracht bekommt.
Auf eigene Faust Struktur in das Gehörte zu bringen bietet ja auch die Möglichkeit einen besseren Draht dazu zu kriegen. Was nützt einem die artifiziellste Musik, wenn sie einen so gar nicht interessiert? Aus der Sicht der professionellen Theorie gilt für solche individuellen Bemühungen der "Einwand", dass man den Nordpol ja nicht dauernd von neuem entdecken muss. Allerdings glaube ich auch, dass es sich immer lohnt, bei der Strukturierung bzw. Interpretation von Kunst zunächst einmal auf sich zu vertrauen, wenn man sich der Sache mit Ernst und Aufmerksamkeit widmet. Und was man in der Schule als "Sonatenform" kennenlernt, ist ja nun auch nicht über jeden Zweifel erhaben. Die wurde, glaube ich, erst irgendwann nach der Wiener Klassik festgeklopft (von Hugo Riemann?). Es gibt wohl sogar MusikwissenschaftlerInnen, die meinen, es wäre Quatsch, sich bei der Analyse einer anderen Terminologie zu bedienen als der jeweils zeitgenössischen. Andererseits liefert vielleicht die Individualisierung in Bezug auf die Form der Kompositionen in der neueren Musik sogar einen objektiven Grund, auch ältere Musik individueller zu betrachten. Viele Grüße |
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Joachim49
Inventar |
#41 erstellt: 26. Jul 2009, 11:34 | ||||
Das hat natürlich alles keine Eile - und müssen muss es sowieso nicht. Und wie gesagt - die nächsten 2 Wochen bin ich auf Reisen. Danke für die schon geleistete Arbeit & herzliche grüsse Joachim |
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Joachim49
Inventar |
#42 erstellt: 26. Jul 2009, 11:38 | ||||
Danke für den Hinweis. Das klingt verführerisch gefährlich. Freundliche grüsse Joachim |
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Martin2
Inventar |
#43 erstellt: 26. Jul 2009, 12:04 | ||||
Hallo Henry, woher weißt Du das so genau, daß die 12 Tonmusik nur ein Korsett ist? Ich verstehe zugegebenerweise wenig von der Sache, mich zieht 12 Tonmusik auch nur unter dem Gesichtspunkt der Atonalität an. Atonale Musik finde ich faszinierend, so wie ich die Musik von Ives faszinierend finde. Ich kann mir allerdings schon vorstellen, daß 12 Tonmusik doch eine notwendige Konsequenz war um gewisse Atonalität auch zu erreichen. Denn eine Sache ist auch klar: Wenn Du eine bestimmte Sache erreichen willst, dann darfst Du bezüglich dieses Ziels nicht wackeln. Schönberg hat sich meines Wissens bezüglich dieses "Korsetts" durchaus Freiheit heraus genommen und gerade nicht "korrekt" komponiert ( kommentiert hat er dies mit einem lapidaren "Ja und"). Es geht also offensichtlich nicht um Freiheit sondern um Konsequenz. Man kann beim besten Willen nicht wackeln: Entweder man will atonale Musik oder man will keine. Die Reihentechnik mag dann eine notwendige Konsequenz der Sache sein. Aber so genau weiß ich das nicht und muß es auch nicht wissen. Du machst für meinen Begriff den Grundfehler, atonale Musik mit den Maßstäben der tonalen zu messen, was Dir vom Standpunkt des Tonalen als "Zwangsystem" erscheint, mag innerhalb eines atonalen Konzepts doch etwas ganz anderes sein. Jedenfalls habe ich hier meine Position geändert, aber Du kannst ja Deine gerne behalten. Gruß Martin |
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Klassikkonsument
Inventar |
#44 erstellt: 26. Jul 2009, 18:48 | ||||
Hallo Martin & Henry, wenn man ein Problem mit Regeln für das Komponieren hat, weil sie ein "Korsett" für die musikalische Kreativität darstellen, müsste man doch eigentlich frei atonale Werke & Free Jazz am Meisten schätzen. Viele Grüße [Beitrag von Klassikkonsument am 26. Jul 2009, 18:48 bearbeitet] |
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Mellus
Stammgast |
#45 erstellt: 26. Jul 2009, 18:58 | ||||
Und selbst ein Free Jazzer ist in den seinen Gewohnheiten, Fähigkeiten, verinnerlichten Regelresten, seinem Tonfall, seinen Assoziationen und den Grenzen des Instrumentes gefangen, oder nicht? (Das maskuline Genus steht generisch natürlich auch für Free Jazzerinnen!) Viele Grüße, Mellus |
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op111
Moderator |
#46 erstellt: 14. Aug 2009, 16:27 | ||||
Was bleibt, wenn keine Regel angewandt wird, der reine Zufall, eine rein stochastische Tonfolge vergleichbar mit weißem Rauschen? Gruß |
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Klassikkonsument
Inventar |
#47 erstellt: 14. Aug 2009, 17:05 | ||||
Und spontan wäre der reine Zufall auch wieder nicht, sondern eine hohe Anforderung, der Musiker aus Fleisch und Blut nicht genügen. Eigentlich auch wieder stark reglementiert. Viele Grüße |
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Martin2
Inventar |
#48 erstellt: 01. Nov 2009, 14:19 | ||||
Vielleicht macht man sich zum Teil auch falsche Vorstellungen. Über Schönbergs 1. Satz des 3. Streichquartetts lese ich etwa im Kammermusikführer: Die Technik wird "frei verwendet. Das Wiederholungsverbot ist praktisch außer kraft gesetzt. Der erste Sonatensatz hat z.B zwei Themen, die einander zur zwölfteiligen Grundreihe ergänzen. Jedes Thema umfaßt aber nicht sechs sondern zehn Töne, zwei Töne haben die Themen gemeinsam. Ganz frei (...) sind die Begleitstimmen behandelt. Die Mittelstimmen bringen zu Beginn abwechselnd eine ostinate Figur (...) " Allerdings soll das Werk trotzdem äußerst schwierig sein. In jedem Fall wird die Sache mit der Zwölftontechnik sicher nicht so einfach sein, es ist ja auch nicht gesagt, daß ein Stück wirklich nur auf einer Reihe aufgebaut. All das ist aber letzlich nur Technik - was letzlich zählt ist das Resultat. Wie zum Beispiel Berg, dessen lyrische Suite zwei Jahre später erschienen ist, die Zwölftontechnik tatsächlich verwendet hat, weiß ich zum Beispiel nicht. |
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Klassikkonsument
Inventar |
#49 erstellt: 01. Nov 2009, 18:17 | ||||
Hallo Martin,
im 3. Streichquartett kommt Schönberg dem Hörer insofern entgegen, dass er deutlich an das klassische Modell des Streichquartetts anschließt: Die 4 Sätze entsprechen ihm in Dimension und Charakter (als Sonatenhauptsatz, langsamer Variationen-Satz, Scherzo, ich glaube, der Schlussatz ist sogar ein Rondo). Ich habe mal irgendwo gelesen, dass Schönberg sich hier das Rosamunde-Quartett von Schubert als Vorbild genommen haben soll. Und zwar, wenn ich das richtig verstanden habe, schon sehr weitgehend in dem Sinne, dass dessen Form sozusagen wie ein Gefäß mit neuem Stoff ausgefüllt werde. Das kommt mir direkt etwas unheimlich vor. Viel eher leuchtet mir die Position ein, dass ein neuer Inhalt eine neue Form erfordere bzw. dass Form und Inhalt gar nicht so äußerlich einander gegenüberstehen sollten. Schon bei Beethoven hat man eine gewisse Individualisierung der Form, an die Schönberg selbst in seinen spätromantischen & frei atonalen Werken angeschlossen hat. Auf jeden Fall scheinen mir aber die Themen des 3. Streichquartetts recht plastisch zu sein. Z.B. im langsamen Variationen-Satz beweist Schönberg einmal mehr seinen melodischen Einfallsreichtum. Viele Grüße [Beitrag von Klassikkonsument am 01. Nov 2009, 18:18 bearbeitet] |
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Martin2
Inventar |
#50 erstellt: 05. Nov 2009, 19:42 | ||||
Hallo Klassikkonsument, danke für Deine Informationen. Ich werde mir das 3. Streichquartett von Schönberg sicher einmal anhören. Mittlerweile bin ich aber beim 2., keine Zwölftonmusik, aber trotzdem schwieriger Stoff. Der 2. Satz hat zum Beispiel jenen abrupten Satzabbruch, wie ich ihn von Bergs lyrischer Suite gewöhnt bin. Geht es also wirklich nur um Zwölftonmusik beim Verständnis moderner Musik, oder nicht in erster Linie auch um das Einhören in andere musikalische Prozesse? Bergs lyrische Suite ist ja teilweise Zwölftonmusik, teilweise nicht, trotzdem kann ich nicht sagen, daß mir die "frei atonalen" Sätze leichter gefallen wären, als die Zwölftönigen. Dabei muß ich offen sagen, daß bei mir eine gewisse Skepsis gegenüber dem zwölftönigen Konzept geblieben ist, aber entscheidend bleibt, daß ich keine genauen Vorstellungen habe, wie die Zwölftönigkeit in einzelnen Werken eingesetzt wird - wie man am Beispiel des 3. Quartetts Schönbergs sehen kann, scheint es da ja eine gewaltige Spannweite zwischen strenger Zwölftönigkeit ( etwa gegenüber dem Wiederholungsverbot) und Auslegungen zu geben, die sich freier Atonalität eigentlich wieder annähern. Was aber letzlich nur zählt, ist das ästhetische Resultat. In jedem Fall ist in letzter Zeit mein Interesse an der Musik der Wiener Schule gewachsen. Es ist aber schwieriger Stoff, auch die fünf Orchesterstücke von Schönberg etwa sagen mir beim ersten Anhören wenig, bis auf den 3. Satz, insofern stellt sich mir auch hier wieder die Frage, ob die Schwierigkeiten des Verständnisses wirklich auf der Zwölftönigkeit beruhen. Insgesamt ist die Wiener Schule schwierig, finde ich. An sich würde ich mir da eigentlich viele Threads der Art "Bergs lyrische Suite" wünschen. Gruß Martin |
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