Historische Aufführungspraxis - Möglichkeiten und Grenzen

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Reiner_Klang
Stammgast
#1 erstellt: 15. Nov 2006, 14:27
Da ich in einer ganzen Reihe von Threads beobachte, daß immer wieder das Thema "Historische Aufführungspraxis" (HAP) zu sehr interessanten, aber vom Thema der jeweiligen Threads wegführenden, Diskussionen führt, will ich einmal den Versuch unternehmen, hierzu einen eigenen Thread zu eröffnen.

Zwei prägende Erfahrungen meines Hörerlebens möchte ich als Illustration hier anführen:

1. Bachs Weihnachtsoratorium in der Interpretation J.E.Gardiners war für mich eine Offenbarung und ich liebe diese Aufnahme auch heute noch ohne Abstriche.

2. Bruckners 7.Symphonie in der Fassung von Ph.Herreweghe ist meine letzte Erwerbung zum Thema und macht mir derzeit noch reichlich Mühe beim Hören.

Dabei fallen mir Fragestellungen ein, wie zum Beispiel:

Ist zum Thema HAP schon alles musikalisch gesagt?

Wie weit sollte man das Thema in die Neuzeit hinein betreiben?

Gibt es wirklich einen "Originalklang"?

Gibt es überhaupt noch wirklich überraschende Entdeckungen in diesem Zusammenhang oder geht es bei der Ausweitung der HAP auf neuere Werke nur noch um Effekthascherei und das Gewinnen von Aufmerksamkeit?

Werden die Interpretationen gemäß HAP einen permanenten Stellenwert als eine Möglichkeit unter vielen behalten oder kommt danach etwas völlig Neues?

Würde mich sehr interessieren, dazu Eure Meinungen und Erfahrungen zu hören!
Kreisler_jun.
Inventar
#2 erstellt: 15. Nov 2006, 15:26

Reiner_Klang schrieb:
Da ich in einer ganzen Reihe von Threads beobachte, daß immer wieder das Thema "Historische Aufführungspraxis" (HAP) zu sehr interessanten, aber vom Thema der jeweiligen Threads wegführenden, Diskussionen führt, will ich einmal den Versuch unternehmen, hierzu einen eigenen Thread zu eröffnen.

Zwei prägende Erfahrungen meines Hörerlebens möchte ich als Illustration hier anführen:

1. Bachs Weihnachtsoratorium in der Interpretation J.E.Gardiners war für mich eine Offenbarung und ich liebe diese Aufnahme auch heute noch ohne Abstriche.

2. Bruckners 7.Symphonie in der Fassung von Ph.Herreweghe ist meine letzte Erwerbung zum Thema und macht mir derzeit noch reichlich Mühe beim Hören.

Dabei fallen mir Fragestellungen ein, wie zum Beispiel:

Ist zum Thema HAP schon alles musikalisch gesagt?


gilt für alle Interpretationen irgendeiner Musik, s.u.



Gibt es wirklich einen "Originalklang"?


Uninteressante Frage, IMO. Eher vielleicht: Wie wichtig ist der Klang überhaupt? HIP (so die wohl gängigere Abkürzung) beschränkt sich ja nicht auf das Verwenden alter Instrumente und deren Klangbild, es geht viel mehr um Tempo, Phrasierung, Artikulation, Agogik. Ob und wieviel davon "original" ist halte ich für völlig zweitrangig. Es geht darum, ob die Musik auf diese Art für uns heute spannender, interessanter, verständlicher wird.

Und das kann mitunter auch dann geschehen, wenn Aspekte einer Interpretation historisch eigentlich "falsch" sind. Ich habe keine Ahnung bzgl. Vibrato bei Tschaikowsky. Aber nehmen wir Goulds Bach (oder Beethoven-)Interpretationen. Die sind häufig historisch alles andere als korrekt. Dennoch sind sie spannend und arbeiten Aspekte heraus, die man kaum je so deutlich vernommen hat.

D.h. ebenso wie ein "falscher" Bach von Gould (oder Furtwängler oder wem auch immer) erhellend sein kann, ebenso ein "falscher" Bruckner von Herreweghe (kenne ich auch nicht, interessiert mich ehrlich gesagt auch nicht).
Es kann natürlich auch kläglich scheitern. Wiederum sitzen aber traditionelle und HIPisten im selben Boot.



Gibt es überhaupt noch wirklich überraschende Entdeckungen in diesem Zusammenhang oder geht es bei der Ausweitung der HAP auf neuere Werke nur noch um Effekthascherei und das Gewinnen von Aufmerksamkeit?

Werden die Interpretationen gemäß HAP einen permanenten Stellenwert als eine Möglichkeit unter vielen behalten oder kommt danach etwas völlig Neues?


Diese beiden letzten Fragen kann man völig gleichberechtigt im Bezug auf "traditionelle" Interpretationen stellen. Etwa : Gibt es nach Furtwänglers (Toscaninis, XYs) Beethovendeutungen überhaupt noch Überraschungen oder geht es nur noch um Effekthascherei?
(was ist eigentlich falsch an Effekthascherei? ;))
Werden Interpretationen von Abbado und Rattle einen permanenten Stellenwert behalten oder usw.?

Das sind also gar keine HIP-spezifischen Fragen. Daher sollten Historisierende Interpretationen hier ebenso beurteilt werden wie andere.

viele Grüße

JK jr.
embe
Stammgast
#3 erstellt: 15. Nov 2006, 15:45
Hallo Reiner_Klang,
Bruckners 7.Symphonie in der Fassung von Ph.Herreweghe habe ich auch und finde diese Version sehr aufschlussreich.
Wenn man von Celebidache, Böhm oder Tintner auf Herreweghe schwenkt ist das für manche ein Schock.
Mir macht das nix.
Die 7. hab ich in zig Aufnahmen von ultraflott bis genüsslich langsam und mag die Musik trotzdem noch.

Ist zum Thema HAP schon alles musikalisch gesagt?

Bestimmt nicht, es werden immer Versuche angestrebt werden alles noch authentischer zu machen. Dem Kommerz wegen...

Wie weit sollte man das Thema in die Neuzeit hinein betreiben?

Rautavaara z.B. wird doch historisch schon aufgeführt, er schreibt für jetzige Sinfonieorchester das ist HAP, oder?
In 100 Jahren wird alles vielleicht elektronisch realisiert + rekonstuiert, die lachen sich dann kaputt über schwitzende Streicher und Bläserspeichel....alles so primitiv damals...uahahaha....

Gibt es wirklich einen "Originalklang"?

Hab ich grad versucht zu erklären....

Gibt es überhaupt noch wirklich überraschende Entdeckungen in diesem Zusammenhang oder geht es bei der Ausweitung der HAP auf neuere Werke nur noch um Effekthascherei und das Gewinnen von Aufmerksamkeit?

Muss wohl jeder für sich entscheiden.

Werden die Interpretationen gemäß HAP einen permanenten Stellenwert als eine Möglichkeit unter vielen behalten oder kommt danach etwas völlig Neues?

Siehe oben, elektronische Realisationen...

Achja...ähm du bist nicht etwa der Bruder des Reiner_Wahn
auf eBay

Gruß
embe
Reiner_Klang
Stammgast
#4 erstellt: 15. Nov 2006, 22:10

Kreisler_jun. schrieb:
Daher sollten Historisierende Interpretationen hier ebenso beurteilt werden wie andere.


Genau so sehe ich es auch und deshalb habe ich einige Fragen ein wenig provozierend gestellt.

Als man vor wenigen Jahren wieder ventillose Trompeten, Traversflöten und Barockbögen verwendete, das Vibrato reduzierte und mit extremen Tempi (in beide Richtungen) experimentierte, war das eine interpretatorische Offenbarung. Es entstanden völlig neue Sichtweisen auf die Musik. Trotz der Anlehnung an die Entstehungszeit der betreffenden Musik war doch aber auch damals das Adjektiv "historisch" schon fragwürdig.

Ich liebe viele dieser Aufnahmen und diese historisierende Herangehensweise hat ein Stück Musikgeschichte geschrieben. Vielleicht wird sie sogar dauerhaft für bestimmte Musik die Maßstäbe setzen.

Bei nicht wenigen Hörern herrscht aber beispielsweise die Meinung vor, genauso habe Bachs Musik damals in der Thomaskirche geklungen. Auf derartige Fehlschlüsse wollte ich mit der ohne Zusammenhang in meiner Liste erwähnten Frage nach dem Originalklang hinaus.

Um auf den Anfang zurückzukommen: Ich glaube, wir leben in einer auch musikalisch großartigen Zeit. Erstens die nie dagewesenen Möglichkeiten der Konservierung und Reproduktion von Musik. Zweitens das weitreichende Wissen über Instrumente, Spielweise, Besetzungen und Interpretationen aller vorangegangenen Epochen. Und drittens die Freiheit, dies alles nebeneinander zu stellen, zu vergleichen und zu erweitern (Bach mit Jazz-Trio oder Synthesizern).
JohnD
Stammgast
#5 erstellt: 23. Nov 2006, 20:11
Natürlich klingt Gardiner nicht wie Bach persönlich.

Wer will denn schon ständig verstimmte Instrumente und einen erkälteten sächsisch singenden Chor mit dem Weihnachtsoratorium hören?

Es geht heute wie damals um Idealbedingungen. Dass die meiste Musik früher Prima Vista gespielt wurde und nicht 60mal geprobt, verändert schon alles, wobei man das auch mal versuchen könnte:
Drück den Freiburgern mal ein paar Noten in die Hand und sag: heute abend ist Konzert!

Mal sehen was die dann machen... ich bin aber sicher, dass sehr gute Interpretationen dabei herauskommen würden.

Zum Grad der Historisierung: es gibt tonnenweise Spielanleitungen aus allen Zeiten, nach denen man sich richten kann. Diese sind so detailliert, dass man nichts falschmachen kann, da ist auch Phrasierung und und und erklärt. Wenn man so spielt, hat man sicher schon 70% geschafft.

Die restlichen 30% sind aber dann schlicht nicht mehr nachprüfbar - hier müssen die Interpreten die Musik einfach sprechen lassen. Wenn es gelingt - sehr gut!

Es ist mir völlig unverständlich, dass solche Elefanteninterpretationen wie von Karl Richter von einigen noch als das Nonplusultra angesehen werden. Gerade diese waren eine reine Mode und sind schon heute veraltet.

Früher wuchs die Musik noch am Stil mit oder er wurde durch die Musik erst entwickelt. Heute haben wir feste Repertoires und sollten versuchen, die Interpretationsstile der Zeiten zu berücksichtigen - um der Musik willen.

Mozarts Klavierkonzerte sind das drastischste Beispiel. Keine moderne Aufnahme klingt so stimmig wie beispielsweise eine von Anima Eterna oder Gardiner.
Moderne Instrumente und Spieltechniken machen aus den Konzerten bunte Weichspülsoundtracks oder pathetische Monster. Von der musikalischen Struktur kriegt man meist nichts mehr mit, wenn der Steinway donnert.


[Beitrag von JohnD am 23. Nov 2006, 20:16 bearbeitet]
sound67-again
Gesperrt
#6 erstellt: 23. Nov 2006, 21:42

JohnD schrieb:
Mozarts Klavierkonzerte sind das drastischste Beispiel. Keine moderne Aufnahme klingt so stimmig wie beispielsweise eine von Anima Eterna oder Gardiner.


Ach ja ...


Da ich in einer ganzen Reihe von Threads beobachte, daß immer wieder das Thema "Historische Aufführungspraxis" (HAP) zu sehr interessanten, aber vom Thema der jeweiligen Threads wegführenden, Diskussionen führt, will ich einmal den Versuch unternehmen, hierzu einen eigenen Thread zu eröffnen.

Zwei prägende Erfahrungen meines Hörerlebens möchte ich als Illustration hier anführen:

1. Bachs Weihnachtsoratorium in der Interpretation J.E.Gardiners war für mich eine Offenbarung und ich liebe diese Aufnahme auch heute noch ohne Abstriche.

2. Bruckners 7.Symphonie in der Fassung von Ph.Herreweghe ist meine letzte Erwerbung zum Thema und macht mir derzeit noch reichlich Mühe beim Hören.

Dabei fallen mir Fragestellungen ein, wie zum Beispiel:

Ist zum Thema HAP schon alles musikalisch gesagt?

Wie weit sollte man das Thema in die Neuzeit hinein betreiben?

Gibt es wirklich einen "Originalklang"?

Gibt es überhaupt noch wirklich überraschende Entdeckungen in diesem Zusammenhang oder geht es bei der Ausweitung der HAP auf neuere Werke nur noch um Effekthascherei und das Gewinnen von Aufmerksamkeit?

Werden die Interpretationen gemäß HAP einen permanenten Stellenwert als eine Möglichkeit unter vielen behalten oder kommt danach etwas völlig Neues?

Würde mich sehr interessieren, dazu Eure Meinungen und Erfahrungen zu hören!


Nicht wenige der Musiker, die ich kenne, definieren "HIP" als "Ausrede, um unsauber zu spielen". Einer davon hat sogar in der Musica Antiqua mitgemacht ...

Wenn man sich heute bspw. einige Aufnahmen der "Hanover Band" anhört, zu ihrer Zeit auch als Messiase gepriesen, dann läuft es einen kalt den Rücken runter (Beethoven Zyklus für Nimbus!)

Herreweghe und Norrington haben scheints ihr Repertoire aufgebraucht und erobern sich jetzt die Romantik. Und beide sorgen für extreme Reaktionen zwischen Begeisterung (siehe JohnD) und heftigem Kopfschütteln. Die Motivation der beiden hat sicher auch was mit der Notwendigkeit zu tun, im Geschäft zu bleiben. Harnoncourt hat es schließlich auch gemacht (siehe Dvorák, Smetana) ...

Gruß, Thomas


[Beitrag von sound67-again am 23. Nov 2006, 21:43 bearbeitet]
Kreisler_jun.
Inventar
#7 erstellt: 23. Nov 2006, 22:09

JohnD schrieb:

Es ist mir völlig unverständlich, dass solche Elefanteninterpretationen wie von Karl Richter von einigen noch als das Nonplusultra angesehen werden. Gerade diese waren eine reine Mode und sind schon heute veraltet.


Was macht Dich so sicher, dass in 50 Jahren nicht genauso über Gardiners Interpreationen geurteilt wird?
Die Idee der "historisch korrekten Interpretation" ist offensichtlich eine relativ neue Entwicklung (seit Anfang des 20. Jhds.) Den Zeiten, aus denen die Musik stammt, die heute historistisch aufgeführt wird, war solche eine Denkweise völlig fremd! Allein das sollte einen zumindest vorsichtig machen: Wir führen Musik von 1720 mit einer völlig anderen Einstellung, in einem ganz anderen sozialen Rahmen (besonders bei geistlicher Musik) auf, dazu kommen noch die 280 Jahre Musik. und Rezeptionsgeschichte, die man nicht einfach abschütteln kann (und wenn man meint, sie abgeschüttelt zu haben, ist das eben auch keine "naive", unmittelbare Haltung).



Mozarts Klavierkonzerte sind das drastischste Beispiel. Keine moderne Aufnahme klingt so stimmig wie beispielsweise eine von Anima Eterna oder Gardiner.
Moderne Instrumente und Spieltechniken machen aus den Konzerten bunte Weichspülsoundtracks oder pathetische Monster. Von der musikalischen Struktur kriegt man meist nichts mehr mit, wenn der Steinway donnert.


Das klingt sehr nach Vorurteil. Ich muß zwar zugeben noch kein Konzert mit historischem Flügel live gehört zu haben, aber selbst auf CDs mit den bekannten Nachbesserungsmöglichkeiten droht das Hammerklavier häufig vom Orchester überdeckt zu werden, bzw. muß man dann das Orchester zurücknehmen und das dynamische Spektrum einschränken. Ein Steinway kann keineswegs nur donnern, er besitzt einfach mehr dynamische Möglichkeiten als ein altes Instrument (auf wenn das klanglich in manchen Registern durchdringender sein mag)
Ist nicht die Idee, das zeitgenössische Instrumente immer für die jeweilige Musik ideal seien, ebenso naiv wie die, dass moderne nur deswegen besser wären, weil sie technische Weiterentwicklungen darstellen?

Was ich bei Ravel a la HIP beim besten Willen nicht verstehe: wir müssen doch historische Aufnahmen aus dem unmittelbaren Umfeld Ravels besitzen, von Dirigenten und Pianisten, die noch mit ihm selbst gearbeitet haben? Hier gibt es, im Gegensatz zu Bach und Mozart eine direkte Traditionslinie.
Und an einem weiteren Komponisten dieser Generation kann man sehen, dass völlig unterschiedliche Interpretationsstile gleichermaßen authentisch auf persönlichen Kontakt mit dem Komponisten zurückgeführt werden können, nämlich Mengelberg, Walter und Klemperer bei Mahler.
Das zeigt m.E., dass die Idee eines "Originals" oder einer historisch korrekten Interpretation, eine pseudo-objektive Chimäre ist. Sie zeugt obendrein von einem seltsam eingeschränkten Kunstverständnis: normalerweise versteht man ein Kunstwerk als "offen", d.h. unbestimmt vielen unterschiedlichen Interpretationen zugänglich. Je interessanter, desto unerschöpflicher. Gerade ein flüchtiges Kunstwerk wie Musik (oder Tanz) muß immer wieder "neu (nach)geschaffen" werden; es gibt kein fertig vorliegendes Werk, was nur abgespielt werden muß.

viele Grüße

JK jr.
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#8 erstellt: 24. Nov 2006, 05:03

sound67-again schrieb:

Nicht wenige der Musiker, die ich kenne, definieren "HIP" als "Ausrede, um unsauber zu spielen". Einer davon hat sogar in der Musica Antiqua mitgemacht ...

Wenn man sich heute bspw. einige Aufnahmen der "Hanover Band" anhört, zu ihrer Zeit auch als Messiase gepriesen, dann läuft es einen kalt den Rücken runter (Beethoven Zyklus für Nimbus!)


Das kann man so pauschal nicht sagen. Manche tolle spielen auf alten Instrumenten schaurig, manche hervorraged.

Genau wie das bei Leuten mit modernen Instrumenten auch ist.

Manche haben keine Ahnung von dem was sie spielen, manche sind aussergewöhnlich gut informiert und sehr inspirierte Musiker.

Genau wie das bei Leuten mit modernen Instrumenten auch ist.

Genauso wie eine Aufführung auf alten Instrumenten nicht im entferntesten garantiert, dass das ganze dann auch irgendwie "authentisch" oder wenigstens interessant ist, kann man umgekehrt keine negativen Pauschalurteile über das Spielen auf alten Instrumenten und unter Berücksichtigung von historischer Aufführungspraxis machen.

Das heisst, man kann schon, sound67 macht das die ganze Zeit. Solche Pauschal(ver)urteil(ungen) haben aber keinen Diskussionswert.

Es gibt auch genügend Musiker und Ensembles, die hervorragend auf alten Instrumenten spielen können, technisch und muskalisch.
Musica Antiqua Köln ist hier ein denkbar schlechtes Beispiel, da die (zumindest in dem, was ich bis jetzt gehört habe) oft auf technisch sehr hohem Niveau zuschlagen, und olle Goebel ist auch ohne Zweifel sehr gut über das, was er so macht, sehr gut informiert, keiner von den Leuten, die mal so eben auf alten Instrumenten rummachen, weil das gerade "in" ist.
Wer weiss, vielleicht ist ja sound67s Bekannter da rausgeflogen, weil er nicht mithalten konnte? Oder vielleicht hat er den auch einfach erfunden, um seinem Vorurteil Nachdruck zu verleihen...

And die Hanover Band kann ich mich auch noch erinnern...dunkel zumindestens...ich habe die seit Urzeiten nicht mehr gehört. Was ich mal gehört habe, war wirklich ziemlich, äh, unbeholfen. Ich hatte damals auch mehr den Eindruck, dass das mehr so Trittbrettfahrer waren. Aber das hat mit dem Thema im allgemeinen sehr wenig zu tun. Eigentlich gar nix.


sound67-again schrieb:

Herreweghe und Norrington haben scheints ihr Repertoire aufgebraucht und erobern sich jetzt die Romantik. Und beide sorgen für extreme Reaktionen zwischen Begeisterung (siehe JohnD) und heftigem Kopfschütteln. Die Motivation der beiden hat sicher auch was mit der Notwendigkeit zu tun, im Geschäft zu bleiben. Harnoncourt hat es schließlich auch gemacht (siehe Dvorák, Smetana) ...


Keine Sorge, sowohl Herreweghe als auch Norrington und einge andere der üblichen Verdächtigen beschäftigen sich immer noch mit "alter", oder sagen wir mal, "vorromantischer" Musik.

Und warum sollen auch Musiker, die sich in einem Bereich des "klassischen" Repertoires (oder dem was vor und zur Zwit der eigentlichen Klassik so komponiert wurde) besonders gut auskennen, sich nicht auch mit anderen Bereichen des Repertoires beschäftigen?
Die grundlegenden musikalischen Qualifkationen sind ja die gleichen, und mir scheint das mehr Sinn zu machen, als wenn Musiker, die sich in *gar keinem* Repertoire besonders gut auskennen, einfach so unkritisch durch alles mampfen, was ihnen so vor die Schnauze kommt...
...wie es ja in der Welt der "klassischen Musik" im allgemeinen auch sehr üblich ist.

Dazu kommt noch, dass Musiker, die darin geschult und erfahren sind, sich kritisch mit Quellen und stilistischen und aufführungspraktischen Fragen auseinandersetzen, sich durchaus auch andere Repertoirebereiche erarbeiten können.
Oder gibt's da irgendwo eine unsichtbare Trennlinie - "bis hier und nicht weiter!" - ?

Und o.g. Herren und auch andere haben ja durchaus sehr erfolgreiche und interessante Beiträge vorgelegt, ganz besonders Harnoncurt, der in Berlin, Amsterdam und Wien mit sehr grossem Erfolg "nachklassisches" dargeboten hat, mit sehr viel Sinn und Gespür für feine musikalische Werte. Und die Bartók-CD war auch ziemlich grooveig.
Davon bitte mehr! Das macht auf jeden Fall viel mehr Spass und Sinn, als dieses ständig wiederholte Vorurteilsgefasel.


[Beitrag von M_on_the_loose am 24. Nov 2006, 05:08 bearbeitet]
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#9 erstellt: 24. Nov 2006, 05:12

Reiner_Klang schrieb:
2. Bruckners 7.Symphonie in der Fassung von Ph.Herreweghe ist meine letzte Erwerbung zum Thema und macht mir derzeit noch reichlich Mühe beim Hören.


Same here. Ich war von der Aufnahme enttäuscht. Nicht, weil der Klang so leicht ist, das hatte ich mehr oder weniger erwartet, sondern, weil ich sie im allgemeinen etwas glatt und nichtvielsagend gespielt fand, und ich mir durchaus mehr Transparenz und innere motivische Ausleuchtung als möglich vorstellen könnte. Ich habe die aber auch nur 1 1/2 gehört. Ich werde mir das demnächst noch mal gönnen.
Ich habe von bekannten gehört, dass die 4. wesentlicher erfolgreicher sein soll. Habe ich aber noch gar nicht gehört.
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#10 erstellt: 24. Nov 2006, 05:23

Kreisler_jun. schrieb:
Was ich bei Ravel a la HIP beim besten Willen nicht verstehe: wir müssen doch historische Aufnahmen aus dem unmittelbaren Umfeld Ravels besitzen, von Dirigenten und Pianisten, die noch mit ihm selbst gearbeitet haben? Hier gibt es, im Gegensatz zu Bach und Mozart eine direkte Traditionslinie.


Und sogar Aufnahmen aus der Zeit! Ich habe eine ganze Kiste voll mit Aufnahmen des Orchestre Lamoureux aus den 20ern. Hochinteressant, und man kann hören, dass die tatsächlich sehr schlank, praktisch ohne Vibrato (aber nicht völlig), sehr "feingliedrig" und transparent gespielt haben. Genauso wie man ja auch bei Aufnahmen as jüngerer Zeit, noch in den 50ern und 60ern, sogar in den 70ern noch, hören kann, wie extrem unterschiedlich Orchester in verschieden Kulturkreisen geklungen haben. Solche Unterschiede sind auch heute noch vorhanden, aber im allgemeinen ist der Klang der meisten Orchester heute leider recht "globalisiert". Da lohnt es sich schon, auch mal die Orchesterpraxis z.B. des frühen 20.Jahrhunderts in einem bestimmten Kulturkreis ein wenig "auszugraben" und zu betrachten. Das ist auf jeden Fall interessant und bereichernd.

Dass es von Interpret zu Interpret sehr unterschiedlich, alle durchaus "gültige" Auslegungen gibt, das sich Spielweisen und Klangvorstellungen verändert und, zumindestens was das allgemeine technische Niveau angeht, durchaus höher entwickelt haben, ändert daran gar nichts.

Im Gegenteil, man kann das eigentlich alles um so mehr würdigen, als man sich dieser verschieden Schichten von musiklaischen Traditionen bewusst ist.
Reiner_Klang
Stammgast
#12 erstellt: 24. Nov 2006, 11:10
Als ich vor erst wenigen Jahrzehnten meine musikalische Erstprägung erhielt, herrschte fast durchgehend noch die Meinung vor, daß das, was man zu diesem Zeitpunkt mit den aktuellen Erkenntnissen und den aktuellen Instrumenten tat, besser war, als alles Vorhergegangene der Musikgeschichte. Das war ziemlich arrogant.

Vor diesem Hintergrund war Bach, endlich wieder einmal auf dem Cembalo gespielt, für mich (und viele andere auch) eine Offenbarung. Der Klang von Barocktrompeten in Weihnachtsoratorium und H-Moll-Messe, der ganz andere Streicherklang und eine Emma Kirkby - fast ohne Vibrato, dafür mit einer engelsgleichen Phrasierung: das hat mich völlig mitgerissen. Ich konnte mir nicht mehr vorstellten, Musik bis Bach jemals wieder anders genießen zu können.

Inzwischen ist mein musikalisches Herz wieder viel weiter geworden und ich kann offen und mit Neugierde allen unterschiedlichen Zugängen zur Musik vergangener Epochen begegnen. Dabei habe ich für mich das Wort "Original" gestrichen. Die Interpretation mit alten Instrumenten und alten Spieltechniken ist für mich eine hochinteressante Möglichkeit unter anderen, musikalische Inhalte freizulegen. Kann im Einzelfall aber auch danebengehen.

Zu Karl Richter: Ich habe große Hochachtung vor dem Menschen und der Ernsthaftigkeit seiner Beschäftigung mit Bach. Gerade die theologische Ausdeutung der Texte ist oft beeindruckend. Andererseits kann ich den Klang seiner Interpretationen nicht ertragen. Mir ist dabei, als müßte ich ein dickes Stück Buttercremetorte mit extra Sahne obendrauf essen!

Um ein Bibelwort in diesen Zusammenhang zu transponieren: "Alles ist erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten!"
sound67-again
Gesperrt
#13 erstellt: 24. Nov 2006, 11:21

Reiner_Klang schrieb:
Dabei habe ich für mich das Wort "Original" gestrichen. Die Interpretation mit alten Instrumenten und alten Spieltechniken ist für mich eine hochinteressante Möglichkeit unter anderen, musikalische Inhalte freizulegen. Kann im Einzelfall aber auch danebengehen.


Das ist glaube ich eine guter Herangehensweise. Mit dem Wort "Original" haben sich die Verfechter der historischen Aufführungspraxis (bzw. die Medien und Marketingsabteilungen) letztlich einen Bärendienst erwiesen, weil der Begriff alles andere, die vielen anderen Interpretations- und Spielmögflichkeiten (die ja den Reiz der klassischen Musik ausmachen), als "nicht original" diffamiert.

Gruß, Thomas
sound67-again
Gesperrt
#14 erstellt: 24. Nov 2006, 12:45

M_on_the_loose schrieb:

Musica Antiqua Köln ist hier ein denkbar schlechtes Beispiel, da die (zumindest in dem, was ich bis jetzt gehört habe) oft auf technisch sehr hohem Niveau zuschlagen, und olle Goebel ist auch ohne Zweifel sehr gut über das, was er so macht, sehr gut informiert, keiner von den Leuten, die mal so eben auf alten Instrumenten rummachen, weil das gerade "in" ist.
Wer weiss, vielleicht ist ja sound67s Bekannter da rausgeflogen, weil er nicht mithalten konnte? Oder vielleicht hat er den auch einfach erfunden, um seinem Vorurteil Nachdruck zu verleihen...


Billig.. Kennst Du meinen Bekannten und kannst irgendetwas zu seinen musikalischen Fähhigkeiten beitragen? Nein? Na so was.

Was weißt Du von Musica Antiqua? Die Musica Antiqua hat sich endlos mit Musikern zu Mucken aufgestockt. Mein Bekannter versteht sich übrigens bestens mit Goebel - was aber nicht heisst, das er dessen Ansatz teilen muss, oder?

Und mit Barockmucken lässt sich nun mal kein Lebensunterhalt bestreiten ... Da ist doch eine feste Stelle in einem Kulturorchester die bessere Wahl. Da wird inzwischen beides gemacht. historische und moderne Aufführungspraxis.

Das hat auch der Ayatollah der historischen Aufführungspraxis inzwischen verstanden und sattelt auf Dirigent um.


Und die Hanover Band kann ich mich auch noch erinnern...dunkel zumindestens...ich habe die seit Urzeiten nicht mehr gehört. Was ich mal gehört habe, war wirklich ziemlich, äh, unbeholfen. Ich hatte damals auch mehr den Eindruck, dass das mehr so Trittbrettfahrer waren. Aber das hat mit dem Thema im allgemeinen sehr wenig zu tun. Eigentlich gar nix.


Das waren auch "Stars" des frühen HIP-Kults. Hier kannst Du Dein Erinnerungsvermögen auffrischen:

Trittbrettfahrer? Siehe: http://www.thehanoverband.com/

Ziemlich langlebig für "Trittbrettfahrer", oder? Und hat gar nichts mit der Praxis historisierender Aufführungen zu tun ...


Keine Sorge, sowohl Herreweghe als auch Norrington und einge andere der üblichen Verdächtigen beschäftigen sich immer noch mit "alter", oder sagen wir mal, "vorromantischer" Musik.


Wer hat das Gegenteil behauptet? Wenn Norrington Vaughan Williams oder Holst dirigiert hab ich nichts dagegen. Seltsamerweise (oder auch nicht!) hören sich die Ergebnisse dessen doch relativ austauschbar mit denen anderer Dirigenten an.


Und warum sollen auch Musiker, die sich in einem Bereich des "klassischen" Repertoires (oder dem was vor und zur Zwit der eigentlichen Klassik so komponiert wurde) besonders gut auskennen, sich nicht auch mit anderen Bereichen des Repertoires beschäftigen?


Wer hat das Gegenteil behauptet?


Ganz besonders Harnoncurt, der in Berlin, Amsterdam und Wien mit sehr grossem Erfolg "nachklassisches" dargeboten hat, mit sehr viel Sinn und Gespür für feine musikalische Werte.


Wer hat das Gegenteil behauptet?

Gruß, Thomas


[Beitrag von sound67-again am 24. Nov 2006, 12:56 bearbeitet]
Laubandel
Ist häufiger hier
#15 erstellt: 24. Nov 2006, 12:49

M_on_the_loose schrieb:

Reiner_Klang schrieb:
2. Bruckners 7.Symphonie in der Fassung von Ph.Herreweghe ist meine letzte Erwerbung zum Thema und macht mir derzeit noch reichlich Mühe beim Hören.


Same here. Ich war von der Aufnahme enttäuscht. Nicht, weil der Klang so leicht ist, das hatte ich mehr oder weniger erwartet, sondern, weil ich sie im allgemeinen etwas glatt und nichtvielsagend gespielt fand, und ich mir durchaus mehr Transparenz und innere motivische Ausleuchtung als möglich vorstellen könnte. Ich habe die aber auch nur 1 1/2 gehört. Ich werde mir das demnächst noch mal gönnen.
Ich habe von bekannten gehört, dass die 4. wesentlicher erfolgreicher sein soll. Habe ich aber noch gar nicht gehört.



Und bei mir sieht es ähnlich aus. Nicht direkt enttäuscht, aber Herreweghe hat doch einiges unter den Tisch gekehrt, was zur symphonischen Aussage gehört. Es sind auf jeden Fall einige Schlüsselstellen, die ziemlich flach ausfallen, und das hat nichts mit dem historisierenden Klangbild zu tun, sondern mit interpretatorischer Zurückhaltung, die m.E. nicht angebracht ist. Eines ist z.B. der Höhepunkt im Adagio, der völlig beiläufig überspielt wird und nicht als Wendepunkt herauskommt. Man muß schon ziemlich viel Nachdruck hineinlegen, damit die Form deutlich wird, und das mag auch ein Beweggrund für Schalk gewesen sein, Brucknern (mutmaßlich) den Beckenschlag aufzuschwatzen. Die andere Stelle ist das dritte Thema im Finale, das Herreweghe geradezu zart bringt. Das kann ich mir nicht anders vorstellen als wie einen Unhold, der aus dem Kartoffelkeller gestapft kommt und mit beiden Beinen aufstampft. (Daher kann ich auch dem decrescendo nichts abgewinnen, das Celibidache hier eingeführt hat, das wahrscheinlich noch im Münchner Material eingezeichnet ist und folgerichtig auch von Thielemann so interpretiert wird.)(Noch eine Parenthese zur Belustigung: wer einmal den jap. Sumoringer namens Takamisakari gesehen hat, kann sich ein Bild davon machen, was meine Phantasie dieser Stelle abgewinnt. )

Wie gesagt, mit dem HIP Ansatz hat das nichts zu tun, ich kann mir gut vorstellen, daß man davon ausgehend etwas völlig anderes machen kann. Unvergeßlich ist mir die Baden-Badener Aufführung der KlangVerwaltung unter Enoch zu Guttenberg, zwar auf modernem Instrumentarium, aber ohne Vibrato und dennoch hochexpressiv. Das liegt daran, daß ungemein "vokal" phrasiert wurde, was ja bei der musikalischen Abkunft von Ensemble und Dirigent sich fast von selbst ergibt. Dieselben kann man mit der Romantischen Symphonie ab und an im Fernsehen erleben. Bezüglich der letzteren Symphonie glaube ich auch, daß sie Herreweghe wirklich geglückt ist, sie glänzt aber auch viel mehr ohne allzu viel dirigentische Intervention.


Grüße

laubandel
sound67-again
Gesperrt
#16 erstellt: 24. Nov 2006, 13:05

Laubandel schrieb:
Unvergeßlich ist mir die Baden-Badener Aufführung der KlangVerwaltung unter Enoch zu Guttenberg, zwar auf modernem Instrumentarium, aber ohne Vibrato und dennoch hochexpressiv. Das liegt daran, daß ungemein "vokal" phrasiert wurde, was ja bei der musikalischen Abkunft von Ensemble und Dirigent sich fast von selbst ergibt.


A propos. Die "Klangverwaltung" (bizarrer Name) gibt morgen hier in Frankfurt ein Konzert:

http://www.alteoper.de/php2/content_detail2.php?id=119100583.0000

Ist das ein "niederglassenes" ständiges Ensemble -klingt ja sehr verbeamtet :D- oder auch ein Telefonorchester?

Gruß, Thomas


[Beitrag von sound67-again am 24. Nov 2006, 13:08 bearbeitet]
Laubandel
Ist häufiger hier
#17 erstellt: 24. Nov 2006, 13:47
"Niedergelassen" würde ich kaum sagen. Eher ein "Projektorchester". Wichtig ist eine gewisse Konstanz an den Stimmführerpulten und das wichtigste ist engagierte Probenarbeit. Ich denke, die Musiker verbringen mehr Arbeitszeit gemeinsam als diverse Festspielorchester, sei es Bayreuth, Luzern oder Budapest. Und die "verbeamtete" Routine sollte man lieber zu Hause lassen, wenn man auf Tour geht. Im übrigen sind bis zu 30 % Aushilfen in einem niedergelassenen Orchester nicht ungewöhnlich, zumal bei großbesetzten Werken, die die Planstellenzahl eh überschreiten. Klar, daß das ganz schlimm umschlagen kann, ich erinnere mich - ohne Namensnennung - an eine Bruckner Neunte, wo sechs von den acht Hornisten Aushilfen waren (5-8, die auf Wagnertuben wechseln, sowieso) und er Rest keine Lust hatte. So klangs dann auch.

Weihnachtsoratorium mit Klangverwaltung, das wird wiederum für Liebhaber von Bach auf Barockinstrumenten gewöhnungsbedürftig sein, denn da sind ganz normale Blasinstrumente zu hören, wenn auch "rhetorisch" gespielt.


Grüße

laubandel
Reiner_Klang
Stammgast
#18 erstellt: 24. Nov 2006, 14:00

Laubandel schrieb:
Weihnachtsoratorium mit Klangverwaltung, das wird wiederum für Liebhaber von Bach auf Barockinstrumenten gewöhnungsbedürftig sein, denn da sind ganz normale Blasinstrumente zu hören, wenn auch "rhetorisch" gespielt.


Besser Ventiltrompeten erstklassig gespielt, als Barocktrompeten dilettantische Jodler entlockt!

(N.B: Ich finde auch den Klang von Barocktrompeten wunderschön!)


[Beitrag von Reiner_Klang am 24. Nov 2006, 14:08 bearbeitet]
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#19 erstellt: 24. Nov 2006, 14:05
Ist doch logisch. Besser Instrumente gut gespielt als Instrumente schlecht gespielt, egal ob "alte" oder "neue". Warum immer diese seltsamen Vergleiche?
Laubandel
Ist häufiger hier
#20 erstellt: 24. Nov 2006, 14:12

Reiner_Klang schrieb:

Laubandel schrieb:
Weihnachtsoratorium mit Klangverwaltung, das wird wiederum für Liebhaber von Bach auf Barockinstrumenten gewöhnungsbedürftig sein, denn da sind ganz normale Blasinstrumente zu hören, wenn auch "rhetorisch" gespielt.


Besser Ventiltrompeten erstklassig gespielt, als Barocktrompeten dilettantische Jodler entlockt! ;)


Manche meinen beiderlei Instrumentarium zu können, und bei wenigen trifft das auch zu. Intonieren muß man allemal, wenn auch nicht unbedingt gleichstufig.


Grüße

laubandel
Reiner_Klang
Stammgast
#21 erstellt: 24. Nov 2006, 14:21

Laubandel schrieb:
Intonieren muß man allemal, wenn auch nicht unbedingt gleichstufig.


Diejenigen Musiker, die eine ventillose Trompete oder ein ebensolches Horn sauber intoniert mit allen notwendigen Verzierungen spielen können (in der Barockmusik häufig in Clarinlage), haben meine allergrößte Hochachtung!
Deukalion
Inventar
#22 erstellt: 24. Nov 2006, 22:34
Weiter oben schrieb Kreisler jun.:


...aber selbst auf CDs mit den bekannten Nachbesserungsmöglichkeiten droht das Hammerklavier häufig vom Orchester überdeckt zu werden, bzw. muß man dann das Orchester zurücknehmen und das dynamische Spektrum einschränken


Bestes Beispiel: Die Klavierkonzerte Beethovens mit Melvyn Tan, Roger Norrington und den London Classical Players. Tan kämpft hier einen ganz aussichtslosen Kampf gegen das Orchester, sein schmalbrüstig klingenden Hammerflügel geht einfach schier unter im HIP- Orchesterklang. So sehr ich sonst bei vor- romantischer Musik HIP- Interpretationen den Interpretationen auf modernem Instrumentarium vorziehe: Diese Aufnahme ist das beste Beispiel, dass vermeindlicher "Originalklang" niemals per se den Gehalt des Werkes besser erschließt.
Die Aufnahme Brendel/Rattle (nur als Beispiel), auf "nicht- originalen", moderen Instrumenten gespielt, mit einem dynamisch dem Orchester gewachsenen Steinway- Flügel ist da um Längen besser, gibt die "Klangrede" Beethovens um Längen vollständiger und differenzierter wieder als die "historisch informierte" Tan/ Norrington- Aufnahme.
Anders dagegen bei den Sinfonien Beethovens, da gibt es viele großartige HIP- Aufnahmen.

Also: Je nach Komposition kann mal der HIP, mal der moderne Weg erhellend sein. Ich mag weder Dogmatismus noch den erhobenen besserwisserischen Zeigefinger, wobei ja eh gilt: Die größten Kritiker der Elche wurden später selber welche: Viele ehemalige HIP- Päpste stehen heute modernen Orchestern vor, ihr wisst schon, wen ich meine!



Viele Grüße
Hartmut
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#23 erstellt: 25. Nov 2006, 05:38
Die Tan-Aufnahmen fand ich auch nocht soooo toll, ist aber schon sehr lang her, dass ich das gehört habe, ich kann mich an Details nicht mehr gut erinnern, ausser dass das Fortepiano in der Tat nicht immer gut zu hören war.
Hast Du mal die Aufnahmen mit Levin und Gardiner gehört?
embe
Stammgast
#24 erstellt: 25. Nov 2006, 11:38
Hallo,
also ich finde die Levin / Gardiner Aufnahmen sind gelungene Alternativen zu den althergebrachten Sichtweisen.

Kann man sich ruhig einmal zum Vergleich gönnen.
Trotzdem liebe ich meine Brendel, Gilels, Fischer, Fleisher,
Ashkenazy usw. Aufnahmen



Gruß
embe
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#25 erstellt: 26. Nov 2006, 03:35
Hast Du auch mal die Aufnahmen mit Zimerman und Bernstein gehört? Sicher nicht "HIP", mir fällt das nur in diesem Zusammenhang ein, weil ich die immer mal hören wollte, aber bis jetzt keine halbwegs billigen Angebote finden konnte.
Neulich habe ich mir die Kiste mit Pollini und Abbado gegönnt, aber noch nicht so viel Zeit gehabt, die konzentriert zu hören.
Ich habe auch gerade eine Aufnahme des 3. Konzerts mit Moravec und Neumann bestellt, da die laut Aussage eines Posters in einem anderen Forum da bomb ist. Ist aber noch nicht angekommen.


[Beitrag von M_on_the_loose am 26. Nov 2006, 03:36 bearbeitet]
JohnD
Stammgast
#26 erstellt: 27. Nov 2006, 00:29
Anscheinend muss man einigen Leuten hier kurz erklären, wie das mit den Mozart-Konzerten ist.

Dass das Hammerklavier manchmal vom Orchester überdeckt wird, hat schon seinen Grund.
Wer die musikalische Struktur eines Mozartkonzertes hört, weiß, dass das Material häufig in Bläserdialogen oder zwischen Gruppen verarbeitet wird, während das Klavier einfach nur die Akkorde als Arpeggien auffüllt. Mozart hat sich oft nicht mal die Mühe gemacht, sowas aufzuschreiben!
Das ist ein Relikt aus dem Generalbasszeitalter. Und die Musik des Flügels ist an solchen Stellen immer das Unwichtigste. (Solche Arpeggien sind in ausgefeilterer Form erst später im Virtuosenkonzert im Vordergrund.)
Sobald der Flügel Material bekommt, oder mit Bläsern im Dialog steht, ist die Instrumentation immer sehr durchsichtig.

Bei Beethoven ist Tans Flügel zu schwach, das liegt aber daran, dass er meines Wissens mit einem für die späteren Konzerte ungeeigneten Flügel spielt.
Ich empfehle mal die Aufnahme mit Hogwood und Steve Lubin.
Lubin nutzt Instrumente aus dem späten 18. Jh. für die ersten beiden, den 1808er Broadwood für das 3. und zwei Flügel soweit ich weiß um 1820 für die beiden letzten Konzerte.
Von "untergehen" kann da nicht die Rede sein. Vor allem das 3. gefällt mir sehr gut, kenne kaum ebenbürtige Aufnahmen.
Deukalion
Inventar
#27 erstellt: 28. Nov 2006, 18:53
John D schrieb:


Anscheinend muss man einigen Leuten hier kurz erklären, wie das mit den Mozart-Konzerten ist.


Wen meinst du mit "einigen Leuten"?


Dass das Hammerklavier manchmal vom Orchester überdeckt wird, hat schon seinen Grund.
Wer die musikalische Struktur eines Mozartkonzertes hört, weiß, dass das Material häufig in Bläserdialogen oder zwischen Gruppen verarbeitet wird, während das Klavier einfach nur die Akkorde als Arpeggien auffüllt. Mozart hat sich oft nicht mal die Mühe gemacht, sowas aufzuschreiben!
Das ist ein Relikt aus dem Generalbasszeitalter. Und die Musik des Flügels ist an solchen Stellen immer das Unwichtigste. (Solche Arpeggien sind in ausgefeilterer Form erst später im Virtuosenkonzert im Vordergrund.)
Sobald der Flügel Material bekommt, oder mit Bläsern im Dialog steht, ist die Instrumentation immer sehr durchsichtig.


Vielen Dank für die kostenfreie Belehrung!

Falls du u. a. mich mit "einigen Leuten" meintest:
- Ich sprach nicht von den Klavierkonzerten von Mozart, sondern von denen von Beethoven mit Tan!
- Ich sprach auch nicht von den Durchführungspassagen sondern von den Passagen, in denen das Hammerklavier die Hauptstimme spielt. In diesen ist das von mir oben beschriebene "Untergehen" des die Hauptstimme spielenden Hammerklaviers hörbar.
-Dass in Passagen, in denen der Hammerflügel eine begleitende Rolle übernimmt, dieser weniger präsent als die die Hauptstimme spielenden Instrumente ist, ist glaube ich trivial!


Bei Beethoven ist Tans Flügel zu schwach, das liegt aber daran, dass er meines Wissens mit einem für die späteren Konzerte ungeeigneten Flügel spielt.

Das mag sein. Mein Booklet schweigt über die von Tan verwendeten Instrumente. Er geht aber in allen, nicht nur in den späten Konzerten unter!


Ich empfehle mal die Aufnahme mit Hogwood und Steve Lubin.

Zustimmung.

Grüße
Hartmut
SirVival
Hat sich gelöscht
#28 erstellt: 03. Dez 2006, 18:03
Hi,

wie immer ist auch die HAP eine Sache des Geschmacks. Nur, Streichorchester klingen wie der Katzenkampf in einer lauen Frühlingsnacht. Ein Miauen und Kreischen, dass ich tatsächlich meinem ehemaligen Musiklehrer glauben mag, der behauptete, die Saiten der Streichinstrumente seien aus Katzendarm gefertigt. Schön ist anders. Ich glaube, Bach hätte auf den Violinisten etliche Geigenbögen zertrümmert, könnte er die trockenen, akademischen Interpretationen seiner Musik durch Norrington, Herreweghe und Konsorten hören. Andere wie Musica antiquua wiederum sind mir etwas zu hemdsärmlig sportiv. man hat den Eindruck, sie möchten neue Geschwindigkeitsrekorde beim Abspielen ihrer Musikstücke erreichen.

Da ist mir Karl Richter, auch wenn seine Aufnahmen heute Scheisse klingen und dicke Schichten Staub angesetzt haben, tausendmal lieber. Allein, wenn man die Hörner im 1. Brandenburgischen Konzert mit historisierendem Instrumentarium hört, glaubt man Zeuge einer Stampede schottischer Hochlandrinder zu sein. Bei Richter werden die Ohren nicht durch falsch intonierende Hornisten beleidigt.

Gruß
Deukalion
Inventar
#29 erstellt: 03. Dez 2006, 20:01
Hi Sirvival!


....wie immer ist auch die HAP eine Sache des Geschmacks. Nur, Streichorchester klingen wie der Katzenkampf in einer lauen Frühlingsnacht. Ein Miauen und Kreischen, dass ich tatsächlich meinem ehemaligen Musiklehrer glauben mag, der behauptete, die Saiten der Streichinstrumente seien aus Katzendarm gefertigt. Schön ist anders.....
Allein, wenn man die Hörner im 1. Brandenburgischen Konzert mit historisierendem Instrumentarium hört, glaubt man Zeuge einer Stampede schottischer Hochlandrinder zu sein.


Das sehe ich etwas anders! Es gibt sehr wohltönende HAP- Interpretationen z. B. die von Gardiner... die klingen mir sogar manchmal etwas zu glatt quasi immer mit optimistisch federndem Schritt dirigiert. Da geht das etwas spröde knarzig- lebendige anderer HAP- Aufnahmen (Hogwood) oder das vitale Feuer, das unverbraucht wie neu Klingende (Concerto Köln) etwas verloren.

Hartmut
JohnD
Stammgast
#30 erstellt: 04. Dez 2006, 08:51
SirVival, und mir wirft man vor, dass ich den Immerseel so lobe...

Der kratzt übrigens garnicht.

Auch das Bach-Collegium Japan kratzt nicht. Und viele viele andere Ensembles.

Dass es so viele verschiedene Ansätze gibt, die sich aber alle an Quellen der Zeit geschult haben, finde ich gut.
Historisch heißt auch: damals wird die Musik in Europa überall gravierend anders geklungen haben, auch wenn die Stücke selbst weit verbreitet waren.
Ich bin mir sicher, dass eine Frescobaldi-Canzona von Buxtehude völlig anders gespielt wurde als von einem Südfranzösischen Organisten oder einem Spanier.
Marini wird in Düsseldorf sicher anders geklungen haben als in Neapel.
Es gab keine CDs und entweder hat man irgendwann mal auf Reisen (200 km waren schon ne Weltreise) ein paar Ideen aufgeschnappt, wenn man da mal in einer Messe war oder zufällig bei irgendwem eingeladen, der sich mal nen Italiener angestellt hat.

Heute klingen die meisten Sinfonieorchester ähnlich, am größten sind noch die Unterschiede zwischen Mitteleuropa und USA. Aber auch die sind vernachlässigbar.
Im 17. Jahrhundert waren wahrscheinlich die interpretatorischen Unterschiede zwischen Kopenhagen und Salerno so groß wie heute zwischen Dublin und Kyoto...
Reiner_Klang
Stammgast
#31 erstellt: 04. Dez 2006, 16:36

JohnD schrieb:
Dass es so viele verschiedene Ansätze gibt, die sich aber alle an Quellen der Zeit geschult haben, finde ich gut.


Hier möchte ich mich gerne anschließen. Die einzig wahre historische Interpretation eines Werkes KANN es ja gar nicht geben. Je nachdem, welchen Aspekt man ausleuchten möchte, erlaubt ein Werk sehr unterschiedliche Herangehensweisen:

1. Man kann mit den klanglich bestmöglichen Instrumenten, den technisch und interpretatorisch besten Musikern, allen musikwissenschaftlichen Erkenntnissen in einer akustisch nahezu optimalen Umgebung und ggf. der besten verfügbaren Aufnahmetechnik das Werk so gut und schön wie möglich darstellen. Beispiel für diesen Ansatz ist für mich der o.g. J.E.Gardiner. Dies hat auch seine Berechtigung mit historischem Bezug, denn viele Komponisten (Bsp. Bach) hatten nur selten hervorragende Musiker, Instrumente und Aufführungsbedingungen. Ich spekuliere einmal, daß auch der hochverehrte Johann Sebastian an so einer wundervollen Interpretation seiner Werke Freude gehabt hätte.

2. Man kann andererseits angesichts des heutigen professionalisierten und institutionalisierten Konzertbetriebes, fulminanter Orchesterklänge und übermäßig schöner und perfekter akademischer Interpretationen die Werke auch einmal bewußt "gegen den Strich bürsten". Neben dem erstrebten Aufrütteln des Hörers bildet dies ein Stück die historische Wirklichkeit mit ihrer in vielen Aspekten fehlenden Perfektion und Glätte ab. Mein Paradebeispiel für diesen Ansatz ist die erste "historische" Einspielung von Vivaldis Vier Jahreszeiten durch Harnoncourt. Da flogen die Fetzen von dieser sonst ach so lieblich interpretierten Musik. (Wahrscheinlich kennen die Spezialisten hier im Forum noch viel bessere Beispiele). Etliche dieser historischen Interpretationen von der härteren Sorte haben nicht unwesentliche Beiträge geleistet, den Horizont zu weiten oder die Blickrichtung auf ein Werk zu wechseln. Andererseits kenne ich nur wenige derartige Interpretationen, die ich sehr oft, ganz zu schweigen von ausschließlich, hören möchte.
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#32 erstellt: 05. Dez 2006, 02:53
Optimal formuliert. Besser kann man es nicht sagen. Natürlich sind all Interpretationen nur "Teilansichten" der "Wahrheit", aber es ist trotzdem enorm interessant, bestimmte Aspekte der Musik und der mit ihr verbundenen Aufführungspraxis und den verschiedenen Schichten der Rezeptions- und Interpretationsgeschichte auszuleuchten.

Mich wundert es sehr, dass manche Leute immer und immer wieder wiederholen müssen, dass es keine "ideal", "authentische" oder "einzig korrekte" Interpretationen gibt und gab, "heute" genausowenig wie "damals".

Als ob wir das nicht schon überlängst wüssten.

Sollen wir deshalb alles, was wir über historische Aufführungspraxis wissen, völlig ignorieren? Sollen wir erhaltener alte Instrumente am besten alle einstampfen und entsorgen? Oder macht es vielleicht nicht doch wesentlich mehr Sinn, diese Elemente unseres Kulturerbes zu pflegen und gleichsam archäologisch zu erkunden?
JohnD
Stammgast
#33 erstellt: 05. Dez 2006, 09:06
Ganz genau, Herr Loose!

Warum soll man die Erkenntnisse ignorieren? Sie führen auf jeden Fall näher an die Musik als jede herkömmliche Herangehensweise, die ich schon einmal als "Bearbeitung" bezeichnet habe. Gegen eine gute Bearbeitung habe ich allerdings nichts.
Man denke nur an Heifetz mit der an sich schon obskuren Chaconne von Vitali.

Der damaligen Praxis am nächsten kommen wahrscheinlich sogar die HIP-Muckenorchester, und selbst die proben wahrscheinlich noch zu viel.
Damals ging das ruckzuck: die Noten frisch vom Kopisten, mal schnell die Stimme durchspielen, und dann muss das Ding auch schon sitzen.
Und wenn man Pech hatte, ging die Party etwas länger und man musste mit seinem Ensemble noch über ein paar Standards wie "Passamezzo" oder "Ciacona" jammen.
So ein Konzert möchte ich heute mal gerne von den HIP-Ensembles hören.
Da trennt sich ganz schnell die Spreu vom Weizen.

Was glaubt Ihr, welche Ensembles könnten an einem Tag ein 3-Stunden-Programm vorbereiten und spielen, und danach noch 1 Stunde improvisieren?
M_on_the_loose
Hat sich gelöscht
#34 erstellt: 05. Dez 2006, 09:55

JohnD schrieb:
Was glaubt Ihr, welche Ensembles könnten an einem Tag ein 3-Stunden-Programm vorbereiten und spielen, und danach noch 1 Stunde improvisieren?
:D


Damals wharscheinlich solche Orchester wie Haydns in Esterhaza, das ja aus handverlesenen Musikern bestand, und die genügend Zeit und Ruhe hatten, ordentlich zu proben.

Wie viel die damals proben konnten oder nicht, spielt allerdings keine Rolle, denn, nochmal, es geht ja bei der historischen Aufführungspraxis nicht darum, tatsächliche Aufführungen originalgetreu zu wiederholen, also sozusagen wettzumachen, dass es damals noch keine Aufnahmen gab.

Es geht einfach nur darum, mehr über die Musik, ihre Aufführungsumstände und -praxis herauszufinden, um mehr, und damit hoffentlich auch bessere, stilistische Auswahl bei der eigenen, heutigen Interpretation zu haben.

Es ist schon ziemlich bizarr, dass manche Leute ihr ganzes Leben lang historische Musik hören oder spielen, und eigentlich gar keine Ahnung haben, wie die Musik im "Original" geklungen haben könnte. Ich würde sehr viel für eine Live-Aufnahme von Haydns Esterhaza-Orchester geben. Gibt's aber leider nicht (ich habe auf ebay gekiekt, nix gefunden). Also wenigstens ein bisschen mehr darüber herausfinden und rekonstruieren.

Selbst die alleroberflächlichsten Einsichten sind oft schon sehr enthüllend. Man muss nur mal die Violinschule von L.Mozart anblättern, da sollten einem die Augen aus dem Kopf fallen, was man da alles lesen kann. Z.B. sagt Mozart, dass nur schlechte Musiker alle Noten so wie geschrieben, gleich und ohne Variationen, spielen, und er gibt sogar knonkrete Notenbeispiele dafür, wie man spielen sollte. Und es gibt noch viel mehr Informationen in dem Buch. Wir haben also ein Buch von dem Vater des für viele Leute grössten Komponisten der Zeit, veröffentlicht in dem Jahr, indem der berühmtere Sohn, der von Leopold unterrichtet wurde, geboren wurde. Wir wissen also ziemlich genau, was Leopold seinem Sohn so beigebracht hat, ein einmaliger historischer Glücksfall. Und doch kennen viele Leute, darunter erstaunlich viele Berufsmusiker, das Buch überhaupt nicht. Sehr komisch...
Reiner_Klang
Stammgast
#35 erstellt: 05. Dez 2006, 12:45

M_on_the_loose schrieb:
Sollen wir erhaltener alte Instrumente am besten alle einstampfen und entsorgen? Oder macht es vielleicht nicht doch wesentlich mehr Sinn, diese Elemente unseres Kulturerbes zu pflegen und gleichsam archäologisch zu erkunden?


Die "archäologische" historisch-musikwissenschaftliche Erkundung ist einer von mehreren Aspekten. Für mich mindestens genauso wichtig ist die Bereicherung unserer heutigen Möglichkeiten durch diese Instrumente und Spielweisen. Für mich hat eine Vihuela, eine Theorbe, eine Gambe, ein Ruckers-Cembalo, eine Barocktrompete nicht nur den historischen Erkenntniswert mit dem Ergebnis: aha, so war es damals, nun sind wir aber schon viel weiter. Sondern für mich ist der Klang dieser Instrumente ein gleichwertiges Element neben den "modernen" Äquivalenten. So hat auch der (mehr oder weniger originalgetreue) Nachbau dieser Instrumente einen musikalischen und nicht nur dekorativen Sinn.


M_on_the_loose schrieb:
...es geht ja bei der historischen Aufführungspraxis nicht darum, tatsächliche Aufführungen originalgetreu zu wiederholen, also sozusagen wettzumachen, dass es damals noch keine Aufnahmen gab. Es geht einfach nur darum, mehr über die Musik, ihre Aufführungsumstände und -praxis herauszufinden, um mehr, und damit hoffentlich auch bessere, stilistische Auswahl bei der eigenen, heutigen Interpretation zu haben.


Volle Zustimmung!
op111
Moderator
#36 erstellt: 16. Jan 2007, 12:10
Hallo zusammen,
ich möchte diesen Tread um Statements eines um werktreue bemühten Dirigenten ergänzen.

... (Auch das moderne Dirigieren ist eine Folge der großen Säle. Das Sammeln und Binden des Klanges, das die eigentliche Tätigkeit des Dirigierens darstellt, hat erst der große Saal notwendig gemacht.) Der verkleinerte, der Klangkraft des Cembalos angepaßte Klang eines Händelschen Concerto-grosso-Orchestertutti, gespielt von der Berliner Philharmonie, ist nicht der Klang, der Händel vorgeschwebt hat, sondern durchaus eine Fälschung. Die 'kammermusikalischen' Wirkungen, von denen wir heute angesichts gewisser Musikepochen reden, das heißt, das künstlich und bewußt Dünne, Zierliche und Trockene restringierte Musizieren hat es niemals gegeben, außer in unseren Köpfen. Das Fortissimo eines Beethovenschen Streichquartetts im Zimmer, das Fortissimo eines Händelschen Konzerts im verhältnismäßig kleinen Barocksaal hat der Wirkung eines Fortissimos Brucknerscher oder Mahlerscher Provenienz in unserer heutigen Philharmonie nachgegeben...

Zum Aufführungs-Raum:

Es wird nicht bedacht, daß der große Raum (falls er nicht etwa hallt wie die Kirche) nicht nur den Klang entsprechend verkleinert, sondern ihn auch qualitativ verändert. ... Die Gegensätze von Forte und Plano, die bekanntlich bei den Alten bis hinauf zu den Wiener Klassikern eine große Rolle spielen (sind sie doch oftmals das einzige, was Bach und Händel an Vortragszeichen vorschreiben), wirken sich im großen Saal ungleich pointierter aus als im kleinen. Sie erhalten dort infolge der größeren Sammlung und Lokalisierung des Klanges leicht einen übertriebenen, harten, kalten, gleichsam mechanistischen Charakter, den sie in Wirklichkeit niemals hatten und den als notwendig zur alten Musik gehörig uns lediglich heutige musikalische Pharisäer einreden wollen ...


Die Vortragszeichen selbst, die Piano, Forte, Mezzoforte usw. haben früher, im kleinen Saal, etwas anderes bedeutet als heute. Ein Klangbild kann schlechterdings nicht aus einem kleinen Raum mechanisch in einen großen übertragen werden, ohne völlig falsch zu werden —. so wenig wie man Michelangelos Moses als Nippsache auf den Schreibtisch stellen kann. ohne daß er lächerlich wird, wenn auch die Kopie noch so „getreu“ sein mag.


Aber mehr noch — auch ausgesprochene Sammelwerke, wie die "Kunst der Fuge“, ... oder gar das „Wohltemperierte Klavier" führt man als Ganzes auf und tut sich noch darauf etwas zugute. Allerdings scheint man solche moralisch-asketischen Hör-Höchstleistungen nur deutschen Hörern zuzumuten, andere hätten dazu wohl nicht genug lammsgeduldigen Bildungseifer. Wäre es indessen nicht besser, wenn man etwas mehr dafür sorgte, daß der Inhalt der Musikstücke selbst klarer zum Ausdruck käme? In diesem Punkte ist man aber von einer vielfach geradezu rührenden Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit die sehr merklich kontrastiert zu der Rigorosität, mit der man die Strichlosigkeit, das Cembalo, die Originalbesetzung und was sonst für Beweise „historischer Treue“ verlangt.


Gruß
JohnD
Stammgast
#37 erstellt: 17. Jan 2007, 03:29
Meine Rede.... genau das ist es. Mich nerven übrigens diese in Kirchen aufgenommenen Streichquartette gehörig. Sowas gehört ins Wohnzimmer. Das muss man ganz nah dran aufnehmen, damit das Pianissimo klar und deutlich im Raum steht. Bei Fortissimo fliegen einem dann die Ohren weg, aber das muss so. Beethoven, A-Moll-Quartett, Finale zum Beispiel...
Ohne den geeigneten Saal nützt auch die ganze tolle Aufnahmetechnik nix.

P.S.: Hat jemand Aufnahmen, die in kleinen Räumen gemacht wurden, ganz nah abgenommen?
Mir persönlich gefällt zum Beispiel Gardiners "Saul", das ist live aufgenommen und hat eine sehr trockene Akustik, die aber ziemlich dynamisch rüberkommt. Ok, das ist jetzt kein Streichquartett...
Sehr gut ist auch die Winter&Winter-CD "Anno 1630".


[Beitrag von JohnD am 17. Jan 2007, 03:33 bearbeitet]
op111
Moderator
#38 erstellt: 17. Jan 2007, 09:53
Hallo zusammen,

JohnD schrieb:
Meine Rede.... genau das ist es. Mich nerven übrigens diese in Kirchen aufgenommenen Streichquartette gehörig. Sowas gehört ins Wohnzimmer.

zum Glück nennen viele Aufnahmen den Aufnahmeort, z.B. gibt es viele Kammermusikaufnahmen aus einer Kirche in Sion, die recht hallig klingen, wobei der Hallanteil recht hell gefärbt ist.
Einige D+G-Aufnahmen kombinieren übertriebenen Hall mit mulmig dumpfem Klang. Da fällt es manchmal schwer zu erkennen, ob historische oder moderne Instrumente gespielt werden. Solche Aufnahmen lasse ich nach dem Probehören meist gleich beim Händler, wenn es von dem Werk eine Alternativaufnahme gibt.

Gruß


[Beitrag von op111 am 17. Jan 2007, 09:55 bearbeitet]
Tommy_Angel
Inventar
#39 erstellt: 17. Jan 2007, 11:12
Zur Info:

Zur Zeit läuft in SWR II von 9.05 bis 10.00 jeden Tag eine Folge zur histrorischen Aufführungspraxis, also noch zweimal diese Woche!
op111
Moderator
#40 erstellt: 27. Jan 2007, 09:44
Hallo zusammen,
der von mir zitierte Text stammt übrigens weder von Harnoncourt, Norrington oder einem anderen HIP-Dirigenten sondern von Wilhelm Furtwängler.
Gruß
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