Fortschritt rückwärts gedacht

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Martin2
Inventar
#1 erstellt: 19. Feb 2005, 20:24
Neulich hatte ich eine kleine Phantasie. Ich stellte mir vor, wie es sich wohl die Musikhistoriker zurechtgelegt hätten, wenn die Musikgeschichte rückwärts statt vorwärts gelaufen wäre. Bitte erzähle mir keiner, daß das Unsinn sei, das weiß ich selbst, aber ich fand es ganz lustig, darüber nachzudenken.

Also meinetwegen nach einer Epoche wilder Experimente im 18. Jahrhundert hätte Schönberg als Überwinder der Atonalität gegolten, Mahler wäre Ende des 18. Jahrhunderts der Begründer der Sinfonie gewesen und so hätte sich die ganze Musikgeschichte rückwärts abgespult bis dann im 20. Jahrhundert Haydn als der Vollender der Sinfonie aufgetreten wäre. Es wäre ganz lustig sich vorzustellen, wie die Musikhistoriker sich das zurechtgelegt hätten, und wie dann eine solche Musikgeschichte "umgedrehten Fortschritts" aussehen könnte. Wagner würde in einer solchen Musikgeschichte möglicherweise als Reaktionär wegkommen, Mozarts Auftreten zu Anfang des 20. Jahrhunderts als "bestürzend neu".

Eine abwegige Idee? Sicher, und bitte dieses Gedankenspiel nicht allzu ernst nehmen! Anderseits: Hat nicht die Rennaissance ( von der ich zugegebenermaßen immer noch viel zu wenig weiß, vor allem noch viel zu wenig gehört habe) in der Musika nova mit ziemlich wilden Experimenten begonnen, wohingegen das Ende der Renaissance dann ziemlich geglättet klingt? Hat nicht auch dem Komponisten der Spätrenaissance die "atonale Frühzeit" ziemlich altmodisch geklungen?

Woran sich dann die etwas ernsthaftere Frage knüpft, was eigentlich die Maßstäbe musikalischen Fortschritts sind. Immerhin könnte ja auch die Entwicklung vom Komplizierten zum Einfachen, oder die vom Atonalen zum Tonalen als Fortschritt gewertet werden, es hat mit Sicherheit immer auch musikalische Epochen gegeben, die Fortschritt eben ganz anders definiert haben.
Tom_Sawyer
Stammgast
#2 erstellt: 19. Feb 2005, 20:28
Martin2 schrieb:

Wagner würde in einer solchen Musikgeschichte möglicherweise als Reaktionär wegkommen


Nur in so eine Musikgeschichte?
drbobo
Inventar
#3 erstellt: 19. Feb 2005, 22:56
Hallo,

Entwicklungen in der Kunst, und zu der gehört die Musik, sind sicher nicht vergleichbar mit Wissenschaft und Technik, wo es um ein "vorwärts"geht.
Allein die handwerkliche Seite wird heute in bildender Kunst und Musik viel zu sehr vernachlässigt.

Internet, die Medien und die Möglichkeit des globalen Austauschs beschleunigen in Wissenschaft und Forschung die Fortschritte, im künstlerischen Bereich können sie meiner Meinung nach auch hemmend sein.

Das obige Gedankenspiel könnte man also auch ohne Probleme auf die Malerei übertragen.

Nicht bedacht hast du allerdings dabei, dass sich heutige Künstler sehr wohl mit der bisher geschaffenen Musik auseinandergesetzt haben, und diese auch häufig mit verarbeitet haben. Dieses erschliesst sich aber dem Hörer häufig erst durch intensives Studium.
Martin2
Inventar
#4 erstellt: 19. Feb 2005, 23:41
Lieber DrBobo,

ich hatte das durchaus bedacht, daß sich Künstler mit der Vergangenheit auseinandersetzen, und meinte das mit dem "nicht ganz ernst gemeint" abgegolten zu haben. Manchmal imitiert die Gegenwart ja sogar die Vergangenheit und kann dies nur tun, wenn diese Vergangenheit erst einmal da ist. Das Gedankenexperiment ist also wirklich nur als Experiment zu verstehen, nicht als reale Möglichkeit "wie es auch hätte sein können".

Empfindungen von "altmodisch" oder "aufregend neu" sind aber meiner Meinung nach wirklich durch Mode und dergleichen sehr schnell herstellbar. Und ich habe bei manchem sehr alten den Eindruck, daß es auf mich einen enorm frischen Eindruck macht, bei manchem viel jüngeren, daß es unheimlich alt klingt. Also Purcel kann unheimlich frisch klingen, Reger unheimlich alt.

Und dannn - ein weiterer Gedanke - verschwimmen epochale Abgrenzungen, je weiter man sich von ihnen entfernt. Für einen Menschen in 10.000 Jahren ( wenn wir uns nicht bis dahin alle ausgerottet haben) sind Mahler und Bach fast ebenso alt, fast Zeitgenossen. Der eine ist dann meinetwegen 10.000 Jahre alt, der andere 10.200 Jahre alt. Den Unterschied wird er zwar vermutlich trotzdem hören, aber glaubst Du ernsthaft, daß der Mann oder die Frau in 10.000 Jahren den Mahler als etwas so viel jüngeres als den Bach empfinden wird?

Uns geht es doch schon fast genauso mit der Renaissancemusik, wo teilweise Jahrhunderte dazwischen liegen, wir sie aber einfach grob unter einem Begriff subsummieren.

Gruß Martin
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